Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 30. September 2020 zum Aktenzeichen 1 BvR 495/19 entschieden, dass die Zurückweisung eines Befangenheitsantrags wegen Äußerungen der abgelehnten Richter, die mittels heimlich aufgezeichneter Aufnahmen belegt werden konnten, das Recht aus Artikel 101 Absatz 1 Satz 2 GG verletzt.
Die Beschwerdeführer lehnten im Berufungsverfahren den Vorsitzenden Richter und weitere Mitglieder der Kammer des Landgerichts wegen Befangenheit ab.
Zur Begründung führten die Beschwerdeführer unter anderem aus, dass sich die Mitglieder der Kammer in dem vorangegangenen Verfahren in einer ersten Sitzungsunterbrechung in spottender Art und Weise über den Beruf des Beschwerdeführers unterhalten hätten. In einer zweiten Sitzungsunterbrechung hätten die Mitglieder der Kammer mit dem Nebenintervenienten über den Gegenstand des Verfahrens gesprochen und Ratschläge erteilt. Zur Glaubhaftmachung legten sie Niederschriften von Gesprächsaufzeichnungen vor, die sie ohne Zustimmung der übrigen Anwesenden in den zwei Sitzungsunterbrechungen im Gerichtssaal gefertigt hatten. Während beider Sitzungsunterbrechungen seien neben den Mitgliedern der Kammer zwei Schüler oder Studenten anwesend gewesen, in der zweiten Unterbrechung neben weiteren Personen auch der Nebenintervenient.
Die als befangen ablehnten Richter gaben in ihren dienstlichen Erklärungen an, sich an keine Einzelheiten der mündlichen Verhandlung in dem vorangegangenen Verfahren zu erinnern.
Eine Entziehung des gesetzlichen Richters im Sinne von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG durch die Rechtsprechung, der auch die Handhabung des Ablehnungsrechts im Einzelfall obliegt, kann allerdings nicht in jeder fehlerhaften Rechtsanwendung gesehen werden. Die Grenzen zum Verfassungsverstoß sind aber jedenfalls dann überschritten, wenn die Auslegung einer Zuständigkeitsnorm oder ihre Handhabung im Einzelfall willkürlich oder offensichtlich unhaltbar sind oder wenn die richterliche Entscheidung Bedeutung und Tragweite der Verfassungsgarantie des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG grundlegend verkennt.
Nach diesen Grundsätzen verstößt der angefochtene Beschluss gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Das Landgericht hat bei der gebotenen Abwägungsentscheidung über die Verwertbarkeit der Sprachaufzeichnung die Bedeutung und Tragweite des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG grundlegend verkannt, indem es in Sitzungsunterbrechungen aufgenommene Gespräche ohne die erforderliche Klärung der tatsächlichen Grundlagen und ohne Auseinandersetzung mit entgegenstehender höchstrichterlicher Rechtsprechung als Beratung im Sinne des § 193 GVG eingeordnet und auf Grundlage dessen im Rahmen der Abwägung maßgeblich auf die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege abgestellt hat.
Angesichts der möglichen Anwesenheit von „Schülern oder Studenten“ während der ersten Sitzungsunterbrechung und weiterer Personen während der zweiten Unterbrechung ist die Annahme des Landgerichts, dass in den Sitzungspausen aufgenommene Gespräche eine Beratung im Sinne des § 193 Abs. 1 GVG darstellten, offensichtlich unhaltbar.
Eindeutig keine Beratung im Sinne des § 193 Abs. 1 GVG sind Gespräche der Kammer mit einer Partei. Das Landgericht setzt sich zudem in tatsächlicher Hinsicht schon nicht mit der Frage auseinander, ob Schüler oder Studenten der Rechtswissenschaften in der ersten Sitzungsunterbrechung anwesend waren. Die Teilnahme von Schülern an einer Beratung ist jedoch von vorneherein ausgeschlossen. Das gleiche gilt für Studierende der Rechtswissenschaften, denn sie sind nach Rechtsprechung und überwiegender Ansicht in der Literatur keine „bei demselben Gericht zu ihrer juristischen Ausbildung beschäftigte Personen“ im Sinne des § 193 Abs. 1 GVG, denen die Anwesenheit bei der Beratung gestattet ist, auch nicht während des nach § 5a Abs. 3 Satz 2 DRiG zu absolvierenden Gerichtspraktikums. Das Gericht lässt weder erkennen, dass es insoweit von der höchstrichterlichen Rechtsprechung und überwiegenden Meinung in der Literatur abweichen will, noch begründet es, warum Gespräche unter ungeklärt gebliebener Beteiligung von Schülern oder Studenten gleichwohl als Beratung im Sinne des § 193 GVG eingeordnet werden können.
Das Landgericht durfte daher bei der vorzunehmenden Abwägung eine Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit der Rechtspflege nicht einstellen, denn diese war erkennbar nur mit dem heimlichen Abhören einer Beratung begründet. Auch die vom Landgericht vorgenommenen Zweckmäßigkeitserwägungen, dass Zwischenberatungen in der Praxis oftmals im Sitzungssaal stattfinden müssen, können das Abwägungsergebnis nicht tragen. Bei einer heimlichen Aufnahme von Beratungen unter Verstoß gegen § 193 Abs. 1 GVG unterliegt die Abwägung anderen, hier nicht einschlägigen, Maßstäben. Denn in diesem Fall streiten nicht nur das allgemeine Persönlichkeitsrecht, sondern auch Art. 97 GG und Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG gegen eine Verwertung, weil § 193 GVG der Sicherung des gesetzlichen Richters und dessen Unabhängigkeit dient. Dass die Rechtspflege auch durch heimliche Aufnahmen in Sitzungspausen, in denen gerade keine Beratung stattfindet, vergleichbar beeinträchtigt werden kann, ist weder der Beschlussbegründung zu entnehmen noch liegt dies auf der Hand.
Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Landgericht ohne Berücksichtigung der durch die heimliche Aufnahme einer Beratung beeinträchtigten Funktionsfähigkeit der Rechtspflege zu einem anderen Abwägungsergebnis und letztlich auch zu einem anderen Ergebnis in der Sache gekommen wäre. Eine Abwägung nur zwischen dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht der anwesenden Parteien, deren Anwälten, der anwesenden Schüler oder Studenten sowie der Mitglieder der Kammer einerseits und des für die Verwertung der Aufnahme sprechenden verfassungsrechtlich geschützten Interesses der Beschwerdeführer in der Form des Rechts auf den gesetzlichen Richter andererseits kann dem angefochtenen Beschluss nicht entnommen werden. Zwar geht das Gericht davon aus, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Richter und des Nebenintervenienten höher zu bewerten sei als das Interesse des Beschwerdeführers an der Aufnahme. Das Ergebnis seiner Abwägung stützt es aber – wenn nicht gar maßgeblich – auf die durch die heimliche Aufnahme gerade einer Beratung verletzte Funktionsfähigkeit der Rechtspflege, die so hier nicht vorliegt.