Das Landesarbeitsgericht Köln hat mit Urteil vom 06.07.2023 zum Aktenzeichen 6 Sa 94/23 entschieden, dass eine fristlose Kündigung, die gegenüber einem Produktionsleiter ausgesprochen worden war, weil dieser den Abtransport von drei Europaletten veranlasst hatte, um diese bei einem Osterfeuer auf einem Sportplatz verbrennen zu lassen, unwirksam ist.
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer von der Beklagten ausgesprochenen fristlosen Kündigung, die hilfsweise auch als ordentliche Kündigung gelten soll. Ausgangspunkt des zur Kündigung führenden Sachverhalts ist die Tatsache, dass der Kläger den Abtransport von drei Holzpaletten veranlasst hatte, um diese später auf dem Sportplatz eines örtlichen Fußballvereins für das dort veranstaltete Osterfeuer als Brennholz verwenden zu lassen.
Am 10.03.2022 erging an alle Beschäftigten die Information, dass das Lager ausgemistet werde; es sei daher geplant am 18.03.2022 zahlreiche Plastikboxen und Kisten zur freien Mitnahme bereitzustellen. So geschah es. Im Vorfeld dieser Aktion fand am 02.02.2022 ein Gespräch statt, das unter anderem zu dem Ergebnis führte, dass ausschließlich Plastikboxen und Kisten frei weggegeben werden sollten. An diesem Gespräch nahm der Kläger teil sowie der Geschäftsführer und der Leiter des Einkaufs. Im Bereich Compliance gilt bei der Beklagten die Amphenol Corperation Verhaltens- und Ethikrichtlinie, in der es auszugsweise heißt:
- Schutz und ordnungsgemäße Nutzung des Unternehmensvermögens Mitarbeiter, Führungskräfte und Vorstandsmitglieder sollten das Unternehmensvermögen schützen und dessen effiziente Nutzung sicherstellen. Diebstahl, Nachlässigkeit und Verschwendung haben einen direkten Einfluss auf die Rentabilität des Unternehmens. Das Unternehmensvermögen darf nur für legitime Geschäftszwecke verwendet werden. Die Verwendung von Geldern oder Vermögenswerten des Unternehmens für rechtswidrige, unangemessene oder unethische Zwecke ist strengstens untersagt. [… Das Unternehmensvermögen darf nur für legitime Geschäftszwecke verwendet werden. Die Verwendung von Geldern oder Vermögenswerten des Unternehmens für rechtswidrige, unangemessene oder unethische Zwecke ist strengstens untersagt.
- Meldung von illegalem oder unethischem Verhalten.
Die Mitarbeiter werden ermutigt, mit Abteilungsleitern, Vorgesetzten oder anderen geeigneten Mitarbeitern des Unternehmens, einschließlich der Rechtsabteilung von A l, über beobachtetes oder vermutetes illegales oder unethisches Verhalten und im Zweifelsfall über die beste Vorgehensweise in einer bestimmten Situation zu sprechen.
Mitarbeiter, Führungskräfte und Vorstandsmitglieder, die besorgt sind, dass Verstöße gegen diesen Kodex oder andere illegalen oder unethischen Verhaltensweisen von Mitarbeitern, Führungskräften oder Vorstandsmitgliedern des Unternehmens stattgefunden haben oder stattfinden könnten, sollten sich entweder an ihre Abteilungsleiter oder ihren Vorgesetzten wenden. Wenn ein Mitarbeiter es nicht für angemessen hält oder sich nicht wohl dabei fühlt, seinen oder ihren Abteilungsleiter oder Vorgesetzten über seine oder ihre Bedenken oder Beschwerden zu informieren, kann er oder sie sich an die Rechtsabteilung von A oder den Prüfausschuss des Vorstands wenden oder die Hotline-Telefonnummer anrufen, die an den schwarzen Brettern der Mitarbeiter im gesamten Unternehmen ausgehängt ist.
