Der Europäische Gerichtshof hat am 24.11.2020 zum Aktenzeichen C-510/19 entschieden, dass die Staatsanwälte in den Niederlanden keine „vollstreckende Justizbehörde“ im Rahmen der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls sind, da sie Einzelweisungen seitens des niederländischen Justizministers unterworfen werden können.
Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 146/2020 vom. 24.11.2020 ergibt sich:
Im September 2017 wurde von einem belgischen Untersuchungsrichter ein Europäischer Haftbefehl gegen A., einen belgischen Staatsangehörigen, ausgestellt, dem Urkundenfälschung, die Verwendung gefälschter Urkunden und Betrug vorgeworfen wurden. Im Dezember 2017 wurde er in den Niederlanden festgenommen und aufgrund einer Entscheidung der Rechtbank Amsterdam (Bezirksgericht Amsterdam, Niederlande) den belgischen Behörden übergeben. Im Januar 2018 erließ der Untersuchungsrichter, der den Europäischen Haftbefehl ausgestellt hatte, wegen anderer Handlungen als derjenigen, die der Übergabe von A. zugrunde lagen, einen ergänzenden Europäischen Haftbefehl und ersuchte die zuständigen niederländischen Behörden um Zustimmung zu einer Abweichung vom Grundsatz der Spezialität, der im Rahmenbeschluss 2002/584/JI über den Europäischen Haftbefehl (ABl. 2002, L 190, 1 in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI – ABl. 2009, L 81, 24 geänderten Fassung; im Folgenden: Rahmenbeschluss) vorgesehen ist. Nach diesem Grundsatz dürfen Personen, die in Vollstreckung eines EHB dem Ausstellungsmitgliedstaat übergeben wurden, wegen einer vor der Übergabe begangenen anderen Handlung als derjenigen, die der Übergabe zugrunde liegt, weder verfolgt noch verurteilt noch einer freiheitsentziehenden Maßnahme unterworfen werden, es sei denn, die vollstreckende Justizbehörde hat ihre Zustimmung dazu gegeben (Art. 27 Abs. 2, Abs. 3 Buchst. g und Abs. 4 des Rahmenbeschlusses über den EHB).
Im Februar 2018 erteilte der Officier van justitie (Staatsanwalt) beim Arrondissementsparket Amsterdam (Bezirksstaatsanwaltschaft Amsterdam, Niederlande) seine Zustimmung zur Erstreckung der Verfolgung auf die im ergänzenden Europäischen Haftbefehl aufgeführten Taten. A. wurde daraufhin in Belgien wegen der im ursprünglichen Europäischen Haftbefehl und der im ergänzenden Europäischen Haftbefehl aufgeführten Taten verfolgt und zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt.
In diesem Kontext möchte der Hof van beroep te Brussel (Appellationshof Brüssel, Belgien), bei dem A. ein Rechtsmittel gegen seine strafrechtliche Verurteilung eingelegt hat, wissen, ob der Staatsanwalt bei der Bezirksstaatsanwaltschaft Amsterdam als „vollstreckende Justizbehörde“ im Sinne des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl angesehen werden kann und infolgedessen befugt ist, die in diesem Rahmenbeschluss vorgesehene Zustimmung zu erteilen. Der Begriff „vollstreckende Justizbehörde“ wird in Art. 6 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl definiert..
Der EuGH hat sich in jüngerer Zeit schon mehrmals zum Begriff „Justizbehörde“ im Kontext des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl und speziell zu der Frage geäußert, ob die Staatsanwaltschaften der Mitgliedstaaten unter diesen Begriff fallen. Dabei ist er zu dem Ergebnis gekommen, dass dies bei den Staatsanwaltschaften in Litauen, Frankreich, Schweden und Belgien der Fall ist, nicht aber bei den deutschen Staatsanwaltschaften (vgl. EuGH, Urt. v. 27.05.2019 – C-509/18 „PF“ zur Generalstaatsanwalt von Litauen; EuGH, Urt. v.12.12.2019 – C-566/19 PPU und C-626/19 PPU „Parquet général du Grand-Duché de Luxembourg und Openbaar Ministerie“ und „Openbaar“ zu Staatsanwaltschaften Lyon und Tours; EuGH, Urt. v. 27.05.2019 – C-508/18 und C-82/19 PPU „OG und PI“ zu Staatsanwaltschaften Lübeck und Zwickau). Alle diese Rechtssachen betrafen zwar den Begriff „ausstellende Justizbehörde“ (definiert in Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl) und nicht den Begriff „vollstreckende Justizbehörde“, aber im vorliegenden Urteil der Großen Kammer stellt der EuGH fest, dass seine einschlägige Rechtsprechung darauf übertragbar ist.
