Generalanwalt Campos Sánchez-Bordona ist der Auffassung, dass die Zuspitzung der allgemeinen Mängel, die die Unabhängigkeit der polnischen Justiz beeinträchtigen, nicht die automatische Ablehnung aller Europäischen Haftbefehle aus Polen rechtfertigt.
Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 138/2020 vom 12.11.2020 ergibt sich:
Der Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl (ABl. 2009, L 81, 24) sieht eine Reihe von Fällen vor, in denen die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls (EHB) abzulehnen ist. Ungeachtet dessen kann nach der Rechtsprechung des EuGH die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls auch dann ausgesetzt werden, wenn nachgewiesen wird, dass eine echte Gefahr besteht, dass im Fall der Übergabe der gesuchten Person ihre Grundrechte verletzt werden. In seinem Urteil Minister for Justice and Equality (Urt. v. 25.07.2018 – (C-216/18 PPU), das vor dem Hintergrund der Reformen des polnischen Justizsystems ergangen ist, hat der EuGH festgestellt, dass zu diesen Grundrechten das Grundrecht auf ein faires Verfahren gehört, das in Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verbürgt ist. Nach dem genannten Urteil muss die vollstreckende Justizbehörde erstens prüfen, ob eine echte Gefahr besteht, dass dieses Grundrecht aufgrund systemischer und allgemeiner Mängel, die die Unabhängigkeit der Justizbehörden des Ausstellungsmitgliedstaats des Europäischen Haftbefehls beeinträchtigen, verletzt wird. Zweitens ist auch konkret und genau zu prüfen, ob ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme existieren, dass im Fall ihrer Übergabe das Grundrecht der gesuchten Person auf ein faires Verfahren verletzt werden könnte. Somit schloss der EuGH trotz der zu jenem Zeitpunkt vorliegenden schwerwiegenden Mängel die Möglichkeit aus, dass die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung jedes von den polnischen Gerichten ausgestellten Europäischen Haftbefehls automatisch und unterschiedslos ablehnt.
Der Officier van justitie (Staatsanwalt, Niederlande) stellte bei der Rechtbank Amsterdam (Bezirksgericht Amsterdam, Niederlande) einen Antrag auf Vollstreckung zweier von polnischen Gerichten ausgestellter Europäischen Haftbefehle auf Übergabe zweier Personen. Der erste Haftbefehl erging zum Zweck der Strafverfolgung, der zweite erging zum Zweck der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe. Die Rechtbank Amsterdam führt aus, dass sie nach dem Urteil Minister for Justice and Equality, davon ausgegangen sei, dass in Polen eine echte Gefahr einer Verletzung des Grundrechts auf ein faires Verfahren aufgrund systemischer oder allgemeiner Mängel, die die Unabhängigkeit der Justiz dieses Mitgliedstaats beeinträchtigten, drohe, und daher habe sie von polnischen Justizbehörden ausgestellte Europäischen Haftbefehle in zweifacher Hinsicht, so wie in jenem Urteil festgestellt, untersucht. Angesichts der späteren Zuspitzung dieser Mängel in der polnischen Justiz hat die Rechtbank Amsterdam dem EuGH ein Vorabentscheidungsersuchen unterbreitet und möchte wissen, ob die aktuellen Umstände es rechtfertigten, die von einem Gericht jenes Landes beantragte Übergabe abzulehnen, ohne die konkreten Umstände jedes Europäischen Haftbefehls im Einzelnen prüfen zu müssen. Die in den letzten Monaten in Polen verabschiedeten Gesetzesreformen seien derart, dass für keinen Angeklagten, der sich vor den polnischen Gerichten verantworten müsse, das Recht auf ein unabhängiges Gericht gewährleistet sei. Folglich erscheine es möglich, die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls abzulehnen, ohne noch im Einzelfall prüfen zu müssen, ob sich die systemischen Mängel negativ auf die für die gesuchte Person zuständigen konkreten Gerichte auswirkten und ob für diese Person in Anbetracht ihrer persönlichen Situation eine echte Gefahr bestehe, dass ihr Grundrecht auf ein faires Verfahren verletzt werde.
Generalanwalt Campos Sánchez-Bordona ist in seinen Schlussanträgen vom 12.11.2020 der Auffassung, dass die Zuspitzung der allgemeinen Mängel, die die Unabhängigkeit der polnischen Justiz beeinträchtigen, es nicht rechtfertigt, alle Europäische Haftbefehle aus Polen automatisch abzulehnen.
