Der Europäische Gerichtshof hat am 20.05.2021 zum Aktenzeichen C-8/20 entschieden, dass ein Antrag auf internationalen Schutz nicht mit der Begründung als unzulässig abgelehnt werden kann, dass ein früherer Asylantrag desselben Betroffenen von Norwegen abgelehnt wurde. Auch wenn dieser Drittstaat teilweise am Gemeinsamen Europäischen Asylsystem teilnimmt, kann er nämlich nicht einem Mitgliedstaat gleichgestellt werden.
Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 87/2021 vom 20.05.2021 ergibt sich:
Im Jahr 2008 stellte L.R., ein iranischer Staatsangehöriger, in Norwegen einen Asylantrag. Sein Antrag wurde abgelehnt, und er wurde den iranischen Behörden übergeben. Im Jahr 2014 stellte L.R. einen weiteren Antrag in Deutschland. Da die Dublin-III-Verordnung1 anhand deren der für einen Antrag auf internationalen Schutz zuständige Mitgliedstaat bestimmt werden kann, auch von Norwegen umgesetzt wird2, wandten sich die deutschen Behörden an die Behörden jenes Landes und ersuchten sie um Aufnahme von L.R. Letztere Behörden lehnten dies jedoch ab, da sie der Auffassung waren, Norwegen sei nach der Dublin-III-Verordnung3 für die Prüfung seines Antrags nicht mehr zuständig. In der Folge lehnten die deutschen Behörden den Asylantrag von L.R. als unzulässig ab, da es sich ihrer Ansicht nach um einen „Zweitantrag“ handelte und die in einem solchen Fall geltenden Voraussetzungen für die Eröffnung eines weiteren Asylverfahrens nicht vorlagen. Daraufhin erhob L.R. beim Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgericht (Deutschland) eine Klage gegen diese Entscheidung.
In diesem Zusammenhang beschloss jenes Gericht, den Gerichtshof um Klarstellungen zum Begriff „Folgeantrag“ zu ersuchen, der in der Richtlinie 2013/324 definiert ist. Einen Folgeantrag können die Mitgliedstaaten nämlich als unzulässig ablehnen, wenn darin keine neuen Umstände oder Erkenntnisse vorgebracht worden sind5. Das Schleswig-Holsteinische Verwaltungsgericht führte aus, zwar gehe aus der Verfahrensrichtlinie hervor, dass ein Antrag auf internationalen Schutz nicht als „Folgeantrag“ eingestuft werden könne, wenn das erfolglose Erstverfahren nicht in einem anderen Mitgliedstaat der Union, sondern in einem Drittstaat durchgeführt worden sei. Allerdings sollte diese Richtlinie angesichts dessen, dass Norwegen gemäß dem Übereinkommen zwischen der Union, Island und Norwegen am Gemeinsamen Europäischen Asylsystem beteiligt sei, erweiternd ausgelegt werden, so dass die Mitgliedstaaten in einer Konstellation wie der vorliegenden nicht verpflichtet seien, ein vollständiges Asylerstverfahren durchzuführen.
In seinem Urteil vom 20.05.2021 hat der Gerichtshof diese Auffassung nicht geteilt, sondern entschieden, dass das Unionsrecht6 einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, nach der ein Antrag auf internationalen Schutz aus dem Grund als unzulässig abgelehnt werden kann, dass der Betroffene zuvor in einem Drittstaat, der die Dublin-III-Verordnung gemäß dem Übereinkommen zwischen der Union, Island und Norwegen umsetzt, einen erfolglosen Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gestellt hat.
Würdigung durch den Gerichtshof
Der Gerichtshof hat darauf hingewiesen, dass ein „Folgeantrag“ in der Verfahrensrichtlinie als ein „weitere[r] Antrag auf internationalen Schutz, der nach Erlass einer bestandskräftigen Entscheidung über einen früheren Antrag gestellt wird“, definiert wird7. Indessen folgt eindeutig aus dieser Richtlinie8 zum einen, dass ein an einen Drittstaat gerichteter Antrag nicht als „Antrag auf internationalen Schutz“ verstanden werden kann, und zum anderen, dass eine von einem Drittstaat getroffene Entscheidung nicht unter die Definition der „bestandskräftigen Entscheidung“ fallen kann. Das Vorliegen einer früheren Entscheidung eines Drittstaats, mit der ein Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft abgelehnt wurde, erlaubt es folglich nicht, einen Antrag auf internationalen Schutz, den der Betroffene nach dem Erlass dieser früheren Entscheidung in einem Mitgliedstaat gestellt hat, als „Folgeantrag“ einzustufen.
Der Gerichtshof hat weiter ausgeführt, dass das Bestehen eines Übereinkommens zwischen der Union, Island und Norwegen hieran nichts ändert. Denn dieses Übereinkommen sieht zwar vor, dass Norwegen bestimmte Vorschriften der Dublin-III-Verordnung umsetzt, jedoch gilt dies nicht für die Vorschriften der Richtlinie 2011/959 oder der Verfahrensrichtlinie. Somit kann in einem Fall wie dem vorliegenden der Mitgliedstaat, in dem der Betroffene einen weiteren Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, Norwegen zwar gegebenenfalls um Wiederaufnahme des Betroffenen ersuchen. Ist eine solche Wiederaufnahme nicht möglich oder erfolgt sie nicht, darf der betreffende Mitgliedstaat jedoch nicht davon ausgehen, dass der weitere Antrag einen „Folgeantrag“ darstellt und daher gegebenenfalls für unzulässig erklärt werden kann. Im Übrigen könnte selbst die Annahme, dass das norwegische Asylsystem ein Schutzniveau für Asylbewerber vorsieht, das dem im Unionsrecht vorgesehenen Niveau gleichwertig ist, zu keinem anderen Ergebnis führen. Zum einen geht nämlich aus dem Wortlaut der Bestimmungen der Verfahrensrichtlinie eindeutig hervor, dass es nach gegenwärtigem Stand nicht zulässig ist, einen Drittstaat für die Zwecke der Anwendung des in Rede stehenden Unzulässigkeitsgrundes einem Mitgliedstaat gleichzustellen. Zum anderen kann eine solche Gleichstellung nicht von einer Bewertung des konkreten Schutzniveaus für Asylbewerber im betreffenden Drittstaat abhängen, da andernfalls die Rechtssicherheit beeinträchtigt wäre.
1 Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. 2013, L 180, S. 31; im Folgenden: Dublin-III-Verordnung).
2 Gemäß dem Übereinkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der Republik Island und dem Königreich Norwegen über die Kriterien und Regelungen zur Bestimmung des zuständigen Staates für die Prüfung eines in einem Mitgliedstaat oder in Island oder Norwegen gestellten Asylantrags – Erklärungen (ABl. 2001, L 93, S. 40; im Folgenden: Übereinkommen zwischen der Union, Island und Norwegen).
3 Vgl. Art. 19 Abs. 3 der Dublin-III-Verordnung.
4 Art. 2 Buchst. q der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. 2013, L 180, S. 60; im Folgenden: Verfahrensrichtlinie).
5 Vgl. Art. 33 Abs. 2 Buchst. d der Verfahrensrichtlinie.
6 Genauer Art. 33 Abs. 2 Buchst. d der Verfahrensrichtlinie in Verbindung mit deren Art. 2 Buchst. q.
7 Art. 2 Buchst. q der Verfahrensrichtlinie.
8 Art. 2 Buchst. b und e der Verfahrensrichtlinie.
9 Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9).