Betriebliche Übung

Als betriebliche Übung bezeichnet man im Arbeitsrecht den Umstand, dass ein Arbeitnehmer aus der regelmäßigen Wiederholung bestimmter Verhaltensweisen des Arbeitgebers zu Recht ableiten darf, dass der Arbeitgeber sich auch in Zukunft bzw. auf Dauer auf diese Art verhalten wird – etwa bei der Gewährung von Leistungen und Vergünstigungen – und dadurch Rechtsansprüche auf solche Leistungen begründet werden. Durch die betriebliche Übung werden freiwillige Leistungen des Arbeitgebers zu verpflichtenden, denen sich der Arbeitgeber nicht mehr einseitig entziehen kann.

Anwendungsbereich

Ansprüche aus betrieblicher Übung sind überall dort denkbar, wo für das geltend gemachte Recht keine andere Anspruchsgrundlage besteht. Häufige Anwendungsfälle sind (soweit freiwillig und nicht ohnehin nach dem Arbeits- oder Tarifvertrag bzw. der Betriebsvereinbarung geschuldet und geregelt):

  • Gratifikationen wie Jubiläumszuwendung, Urlaubsgeld und Weihnachtsgeld;
  • Prämien für quantitative („Akkordprämie“) oder qualitative Mehrleistungen („Güteprämie“),
  • Urlaubsregelung (Vorgangsweise, wie der Urlaub verteilt wird und wie er angemeldet werden muss),
  • Regelung von Krankmeldungen (wann die Krankmeldung schriftlich zu erfolgen hat, wer/wann zu informieren ist),
  • Arbeitspausenregelung (Umfang und Lage der Pausen), Fahrtkostenzuschüsse.

Damit freiwillige Bonuszahlungen, Gratifikationen, Leistungszulagen oder Prämien nicht zur betrieblichen Übung werden, muss der Arbeitgeber ihre Freiwilligkeit schriftlich vor der Zahlung ausdrücklich dergestalt betonen, dass auch bei wiederholter Gewährung kein Rechtsanspruch des Arbeitnehmers besteht.

Rechtslage

Betriebliche Übung ist ein im deutschen Arbeitsrecht gewohnheitsrechtlich anerkanntes Rechtsinstitut.

Voraussetzungen

Das Entstehen von individuellen, einklagbaren Ansprüchen aus Betrieblicher Übung setzt neben einem Umstandsfaktor (vorbehaltslose Gewährung einer Leistung) immer auch einen Zeitfaktor (regelmäßige Wiederholung) voraus. So entsteht beim Weihnachtsgeld betriebliche Übung, wenn es der Arbeitgeber drei Jahre hintereinander ohne Freiwilligkeitsvorbehalt zahlt. Der Arbeitnehmer kann dann darauf vertrauen, dass auch im vierten Jahr gezahlt wird. Das Entstehen einer betrieblichen Übung ist auch dann nicht ausgeschlossen, wenn im Arbeitsvertrag mit einer (einfachen) Schriftformklausel jede Änderung des Vertrags der Schriftform bedarf. Selbst durch Anwendung einer doppelten Schriftformklausel kann nach Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts am 20. Mai 2008 eine betriebliche Übung nur noch bedingt abgewendet werden.

Betriebliche Übung zugunsten neu eintretender Arbeitnehmer

Auch neu eintretende Arbeitnehmer haben gem. §§ 133, 157 BGB grundsätzlich Anspruch auf die im Zeitpunkt des Vertragsschlusses geltenden betrieblichen Übungen. Sie profitieren also gleichermaßen unabhängig von ihrer Beschäftigungsdauer. Einer ausdrücklichen Vereinbarung hierfür bedarf es nicht. Jedoch ist ein individualvertraglicher Ausschluss neu eintretender Arbeitnehmer zulässig, sofern dieser sachlich gerechtfertigt ist.