Nach Auffassung des Generalanwalts stützt sich die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen auf die Grundsätze der gegenseitigen Anerkennung und des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten. Diee Ablehnung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls sei daher eine außergewöhnliche Reaktion, die auf außergewöhnliche Umstände zurückzuführen sein müsse, die aufgrund ihrer Schwere eine Beschränkung dieser Grundsätze erforderten. Zu diesen „außergewöhnlichen Umständen“ zähle in der Tat die echte Gefahr einer Verletzung des Grundrechts der gesuchten Person auf ein faires Verfahren infolge „systemischer oder allgemeiner Mängel“ hinsichtlich der Unabhängigkeit der Gerichte des Ausstellungsmitgliedstaats. Allerdings habe diese außergewöhnliche Reaktion ihre Grenzen und gehe nicht so weit, dass die Vollstreckung aller Europäischen Haftbefehle, die von einer Justizbehörde des Mitgliedstaats ausgestellt würden, der systemische oder allgemeine Mängel aufweise, automatisch abzulehnen sei.
Die Ablehnung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls aus anderen als den im Rahmenbeschluss genannten Gründen erfordere eine sorgfältige Prüfung, die sich nach dem Urteil Minister for Justice and Equality in zwei Phasen gliedere. Die Ablehnung der Vollstreckung sämtlicher von einem Mitgliedstaat ausgestellter Europäischen Haftbefehle unter Verzicht auf die zweite Phase dieser doppelten Prüfung würde wahrscheinlich zur Straffreiheit zahlreicher Straftaten führen und könnte die Rechte der Opfer verletzen. Zudem könne es als eine Entwertung der professionellen Tätigkeit aller polnischer Richter verstanden werden, die sich bemühten, die im Rahmenbeschluss vorgesehenen Mechanismen der justiziellen Zusammenarbeit einzusetzen.
Auch wenn sich die Bedrohung der Unabhängigkeit der polnischen Gerichte intensiviert haben möge, sei eine automatische und unterschiedslose Aussetzung der Anwendung des Rahmenbeschlusses für sämtliche von den polnischen Gerichten ausgestellten Europäischen Haftbefehle nicht ohne Weiteres zulässig. Die automatische Ablehnung jeder Vollstreckung führe schlicht und einfach zur Nichtanwendung des Rahmenbeschlusses. Wie der EuGH im Urteil Minister for Justice and Equality festgestellt habe, sei dies nur dann zulässig, wenn eine schwere und anhaltende Verletzung der in Art. 2 EUV enthaltenen und der Union zugrunde liegenden Werte der Rechtsstaatlichkeit durch den Ausstellungsmitgliedstaat vorliege und vom Europäischen Rat festgestellt werde. Im zuletzt genannten Fall handele es sich nicht um eine Funktionsstörung eines Rechtsschutzsystems, sondern schlechthin um den Wegfall der Bedingungen, unter denen ein Justizsystem die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit schützen könne.
Die systemischen oder allgemeinen Mängel, die im Hinblick auf die Unabhängigkeit der polnischen Gerichte festgestellt werden könnten, änderten nichts daran, dass es sich bei ihnen um Organe der Rechtsprechung handele. Rechtsprechungsorgane seien sie auch weiterhin, obwohl die Unabhängigkeit der Justiz bedroht sei. Angesichts der Zuspitzung dieser Mängel und des Fehlens einer förmlichen Feststellung des Europäischen Rates müsse die Rechtbank Amsterdam bei der Prüfung der Umstände der Europäischen Haftbefehle, um deren Vollstreckung sie ersucht worden sei, äußerst genau vorgehen, sie sei jedoch von der Pflicht, diese Prüfung durchzuführen, nicht befreit. Die Rechtbank Amsterdam scheine in diesen Fällen nichts festgestellt zu haben, weswegen die Vollstreckung der Europäischen Haftbefehle aus den im Rahmenbeschluss genannten Gründen abzulehnen sei. Angesichts der persönlichen Situation der gesuchten Personen, der Art der ihnen zur Last gelegten Straftaten und der Sachverhalte, auf denen die Europäischen Haftbefehle beruhten, schließe die Rechtbank Amsterdam sogar eine Gefahr einer unzulässigen Einflussnahme auf ihre Strafverfahren aus.
Schließlich hält der Generalanwalt es für unerheblich, ob die Zuspitzung der systemischen oder allgemeinen Mängel hinsichtlich der Unabhängigkeit der Gerichte des Ausstellungsmitgliedstaats vor oder nach der Ausstellung des Europäischen Haftbefehls eingetreten sei. Entscheidend sei, dass die ausstellende Justizbehörde (die nach der Übergabe über die gesuchte Person zu entscheiden habe) ihre Unabhängigkeit bewahre, um ohne Einflussnahme, Drohungen oder Druck von außen über den diese Person betreffenden Fall zu entscheiden. Offensichtlich sei von einer geringeren Gefahr der Verletzung des Grundrechts auf ein faires Verfahren dann auszugehen, wenn der Europäische Haftbefehl für die Verbüßung einer Freiheitsstrafe ausgestellt worden sei, die gegen die gesuchte Person zu einem Zeitpunkt verhängt worden sei, zu dem die Unabhängigkeit des erkennenden Gerichts außer Zweifel gestanden habe.