Nach Ansicht von Generalanwältin Kokott kann die in Südfrankreich erlaubte Leimrutenjagd auf Drosseln und Amseln mit der EU-Vogelschutzrichtlinie vereinbar sein, wenn ihr ein erhebliches kulturelles Gewicht zukommt und alle weiteren Vorrausetzungen für eine Ausnahme von dem grundsätzlichen Verbot erfüllt sind.
Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 144/2020 vom 19.11.2020 ergibt sich:
Es müsse unter anderem sichergestellt sein, dass der ungewollte Fang anderer Vogelarten und seine Konsequenzen im Vergleich zu der kulturellen Bedeutung der Leimrutenjagd hinnehmbar seien, so die Generalanwältin.
In der EU ist die früher weit verbreitete Jagd auf Vögel mit Leimruten grundsätzlich verboten. Eine Leimrute ist ein Ast oder Stock, den Jäger mit einem klebrigen Material versehen und in einem Baum oder Busch anbringen. Sobald ein Vogel mit der Leimrute in Berührung kommt, klebt diese an seinen Federn fest. Der Vogel fällt auf den Boden und wird dort eingesammelt. Nach französischen Medienberichten darf diese Jagd in der EU nur noch in fünf südfranzösischen Départements (Alpes-de-Haute-Provence, Alpes-Maritimes, Bouches-du-Rhône, Var und Vaucluse) praktiziert werden, wobei die Genehmigung für das Jahr 2020 wegen des vorliegenden Verfahrens ausgesetzt wurde. Die so gefangenen Exemplare sollen als Lockvögel verwendet werden, vermutlich im Rahmen anderer Jagdmethoden. Die Vereinigungen Association One Voice und Ligue pour la protection des oiseaux beanstanden die französische Regelung, die den Gebrauch von Leimruten für den Fang von Drosseln und Amseln erlaubt, vor dem französischen Staatsrat (Conseil d’État). Die Fédération nationale des chasseurs ist dem Streit beigetreten und beantragt Klageabweisung. Leimruten seien nicht nur grausam, sondern führten auch zu unvertretbarem Beifang anderer Vögel. Der französische Staatsrat möchte vor diesem Hintergrund vom EuGH wissen, ob die Leimrutenjagd unter den im französischen Recht vorgesehenen Bedingungen immer noch den Voraussetzungen der EU-Vogelschutzrichtlinie (Richtlinie 2009/147/EG über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten, ABl. 2010, L 20, 7, in der Fassung der Richtlinie 2013/17/EU des Rates vom 13.05.2013 zur Anpassung bestimmter Richtlinien im Bereich Umwelt aufgrund des Beitritts der Republik Kroatien – ABl. 2013, L 158, 193) genügt. Danach können die Mitgliedstaaten von dem grundsätzlichen Verbot abweichen, um unter streng überwachten Bedingungen selektiv den Fang, die Haltung oder jede andere vernünftige Nutzung bestimmter Vogelarten in geringen Mengen zu ermöglichen, sofern es keine andere zufriedenstellende Lösung gibt. Die EU-Kommission beanstandete die französischen Bestimmungen zur Leimrutenjagd schon vor einigen Jahrzehnten erfolglos. Der EuGH stellte damals fest, sie seien durch eine Ausnahmeregelung der Vogelschutzrichtlinie gedeckt (Urt. v. 27.04.1988 – 252/85).
Generalanwältin Juliane Kokott vertritt in ihren Schlussanträgen die Ansicht, dass die Leimrutenjagd als vernünftige Nutzung der betroffenen Vogelarten anerkannt werden könne, wenn die zuständigen französischen Stellen nachvollziehbar zu dem Ergebnis kämen, dass der Erhaltung dieser regional verbreiteten traditionellen Jagdmethode zu Freizeitzwecken ein erhebliches kulturelles Gewicht zukomme.
Unabhängig davon könne die Leimrutenjagd jedoch nur dann zulässig sein, wenn auch die übrigen Voraussetzungen für eine Ausnahme von dem grundsätzlichen Verbot vorlägen. So müsse die Jagd auf geringe Mengen der betroffenen Arten beschränkt werden, es seien eine strenge Überwachung und Kontrollen erforderlich und das Kriterium der Selektivität müsse respektiert werden. Der EuGH habe bereits entschieden, dass nach derzeitigem wissenschaftlichem Kenntnisstand nur eine Entnahme von weniger als 1% der jährlichen Gesamtsterblichkeitsrate der betroffenen Population (Durchschnittswert) bei den Arten, die nicht bejagt werden dürften, und von 1% bei den Arten, die bejagt werden dürften, zulässig sei (Urt. v. 15.12.2005 – C-344/03; Urt. v. 21.06.2018 – C-557/15; Urt. v. 23.04.2020 – C-217/19).
Was das Kriterium der Selektivität anbelangt, vertritt Generalanwältin Kokott die Ansicht, dass eine Jagdmethode als hinreichend selektiv im Sinne der fraglichen Ausnahme anerkannt werden könne, wenn auf der Grundlage hochwertiger und aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse und ausreichender praktischer Kontrollen gesichert sei, dass der ungewollte Fang von Vogelarten und seine Konsequenzen im Vergleich zu der kulturellen Bedeutung der Fangmethode hinnehmbar seien.