Das Landesarbeitsgericht Köln hat mit Urteil vom 20. Juni 2023 zum Aktenzeichen 4 Sa 20/23 entschieden, dass der Vorrang der Änderungskündigung grundsätzlich auch dann gilt, wenn der Mitarbeiter das Änderungsangebot vor Zugang der Kündigung abgelehnt hat.
Nach § 1 Absatz 2 Satz 1 KSchG ist eine Kündigung unter anderem dann sozial gerechtfertigt, wenn sie durch dringende betriebliche Erfordernisse, die einer Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers in diesem Betrieb entgegenstehen, bedingt ist. Dringende betriebliche Erfordernisse für eine Kündigung im Sinne von § 1 Abs. 2 KSchG können sich aus innerbetrieblichen Umständen (Unternehmerentscheidungen wie z.B. Rationalisierungsmaßnahmen, Umstellung oder Einschränkung der Produktion) oder außerbetrieblichen Gründen (z.B. Auftragsmangel oder Umsatzrückgang) ergeben. Eine Kündigung aus innerbetrieblichen Gründen ist gerechtfertigt, wenn sich der Arbeitgeber zu einer organisatorischen Maßnahme entschließt, bei der im Rahmen der innerbetrieblichen Umsetzung das Bedürfnis für die Weiterbeschäftigung eines oder mehrerer Arbeitnehmer entfällt. Dabei muss der Arbeitgeber darlegen, welche organisatorischen und technischen Maßnahmen er angeordnet hat und wie sich die von ihm behaupteten Umstände unmittelbar oder mittelbar auf die Beschäftigungsmöglichkeit des gekündigten Arbeitnehmers auswirken. Der Vortrag muss erkennen lassen, dass durch eine innerbetriebliche Maßnahme das Bedürfnis für die Weiterbeschäftigung des gekündigten Arbeitnehmers entfällt.
Die Beendigungskündigung muss darüber hinaus aber auch dringend sein. Das Erfordernis der Dringlichkeit ist Ausdruck des Verhältnismäßigkeitsprinzips. Eine Beendigungskündigung ist demnach nur gerechtfertigt, wenn keine andere Möglichkeit besteht (ultima ratio), wobei auch der Vorrang der Änderungskündigung zu beachten ist. Eine ordentliche Beendigungskündigung ist nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit daher ausgeschlossen, wenn die Möglichkeit besteht, den Arbeitnehmer auf einem anderen freien Arbeitsplatz, auch zu geänderten Arbeitsbedingungen, weiter zu beschäftigen. Eine solche Weiterbeschäftigungsmöglichkeit hat der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer anzubieten. Das Angebot kann lediglich in Extremfällen (z.B. offensichtlich völlig unterwertiger Beschäftigung) unterbleiben.
Ein dringendes betriebliches Erfordernis lag hiernach nicht vor. Mit dem Ausspruch einer ordentlichen Beendigungskündigung verstieß die Beklagte unter Zugrundelegung oben genannter Maßstäbe gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip. Es hätte eine ordentliche Änderungskündigung ausgesprochen werden müssen.
Es war zunächst davon auszugehen, dass ein freier Arbeitsplatz im Unternehmen der Beklagten in R zum Zeitpunkt des Zugangs der streitgegenständlichen Kündigung vorhanden war. Zwar hatte die Beklagte erstinstanzlich noch vorgetragen und behauptet, dass sie eine Pflegekraft in R hätte kündigen müssen, um dort für die Klägerin einen freien Arbeitsplatz zu schaffen. Hierzu wäre sie selbstredend nicht verpflichtet gewesen. Diesen Sachvortrag korrigierte sie aber offenbar im Nachhinein, indem sie selber ausführte, dass Mitarbeiterinnen – angeblich auch der Klägerin – Arbeitsplätze in R angeboten worden seien. Im Kammertermin im Rahmen des Berufungsverfahrens bestätigten beide Geschäftsführer, dass die Klägerin jederzeit und sofort in R arbeiten könne. Die Argumentation der Beklagten, der Klägerin aus Rücksichtnahme auf ihre Lebensumstände keinen Arbeitsplatz in R angeboten zu haben, setzt zwingend voraus, dass ein derartiger Arbeitsplatz existiert. Dies war zuletzt auch nicht mehr im Streit.