[…]
- Nichteinhaltung der Kodex-Bestimmungen
Die Nichteinhaltung der Bestimmungen dieses Kodex durch einen Mitarbeiter, eine Führungskraft oder ein Vorstandsmitglied kann von Disziplinarmaßnahmen bis hin zur Entlassung führen, zusätzlich zu jeder zivil- oder strafrechtlichen Haftung, die sich aus den Handlungen des Täters ergeben könnte. Die Personalabteilung von Amphenol wird über alle im Zusammenhang mit einer solchen Maßnahme durchgeführten Untersuchungen informiert und nimmt daran teil.
Am besagten 18.03.2022 wies der Kläger den Mitarbeiter K N an, drei Holzpaletten in das Privatfahrzeug seiner Ehefrau zu laden. Als die Ehefrau des Klägers mit ihrem Auto auf dem Hof des Betriebes eintraf, tat der Zeuge N , wie ihm geheißen. Während er die Paletten in den Kofferraum des Autos verlud, kam der stellvertretende Produktionsleiter, der Zeuge Ad , dazu und fragte den Zeugen N , ob er ihm helfen könne. Der Zeuge N verneinte dies und lud die drei Paletten in das Auto der Ehefrau des Klägers. Der Zeuge W beobachtete den Vorgang am Fenster seines Zimmers. Die Ehefrau des Klägers brachte die drei Paletten anschließend zum Sportplatz, wo sie später beim Osterfeuer verbrannten.
Ob es sich bei den drei Holpaletten um drei neue Europaletten handelte (so die Behauptung der Beklagten) oder um zwei Einwegpaletten sowie eine beschädigte alte Europalette (so die Einlassung des Klägers), ist zwischen den Parteien streitig.
Am 24.03.2022 wurde der Kläger im Rahmen eines Personalgesprächs zum Vorwurf des Diebstahls angehört. Im Rahmen dieses Gesprächs äußerte der Kläger, es habe sich bei den drei Paletten um wertlosen Schrott gehandelt, der zum Verbrennen bestimmt gewesen sei. Daraufhin hörte die Beklagte am 25.03.2022 den Betriebsrat zu einer beabsichtigten fristlosen Kündigung an, die hilfsweise als ordentliche auszusprechen sei. Der Betriebsrat teilte am 28.03.2022 hinsichtlich der fristlosen Kündigung Bedenken mit und widersprach der ordentlichen Kündigung mit der Begründung, es sei im Betrieb seit jeher üblich, dass Einweg-Paletten und beschädigte Paletten als Brennholz mit nach Hause genommen werden dürften. Dies sei auch vom ehemaligen Geschäftsführer so gehandhabt und bestätigt worden. Um nichts Anderes habe es sich hier gehandelt.
Mit Schreiben vom 29.03.2022 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis fristlos und hilfsweise fristgerecht zum 31.07.2022.
Einen im Gewahrsam der Arbeitgeberin stehenden Gegenstand ohne ausdrückliches Einverständnis derselben vom Betriebsgelände schaffen und im Osterfeuer auf dem Sportplatz vernichten zu lassen, stellt eine Verletzung der Interessen der Arbeitgeberin dar, die sich als Pflichtverletzung und daher als ein wichtiger Grund „an sich“ im Sinne der oben zitierten ständigen Rechtsprechung des 2. Senats des Bundesarbeitsgerichts darstellen kann. Für die Qualifikation eines Pflichtverstoßes als ein wichtiger Grund „an sich“ ist es noch ohne Belang, welchen Wert die entfernten Sachen haben, ob sie im Eigentum der Arbeitgeberin standen und wie das Geschehen aus strafrechtlichem Blickwinkel zu bewerten ist. Diese Faktoren sind im Rahmen der Interessenabwägung zu würdigen.
Diese Interessenabwägung fällt zu Ungunsten der Beklagten aus. Der hier kündigenden Beklagten war zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigungserklärung (später hinzutretende Tatsachen mögen bei der Prüfung des Auflösungsantrages geprüft werden) die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Falls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile – gegebenenfalls nach Ausspruch einer Abmahnung – zumutbar. Sie rechtfertigen folglich nicht die ultima ratio des Arbeitsrechts, also die sofortige Beendigung des Arbeitsverhältnisses.
