Der Verfassungsgerichtshof Baden-Württemberg in Stuttgart hat am 09.11.2020 zum Aktenzeichen 1 GR 101/20 entschieden, dass kleine Parteien bei der Zulassung zur Landtagswahl benachteiligt sind, da die Anzahl der notwendigen Unterstützungsunterschriften für einen Wahlvorschlag in der Corona-Krise zu hoch sind.
Aus der Pressemitteilung des VerfGH Stuttgart vom 09.11.2020 ergibt sich:
Nach dem geltenden Landtagswahlrecht in Baden-Württemberg hat jeder Wähler eine Stimme. Diese wird abgegeben für wahlkreisbezogene Wahlvorschläge von Parteien oder von Wahlberechtigten für Einzelbewerber. Parteien, die während der letzten Wahlperiode im Landtag nicht vertreten waren, bedürfen für ihre Wahlvorschläge der Unterschriften von mindestens 150 Wahlberechtigten des Wahlkreises (§ 24 Abs. 2 Satz 2 des Landtagswahlgesetzes). Die Antragsteller sind derzeit nicht im Landtag vertretene Parteien. Sie sind der Auffassung, dass der Landtag von Baden-Württemberg als Wahlgesetzgeber in Zeiten der anhaltenden Sars-CoV-2-Pandemie nicht in bisheriger Höhe an dem Unterschriftenerfordernis festhalten darf.
Der VerfGH Stuttgart hat dem Antrag stattgegeben.
Nach Auffassung des Verfassungsgerichtshofes verletzt der Umstand, dass der Landtag an dem Erfordernis von 150 Unterstützungsunterschriften für Wahlvorschläge von derzeit nicht im Landtag vertretenen Parteien festhält, diese in ihrem Recht auf Chancengleichheit. § 24 Abs. 2 Satz 2 des Landtagswahlgesetzes sei wegen der Veränderungen der tatsächlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen der Landtagswahl, die durch die Sars-CoV-2-Pandemie und die zu ihrer Bekämpfung getroffenen Maßnahmen eingetreten seien, hinsichtlich der im kommenden Frühjahr anstehenden Landtagswahlen verfassungswidrig geworden.
Es sei in Übereinstimmung mit den Antragstellern davon auszugehen, dass die herkömmliche Art des Sammelns der Unterstützungsunterschriften im Wege der direkten Ansprache von Personen auf Straßen und Plätzen sowie an der Haus- und Wohnungstüre seit Ausbruch der Pandemie deutlich weniger Erfolg versprechend sei. Es liege auf der Hand und entspreche der derzeitigen allgemeinen Lebenserfahrung, dass in der Pandemie-Situation deutlich mehr Personen schon dem Versuch einer Kontaktaufnahme aus dem Weg gingen. In der Folge müssten deutlich mehr Personen angesprochen werden, obwohl der öffentliche Raum seit Pandemiebeginn auch häufig von weniger Personen als zuvor frequentiert werde und Veranstaltungen, in deren Zusammenhang um Unterschriften gebeten werden könne, nicht oder mit weniger Besuchern stattfänden.
Der mithin eintretenden Verschärfung der Ungleichbehandlung könne nicht mit dem Hinweis auf Alternativen zur herkömmlichen Art des Sammelns von Unterstützungsunterschriften begegnet werden. Zwar könnten in einem bestimmten Ausmaß an die Stelle der direkten Ansprache von Personen, die möglicherweise eine Unterstützungsunterschrift abgeben, andere Möglichkeiten der Kontaktaufnahme treten, insbesondere über das Internet. Es liege allerdings nahe, dass solche andere Arten der Ansprache und Modalitäten der Unterzeichnung nicht in gleicher Weise wie der persönliche Kontakt Erfolg versprechend seien.
Die vom Landtag nunmehr zu erlassende Regelung müsse so wirken, dass die pandemiebedingte gesteigerte Beeinträchtigung des Rechts auf Chancengleichheit jedenfalls kompensiert werde. Allerdings sei es nicht möglich, die erforderliche Kompensation objektiv zu ermitteln, also die verstärkte Ungleichbehandlung in eine konkrete Zahl von Unterschriften umzurechnen. Der Landtag dürfe daher eine grobe Wertung vornehmen. Einerseits könne er dabei berücksichtigen, dass auch unter den derzeitigen Bedingungen die Ernsthaftigkeit von Wahlvorschlägen gesichert sein solle. Andererseits habe er darauf zu achten, dass keine durch die Pandemie-Lage verursachte Benachteiligung kleinerer Parteien eintrete. Dem würde eine nur geringfügige Verminderung der Zahl der beizubringenden Unterschriften nicht entsprechen. Angesichts des kurzen Zeitraumes, der für eine Neuregelung zur Verfügung stehe, weist der Verfassungsgerichtshof darauf hin, dass er, sollte sich der Landtag für eine Verringerung des Unterschriftenquorums und nicht für eine andere denkbare Art der Kompensation entscheiden, nach dem derzeitigen Erkenntnisstand unter Berücksichtigung möglicher weiterer gradueller Verschärfungen der Schutzmaßnahmen jedenfalls bei einer Reduzierung um 50% keinen Anlass für eine erneute verfassungsrechtliche Beanstandung sähe.
Der VerfGH Stuttgart wird zu einem späteren Zeitpunkt eine schriftliche Begründung des Urteils vorlegen.