Irrelevant war in diesem Zusammenhang, ob die Klägerin – zu welchem Zeitpunkt auch immer – ein angebliches Angebot, in R zu arbeiten, abgelehnt hatte:
Macht der Arbeitgeber vor Ausspruch einer Kündigung dem Arbeitnehmer das Angebot, den Vertrag der noch bestehenden Weiterbeschäftigungsmöglichkeit anzupassen, und lehnt der Arbeitnehmer dieses Angebot ab, so ist der Arbeitgeber regelmäßig nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verpflichtet, trotzdem eine Änderungskündigung auszusprechen. Es unterliegt Bedenken, in derartigen Fällen fiktiv zu prüfen, ob der Arbeitnehmer die geänderten Arbeitsbedingungen bei einem entsprechenden Angebot vor oder mit Ausspruch der Kündigung zumindest unter Vorbehalt angenommen hätte.
Selbst wenn der Klägerin „im Rahmen von Diskussionen“ eine Stelle in R angeboten worden wäre und sie diese abgelehnt hätte, wäre die Beklagte hiernach also dennoch verpflichtet gewesen, nur eine ordentliche Änderungskündigung auszusprechen.
Der Ausspruch einer Änderungskündigung kann nur dann unterbleiben, wenn der Arbeitgeber bei vernünftiger Betrachtung nicht mit einer Annahme des neuen Vertragsangebots durch den Arbeitnehmer rechnen konnte und ein derartiges Angebot im Gegenteil eher beleidigenden Charakter gehabt hätte. Jedenfalls kann es sich insoweit nur um Extremfälle (z.B. Angebot einer Pförtnerstelle an den bisherigen Personalchef) handeln. Grundsätzlich hat der Arbeitnehmer selbst zu entscheiden, ob er eine Weiterbeschäftigung unter möglicherweise erheblich verschlechterten Arbeitsbedingungen für zumutbar hält oder nicht.
Ein Extremfall im oben genannten Sinne lag nicht vor. Die Beklagte konnte der Klägerin exakt die gleiche Stelle in R anbieten. Inhaltlich unterschied sich der Aufgabenbereich dieser Position in keiner Weise von den bisherigen Aufgaben. Der einzige Unterschied bestand darin, dass sich die Reisezeit der Klägerin erheblich erhöhen wird. Bei vernünftiger Betrachtung mag es in der Tat auf der Hand liegen, dass sich die Klägerin möglicherweise eine wohnortnahe Arbeitsstelle suchen wird, was angesichts der Arbeitsmarktsituation keine Schwierigkeit darstellen dürfte. Es ist jedoch allein Aufgabe der Klägerin, hierüber zu entscheiden. Weder die Beklagte noch das Gericht sind befugt, diese Überlegungen zu übernehmen.
Andere Gründe, weshalb die ordentliche Beendigungskündigung dennoch ausnahmsweise verhältnismäßig sein könnte, waren nicht ersichtlich. Insbesondere erschloss sich nicht, weshalb die Kündigung weiterer Mitarbeiter gedroht hätte, wenn man die Klägerin nach R versetzt hätte. Weshalb das Wohlbefinden der pflegebedürftigen Bewohner auf dem Spiel gestanden haben könnte, wenn ein freier Arbeitsplatz besetzt worden wäre, konnte nicht nachvollziehbar begründet werden. Gleiches gilt für den Hinweis der Beklagten auf öffentlich-rechtliche Verpflichtungen im Hinblick auf die Besetzung durch Pflegekräfte in Pflegeeinrichtungen. Gerade aufgrund dieser Verpflichtung hätte es nahegelegen, der Klägerin eine freie Stelle in R anzubieten.