Bei der Prüfung, ob der Arbeitgeberin eine Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers oder der Arbeitnehmerin trotz Vorliegens einer erheblichen Pflichtverletzung jedenfalls bis zum Ablauf der Kündigungsfrist zumutbar ist, ist in einer Gesamtwürdigung das Interesse der Arbeitgeberin an der sofortigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses gegen das Interesse des Arbeitnehmers oder der Arbeitnehmerin an dessen Fortbestand abzuwägen. Es hat eine Bewertung des Einzelfalls unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu erfolgen, anhand derer zu beurteilen ist, ob der Arbeitgeberin die Weiterbeschäftigung zumutbar ist oder nicht, lassen sich nicht abschließend festlegen. Zu berücksichtigen sind aber regelmäßig das Gewicht und die Auswirkungen der Vertragspflichtverletzung, der Grad des Verschuldens des Arbeitnehmers oder der Arbeitnehmerin, eine mögliche Wiederholungsgefahr sowie die Dauer des Arbeitsverhältnisses und dessen störungsfreier Verlauf.
Im Rahmen einer solchen Interessenabwägung war hier zu berücksichtigen, dass der Kläger als Produktionsleiter eine Vorbildfunktion auszuüben hat. Als Vorbild hat man nichts mitzunehmen – auch keine Paletten. Es war weiter zu berücksichtigen, dass im Rahmen des Gesprächs vom 02.02.2022 in Anwesenheit des Klägers deutlich gemacht wurde, dass die für den 18.03.2022 geplante Aktion, im Rahmen derer Plastikboxen und Kisten an die Beschäftigten verschenkt werden sollten, Paletten gerade nicht erwähnt worden sind. Dem gegenüber musste aber auch in die Interessenabwägung einfließen, dass der Kläger seit über zehn Jahren im Betrieb beschäftigt ist. Auch auf ausdrückliche Nachfrage im Verhandlungstermin vor der Berufungskammer hat die Beklagte nichts zu sonstigen Hintergründen der Kündigung geäußert; es ist daher davon auszugehen, dass der Kläger bisher jahrelang beanstandungslos seine Arbeitsleistung als Produktionsleiter erbracht hat und hier die erste Pflichtverletzung einer solchen Art zu Tage getreten ist. Der Kläger ist Familienvater; er ist verheiratet und er hat drei Kinder. Neuwertige Europaletten haben einen Buchwert – je nach aktuellem Holzpreis – in einer Höhe zwischen 10 EUR und 15 EUR. Insgesamt geht es hier also um einen Schaden von unter 50 EUR. Es geht nicht um die Mitnahme von Produkten der Beklagten, von Geld, von Wertgegenständen oder von werthaltigen Produktionsmitteln; es geht hier um die Mitnahme von Transporthilfsmitteln, die üblicherweise in einem Pfandsystem zirkulieren, bis sie so beschädigt sind, dass sie entsorgt werden müssen. Entgegen der Auffassung der Beklagten war das Verhalten des Klägers alles andere als heimlich: Er hat die Paletten nicht „in Nacht und Nebel beseitigt“, sondern am helllichten Tag seine Frau mit dem Auto kommen lassen und den Zeugen N angewiesen, ihr zu helfen; dann ist der Zeuge Ad vorbeigekommen und bot seinerseits Unterstützung an; der Zeuge W hat die Szene aus dem Fenster beobachtet ohne nachzufragen, was hier passiert. Der Kläger hat sich mit den Paletten nicht in dem Sinne bereichert, dass er sie mit Gewinnerzielungsabsicht hat weiterverkaufen wollen. Das bedeutet nicht, dass er selbstlos gehandelt hätte; er hat sich mit den Paletten im Sportverein (möglicher- und klassischerweise „großtuerisch“) als einer der Vereinsunterstützer darstellen können, die wegen ihres Einsatzes und ihrer „Freigiebigkeit“ geschätzt und geachtet werden.
Insgesamt reduziert sich aber der Sachverhalt auf das Kernphänomen, dass hier eine Arbeitgeberin einen verdienten langjährigen Beschäftigten ohne vorherige Abmahnung fristlos aus dem Arbeitsverhältnis entfernt wissen will, weil er Verpackung bei einem Osterfeuer verbrannt hat.
