Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 08. März 2022 zum Aktenzeichen 2 BvE 1/22 entschieden, dass die Einführung einer 2G+-Regel für Abgeordnete im Deutschen Bundestag verfassungsgemäß ist.
Das mit dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung verbundene Organstreitverfahren betrifft die Frage, ob die Antragsgegner durch die Einführung einer 2G+-Regel in der Allgemeinverfügung zu Corona-Schutzmaßnahmen im Deutschen Bundestag und den Ausschluss nicht geimpfter und nicht genesener Abgeordneter von der Teilnahme an der Gedenkstunde anlässlich des Tags des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar 2022 im Plenarsaal des Deutschen Bundestages die Rechte der Antragsteller aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG und Art. 20 Abs. 2 Satz 2, Abs. 3 GG verletzt haben. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zielt darauf, die Allgemeinverfügung einstweilig außer Vollzug zu setzen.
Die Antragsteller stützen ihren Antrag auf Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung darauf, es drohe die Verletzung fundamentaler Verfassungsprinzipien. Bei der Allgemeinverfügung der Antragsgegnerin zu 1. gehe es um einen grundlegenden Konzeptwechsel von dem heute geltenden parlamentarischen System mit Minderheitenschutz durch die Gleichbehandlung aller Abgeordneten hin zu einem völlig neuen Zweiklassensystem im deutschen Parlamentarismus.
Dieser Vortrag ist nicht nachvollziehbar. Ihm steht bereits entgegen, dass sich die Allgemeinverfügung der Antragsgegnerin zu 1. an alle Abgeordneten gleichermaßen wendet und diesen mit dem Ziel des Infektionsschutzes und der Erhaltung der Funktionsfähigkeit des Deutschen Bundestages bestimmte Verhaltensregeln auferlegt. Eine irgendwie geartete Differenzierung nach parlamentarischer Mehrheit oder Minderheit findet nicht statt. Vielmehr werden alle Abgeordneten, abhängig von ihrem Impf- oder Genesenenstatus, denselben Regelungen unterworfen. Der Umstand, dass die Zahl der nicht geimpften Abgeordneten bei der Antragstellerin zu 1. besonders hoch ist, ändert nichts an der Tatsache, dass die Allgemeinverfügung nicht mehrheits- oder minderheitsbezogen ist, sondern für und gegen alle Abgeordneten dieselben Regelungen enthält. Dass damit ein Konzeptwechsel im geltenden parlamentarischen System durch eine Einschränkung des Minderheitenschutzes oder die Schaffung einer Zweiklassengesellschaft intendiert oder verbunden sein könnte, erschließt sich nicht.
Ungeachtet dessen spricht die auf wenige Wochen begrenzte Geltungsdauer der Allgemeinverfügung der Antragsgegnerin zu 1. gegen die Annahme eines Konzeptwechsels im bestehenden parlamentarischen System. Es handelt sich ersichtlich um eine bloß vorübergehende, der Pandemielage geschuldete Regelung.
Sonstige fundamentale Verfassungsprinzipien, die durch die Allgemeinverfügung beeinträchtigt werden könnten, haben die Antragsteller nicht benannt. Ein schwerer Nachteil in Form einer auch nur zeitweisen Verletzung grundlegender Verfassungsprinzipien ist daher nicht substantiiert dargetan.
Die Allgemeinverfügung führt nicht dazu, dass nicht geimpfte und nicht genesene Abgeordnete von der Teilnahme an Plenarsitzungen des Deutschen Bundestages ausgeschlossen werden. Vielmehr können sie bei diesen Sitzungen gesondert gekennzeichnete Plätze auf der Tribüne einnehmen. Ein schwerwiegender Nachteil in Form eines vollständigen oder weitgehenden Sitzungsausschlusses folgt daraus nicht.
Auch die von den Antragstellern geltend gemachten äußeren Umstände einer Mitwirkung der betroffenen Abgeordneten an den Plenarsitzungen des Deutschen Bundestages stellen keine derart gewichtigen Nachteile dar, dass vor diesem Hintergrund eine vorläufige Aufhebung der Allgemeinverfügung der Antragsgegnerin zu 1. dringend geboten wäre.
Die betroffenen Abgeordneten können über Saalmikrofone mit eigenen Redebeiträgen an Plenardebatten teilnehmen, ihr Stimm- und Antragsrecht ausüben und, wie in der Sitzung vom 26. Januar 2022 ersichtlich, wahrnehmbare Zwischenrufe tätigen.