Der EuGH führt zunächst aus, dass es sich bei dem Begriff „vollstreckende Justizbehörde“ ebenso wie bei dem Begriff „ausstellende Justizbehörde“ um einen autonomen Begriff des Unionsrechts handele, der nicht allein auf Richter oder Gerichte beschränkt sei. Unter ihn fallen auch Justizbehörden, die im betreffenden Mitgliedstaat an der Strafrechtspflege mitwirkten, bei der Ausübung ihrer der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls innewohnenden Aufgaben unabhängig (insbesondere von der Exekutive) handeln und ihre Aufgaben im Rahmen eines Verfahrens ausüben, das den Anforderungen an einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz genüge.
Zur Bestimmung des Inhalts des Begriffs „vollstreckende Justizbehörde“ seien die Kriterien heranzuziehen, die der EuGH in seiner Rechtsprechung zur „ausstellenden Justizbehörde“ entwickelt habe, denn der Status und die Natur dieser beiden Justizbehörden stimmten überein, auch wenn sie gesonderte Aufgaben erfüllten. Der EuGH stützt diese Schlussfolgerung auf mehrere Gesichtspunkte: Er hebt hervor, dass sowohl die Entscheidung über die Vollstreckung eines EHB als auch die Entscheidung über seine Ausstellung von einer Justizbehörde zu treffen seien, die den mit einem wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz einhergehenden Anforderungen – u.a. der Unabhängigkeitsgarantie – genüge. Ferner könne die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls ebenso wie dessen Ausstellung die Freiheit der gesuchten Person beeinträchtigen, da sie zu ihrer Inhaftnahme zwecks Übergabe führe. Hinzu komme, dass es im Verfahren der Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls einen zweistufigen Schutz der Grundrechte gebe, während im Stadium der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls das Tätigwerden der vollstreckenden Justizbehörde die einzige im Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl vorgesehene Schutzstufe darstelle, die es ermöglichen soll, dass die gesuchte Person in den Genuss aller Garantien komme, die dem Erlass justizieller Entscheidungen eigen seien.
Die Zustimmung zur Abweichung vom Grundsatz der Spezialität – unabhängig davon, ob sie von der gleichen Justizbehörde erteilt werden müsse wie der, die den Europäischen Haftbefehl vollstreckt habe – dürfe nicht von einem Staatsanwalt eines Mitgliedstaates erteilt werden, der zwar an der Rechtspflege mitwirke, aber im Rahmen der Ausübung seiner Entscheidungsbefugnis eine Einzelweisung seitens der Exekutive erhalten könne. Ein solcher Staatsanwalt erfülle nämlich nicht die Voraussetzungen für eine Einstufung als „vollstreckende Justizbehörde“. Bei der Erteilung dieser Zustimmung und dem damit verbundenen Verzicht auf die Anwendung des Grundsatzes der Spezialität müsse aber eine Behörde tätig werden, die diese Voraussetzungen erfülle. Die Entscheidung, die Zustimmung zu erteilen, sei nämlich eine von der Entscheidung zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls gesonderte Entscheidung und entfalte für die betreffende Person gesonderte Wirkungen. Der Umstand, dass die betreffende Person bereits der ausstellenden Justizbehörde übergeben wurde, ändere daran nichts, denn die erbetene Zustimmung betreffe eine andere Handlung als diejenige, aufgrund deren die Person übergeben wurde, und sei deshalb geeignet, die Freiheit der betreffenden Person zu beeinträchtigen, da sie zu ihrer Verurteilung zu einer höheren Strafe führen könne.
Im vorliegenden Fall werde nach niederländischem Recht die Entscheidung zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls letztlich von einem Gericht getroffen, während die Entscheidung über die Erteilung der Zustimmung ausschließlich der Staatsanwalt treffe. Da er Einzelweisungen seitens des niederländischen Justizministers unterworfen werden könne, handele es sich bei ihm aber nicht um eine „vollstreckende Justizbehörde“.