Der durch diese Pflichtverletzung möglicherweise eingetretene Vertrauensverlust rechtfertigt nicht die für eine fristlose Kündigung notwendige negative Zukunftsprognose, also die Prognose, dass die Wiederherstellung des verletzten Vertrauens als unmöglich erscheint. Eine außerordentliche Kündigung kommt nur in Betracht, wenn es keinen angemessenen Weg gibt, das Arbeitsverhältnis fortzusetzen, weil der Arbeitgeberin sämtliche milderen Reaktionsmöglichkeiten unzumutbar sind. Als mildere Mittel gegenüber der außerordentlichen Kündigung sind neben der ordentlichen Kündigung auch Abmahnung und Versetzung anzusehen. Sie sind dann alternative Gestaltungsmittel, wenn schon sie geeignet sind, den mit der außerordentlichen Kündigung verfolgten Zweck – die Vermeidung künftiger Störungen – zu erreichen. Einer nach § 314 Abs. 2 BGB für jede fristlose Kündigung vorgeschriebenen Abmahnung bedarf es demnach nur dann nicht, wenn bereits ex ante erkennbar ist, dass eine Verhaltensänderung in Zukunft auch nach Abmahnung nicht zu erwarten steht, oder es sich um eine so schwere Pflichtverletzung handelt, dass selbst deren erstmalige Hinnahme dem Arbeitgeber nach objektiven Maßstäben unzumutbar und damit offensichtlich – auch für den Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin erkennbar – ausgeschlossen ist.
Daran gemessen ist die hier streitgegenständliche außerordentliche Kündigung unverhältnismäßig. Der Pflichtverletzung des Klägers – das Wegschaffen dreier neuwertiger Paletten – hätte mit einer Abmahnung erfolgversprechend begegnet werden können. Es ist nicht ersichtlich, dass der Kläger sich eine Abmahnung nicht hätte zur Warnung gereichen lassen und dass sie nicht ausgereicht hätte, ihn anzuhalten, künftig das Recht seiner Arbeitgeberin an Sachen ihres Gewahrsams besonders sorgfältig zu achten. Eine Abmahnung war auch nicht im Hinblick auf eine etwaige Schwere des Vorwurfs entbehrlich. Dafür ist der Wert der Paletten zu gering, dafür zeigt sich bei der Tat zu wenig kriminelle Energie, dafür ist die Tatbegehung zu wenig heimlich und dafür ist das Gesamtbild der Tat – Verbrennen von Verpackung beim Osterfeuer – zu banal.
Eine einschlägige Abmahnung liegt nicht vor. Die außerordentliche Kündigung erweist sich daher jedenfalls wegen des Fehlens einer Abmahnung als unverhältnismäßig.
Auch durch die hilfsweise ausgesprochene ordentliche Kündigung ist das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht beendet worden. Die streitgegenständliche Kündigung ist an den Vorgaben des Kündigungsschutzgesetzes zu messen, da die Voraussetzungen für dessen Anwendbarkeit erfüllt sind. Die Kündigung ist gemäß § 1 Abs. 1 KSchG unwirksam, weil sie nicht gemäß § 1 Abs. 2 KSchG durch Tatsachen bedingt ist, die im Verhalten des Klägers liegen. Auch vor Ausspruch einer ordentlichen Kündigung ist die Verhältnismäßigkeit zu prüfen und damit die Tatsache, ob nicht weniger einschneidende Tatsachen geeignet sind, die durch die Vertragspflichtverletzung eingetretene Störung des Vertrauensverhältnisses zu überwinden. Hier gilt das oben zur fristlosen Kündigung Ausgeführte entsprechend: Vor Ausspruch einer Beendigungserklärung war als milderes Mittel eine Abmahnung auszusprechen.
Nach alldem erweist sich die Kündigungserklärung vom 29.03.2022 als unwirksam. Sie hat das Arbeitsverhältnis weder fristlos noch nach Anlauf der ordentlichen Kündigungsfrist beendet.