Die von den Antragstellern demgegenüber behaupteten tatsächlichen Erschwernisse der Sitzungsteilnahme vermögen die Annahme einer schwerwiegenden Beeinträchtigung ihrer Mitwirkungsbefugnisse an Plenarsitzungen nicht zu begründen. Hinsichtlich der Behauptung, es fehle der Zugang zu den Wasserspendern auf der Plenarebene, haben die Antragsgegner unwidersprochen vorgetragen, dass auf der Tribüne Trinkwasser bereitstehe. Soweit das Fehlen von Tischen gerügt wird, stehen diese auch auf der Plenarsaalebene nicht durchgängig zur Verfügung, ohne dass darin eine Beeinträchtigung der Beteiligungsrechte der Abgeordneten gesehen wird. Dem Fehlen einer detaillierten Redezeitanzeige ist nach der ebenfalls unbestrittenen Darstellung der Antragsgegner zunächst durch Hinweise der Sitzungsleitung auf die verbleibende Redezeit Rechnung getragen worden. Außerdem haben die Antragsgegner vorgetragen, dass am Standmikrofon des Rednerpults auf der Tribüne zwischenzeitlich eine sekundengenaue Redezeitanzeige installiert worden sei. Demgemäß werden aufgrund der Allgemeinverfügung zwar die Rahmenbedingungen für die parlamentarische Mitwirkung der betroffenen Abgeordneten modifiziert, dem Grunde und dem wesentlichen Umfang nach bleibt die Möglichkeit zur Wahrnehmung der parlamentarischen Beteiligungsrechte aber erhalten. Die betroffenen Abgeordneten können unverändert von ihrem Rede-, Stimm- und Antragsrecht Gebrauch machen. Soweit deren Wahrnehmung bezüglich der tatsächlichen Rahmenbedingungen aufgrund der Allgemeinverfügung von der Ausübung dieser Rechte auf der unteren Plenarebene abweicht, führt dies nicht zu einer Beschränkung der Mitwirkungsmöglichkeiten der betroffenen Abgeordneten in einer Art und Weise, die einen schweren Nachteil im Sinne der strengen Anforderungen an den Erlass einer einstweiligen Anordnung im Organstreitverfahren begründen würde; die Frage, ob die geltend gemachten Aspekte nach ihrer praktischen Bedeutung überhaupt als relevante Erschwernisse der parlamentarischen Arbeit einzustufen sind, kann deshalb hier offenbleiben.
Nichts anderes gilt, soweit die Antragsteller auf die Dignität der parlamentarischen Debatte sowie die fehlende Möglichkeit hinweisen, von der Tribüne Gemurmel, Raunen oder die ganze Stimmung im Saal aufzunehmen und mit allen Angehörigen der Antragstellerin zu 1. uneingeschränkt zu kommunizieren. Ob sich aus diesen Umständen ein nicht gerechtfertigter Eingriff in die durch Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG geschützte Rechtsstellung der Antragsteller ergibt, ist im Hauptsacheverfahren zu entscheiden. Die unabdingbare Notwendigkeit des Erlasses einer einstweiligen Anordnung gemäß § 32 BVerfGG begründen sie jedenfalls nicht. Selbst wenn von den Tribünenplätzen nicht jede Reaktion auf der unteren Plenarebene optisch oder akustisch wahrnehmbar und ein uneingeschränkter Gedankenaustausch zwischen allen Abgeordneten der Antragstellerin zu 1. nicht jederzeit möglich sein sollte, ist weder dargelegt noch sonst ersichtlich, dass dadurch die Möglichkeit der nicht geimpften und nicht genesenen Abgeordneten zur gleichberechtigten Mitwirkung an den Plenarsitzungen des Deutschen Bundestages schwerwiegend beeinträchtigt wird.
Auch die Ausführungen der Antragsteller zu einem geringen räumlichen Abstand zu den Fotografen auf der Nachbartribüne des Plenarsaals und die mit der Platzierung verbundene Preisgabe sensibler Gesundheitsdaten rechtfertigen keine andere Einschätzung. Es ist nicht dargelegt, welche Relevanz diesen Umständen für die Wahrnehmung der geltend gemachten Mitwirkungsrechte zukommen soll. Dies gilt auch, soweit die Antragsteller behaupten, die der Antragstellerin zu 1. angehörenden, nicht genesenen und nicht geimpften Abgeordneten würden in einer unwürdigen, diskriminierenden Position exponiert. Die Antragsteller führen schon nicht aus, worin die stigmatisierende Wirkung der für alle Abgeordneten gleichermaßen geltenden Regelungen der Allgemeinverfügung der Antragsgegnerin zu 1. bestehen soll. Vor allem aber erläutern sie nicht, welche schwerwiegenden Nachteile sich daraus für die Ausübung der von ihnen geltend gemachten organschaftlichen Rechte ergeben sollen.
Soweit die Antragsteller schließlich vortragen, auf der Tribüne des Plenarsaals fehle der Zugang zu den Journalisten auf der unteren Ebene des Plenarsaals, ist ebenfalls nicht ersichtlich, dass sich dadurch schwere Nachteile für die Ausübung der Abgeordnetentätigkeit ergeben. Dem stehen die vielfältigen sonstigen Möglichkeiten der Abgeordneten zur Kontaktaufnahme mit Medienvertretern entgegen.
Ergänzend ist hinsichtlich der Antragstellerin zu 1. in Rechnung zu stellen, dass ein erheblicher Teil der ihr angehörenden Abgeordneten durch die 2G+-Regel nicht an der Sitzungsteilnahme auf der unteren Plenarsaalebene gehindert ist. Die Antragstellerin zu 1. trägt selbst vor, dass lediglich 28 ihrer Abgeordneten weder geimpft noch genesen seien. Wenn aber der überwiegende Teil ihrer Mitglieder ungehinderten Zugang zum Plenarsaal hat, hätte es näherer Erläuterung bedurft, warum die Teilnahme weiterer Mitglieder auf Tribünenplätzen einen so schwerwiegenden Nachteil für die Antragstellerin zu 1. bedeutet, dass zu dessen Abwehr der Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung dringend geboten ist.