Beendigung

Ein durch betriebliche Übung entstandenes Recht kann nicht durch einseitigen Widerruf oder Direktionsrecht des Arbeitgebers beseitigt werden. Er muss eine Änderungskündigung aussprechen. Allerdings soll eine bestehende betriebliche Übung nach der neueren Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, die auf vielseitige Kritik gestoßen ist, auch ohne Änderungskündigung durch eine neue, für den Arbeitnehmer ungünstigere betriebliche Übung abgelöst werden (Beispiel: drei Jahre unterbleibende Zahlung von Weihnachtsgeld, das bislang aufgrund Betrieblicher Übung gezahlt wurde, ohne dass Arbeitnehmer widersprechen). Voraussetzung ist aber, dass der Arbeitgeber seinen Willen zur Änderung der bisher bestehenden betrieblichen Übung eindeutig zum Ausdruck bringt.

Das Bundesarbeitsgericht lässt in Abkehr von seiner bisherigen Rechtsprechung die Beendigung einer betrieblichen Übung durch eine sog. gegenläufige betriebliche Übung wegen Verstoßes gegen § 308 Nr. 5 BGB nicht mehr zu (BAG vom 18. März 2009 10 AZR 281/08). Dabei wird die Leistung, auf die der Arbeitnehmer eigentlich einen Anspruch hat, vom Arbeitgeber nur noch unter dem ausdrücklichen Vorbehalt der Freiwilligkeit und schließlich nicht mehr gewährt.

Sonderfall: Gewohnheitsrecht betrieblicher Arbeitszeit?

1998 wies das Landesarbeitsgericht Hessen die Klage eines Arbeitnehmers ab, der seit mehreren Jahren im Nachtdienst tätig war und in den Tagesdienst eingeteilt wurde. Er begründete die Klage mit dem Gewohnheitsrecht, da er jahrelang immer die gleiche Arbeitszeit gehabt habe. Dadurch sei ein arbeitsvertraglicher Anspruch auf Einteilung in die Nachtschicht entstanden.

Das Gericht verwarf diese Auffassung – denn Voraussetzung für das Entstehen einer betrieblichen Übung sei ein übereinstimmender Wille beider Vertragspartner. Im vorliegenden Fall habe der Arbeitgeber nicht erkennen lassen, mit der generellen Übernahme einer bestimmten Schicht einverstanden gewesen zu sein (LAG Hessen -9 Sa 1325/98).

Ein Arbeitsvertrag kann nicht zu Lasten des Arbeitnehmers geändert werden (sogenannte negative betriebliche Übung). Die vom BAG frühere vertretene Auffassung, dass dies möglich sei, hat das BAG nach der Schuldrechtsreform 2002 mit Verweis auf die Regelung in §§ 310 Abs. 4 S. 2, 308 Nr. 5 BGB aufgehoben.

Rechtsdogmatische Einordnung

Vertrauenstheorie

Die in der Literatur herrschende Vertrauenstheorie begründet die Rechtsbindung der betrieblichen Übung mit dem beim Arbeitnehmer erweckten Vertrauen auf die Fortgewährung der bisherigen Leistungen oder Vergünstigungen. Dieser Vertrauenstatbestand erwirke nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) eine Bindung des Arbeitgebers.

Vertragstheorie

Nach der Vertragstheorie, die auch das BAG vertritt, stellt das wiederholte Verhalten des Arbeitgebers ein konkludentes Vertragsangebot auf Beibehaltung oder Fortsetzung des Verhaltens in der Zukunft dar, das der Arbeitnehmer auch stillschweigend nach § 151 S. 1 BGB annehmen kann. Danach muss aus einer objektiven Arbeitnehmersicht (§§ 133, 157 BGB) in dem wiederholten Verhalten ein Erklärungstatbestand liegen, der unter Berücksichtigung aller Umstände auf einen entsprechenden Verpflichtungswillen schließen lässt.