Keine Aufhebung eines Rentenbescheids mehr als 10 Jahre später

22. Oktober 2020 -

Das Bundessozialgericht hat am 21.10.2020 zum Aktenzeichen B 13 R 19/19 R entschieden, dass die Aufhebung eines Rentenbescheids mehr als 10 Jahre später rechtswidrig ist.

Die Beteiligten streiten im Überprüfungsverfahren über die teilweise Rücknahme der Zahlbetragsfestsetzung einer Altersrente und die Erstattung des überzahlten Betrags. Die Klägerin war Ehefrau des im Oktober 2011 verstorbenen Versicherten und ist dessen alleinige Erbin. Der Versicherte bezog von 2000 bis zu seinem Tod eine Altersrente. Daneben erhielt er aufgrund eines Arbeitsunfalls im Oktober 1968 eine Verletztenrente der GUV. Kenntnis vom Bezug der Verletztenrente erhielt der RV-Träger erstmals durch den Witwenrentenantrag der Klägerin im November 2011. Nach Anhörung der Klägerin nahm der RV-Träger den Altersrentenbescheid aus dem Jahr 2000 hinsichtlich der Zahlbetragsfestsetzung teilweise zurück und verlangte die Erstattung von rund 28.000 Euro. Den Antrag der Klägerin auf Überprüfung des bestandskräftig gewordenen Rücknahme- und Erstattungsbescheids lehnte der RV-Träger ab.

Mit ihrer Klage vor dem Sozialgericht ist die Klägerin erfolgreich gewesen (Urteil vom 13.04.2016). Die Berufung des RV-Trägers hiergegen hat das Landessozialgericht im Wesentlichen zurückgewiesen (Urteil vom 26.09.2019). Zwar sei die Zahlbetragsfestsetzung in dem Altersrentenbescheid aufgrund des Bezugs der Verletztenrente rechtswidrig gewesen, jedoch sei die Frist für eine Rücknahme dieses Bescheids bereits abgelaufen. Bei Vorliegen eines Wiederaufnahmegrundes i.S.v. § 45 Abs. 3 Satz 2 SGB X i.V.m. § 580 ZPO – hier das Wiederauffinden einer Urkunde in der Gestalt des Verletztenrentenbescheids – betrage die Frist zur Rücknahme des rechtswidrigen Verwaltungsakts entsprechend § 586 Abs. 2 Satz 2 ZPO fünf Jahre. Es folge insoweit der Rechtsprechung des BSG (Urt. v. 24.03.1993 – 9/9a RV 38/91 – BSGE 72, 139 = SozR 3-1300 § 45 Nr. 16). Gründe für die Zugrundelegung einer längeren Frist seien nicht vorhanden, insbesondere habe der Versicherte den RV-Träger nicht im Hinblick auf den Bezug der Verletztenrente arglistig getäuscht.

Mit seiner Revision rügt der RV-Träger eine Verletzung von § 580 Nr. 7 Buchst. b ZPO und § 45 Abs. 3 Satz 2 SGB X i.V.m. § 586 Abs. 2 Satz 2 ZPO. Entgegen der Auffassung des Landessozialgerichts sei die Rücknahme eines Verwaltungsakts nach § 45 Abs. 3 Satz 2 SGB X i.V.m. § 580 Nr. 7 Buchst. b ZPO unbefristet möglich. Aus der Entstehungsgeschichte des § 45 Abs. 3 SGB X und den Materialien zu den Ausschussberatungen ginge deutlich hervor, dass in Fällen des § 45 Abs. 3 Satz 2 SGB X die im Regierungsentwurf ursprünglich vorgesehene unbefristete Rücknahmeregelung Bestand haben sollte und nur im Übrigen Fristen eingefügt worden seien. Zudem seien in den nicht zugleich von § 45 Abs. 3 Satz 1 und 3 SGB X erfassten Fällen des § 580 ZPO Vertrauensschutzgesichtspunkte weniger maßgebend.

Die Revision des beklagten RV-Trägers war erfolglos.

Nach Auffassung des BSG war nach Ablauf von mehr als zehn Jahren der RV-Träger nicht mehr berechtigt, den im Jahr 2000 bekanntgegebenen Bescheid über die Altersrente des 2011 verstorbenen Versicherten teilweise zurückzunehmen und von dessen Witwe die Erstattung von rund 28.000 Euro zu verlangen.

Zwar war der Altersrentenbescheid im Hinblick auf die Zahlbetragsfestsetzung von Anfang an rechtswidrig, weil der Versicherte zugleich eine Verletztenrente bezog, die auf die Altersrente hätte angerechnet werden müssen. Auch haben Sozialgericht und Landessozialgericht Vertrauensausschlussgründe i.S.d. § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 und 3 SGB X festgestellt. Gleichwohl kann ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt – selbst wenn das Vertrauen des Begünstigten in dessen Bestand nach § 45 Abs. 2 SGB X nicht schutzwürdig ist – nur unter Einhaltung der in § 45 Abs. 3 SGB X festgelegten Fristen zurückgenommen werden. Die Rücknahmemöglichkeit ist nach dessen Satz 1 grundsätzlich auf zwei Jahre seit der Bekanntgabe des rechtswidrigen Verwaltungsakts beschränkt. § 45 Abs. 3 Satz 3 Nr. 1 SGB X verlängert diese Frist auf zehn Jahre, wenn die Vertrauensausschlussgründe des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 oder 3 SGB X gegeben sind.

Soweit der beklagte RV-Träger sich für eine Rücknahme auch nach Ablauf von mehr als zehn Jahren vorliegend auf § 45 Abs. 3 Satz 2 SGB X beruft, vermag er damit nicht durchzudringen. Nach § 45 Abs. 3 Satz 2 SGB X gilt die Zwei-Jahresfrist des Satzes 1 zwar nicht, wenn Wiederaufnahmegründe entsprechend § 580 ZPO vorliegen. Hier war jedoch gleichwohl eine Rücknahmemöglichkeit nur für maximal zehn Jahre gegeben. Daher kann offen bleiben, ob in der Übersendung eines Ausdrucks des Verletztenrentenbescheides aus der digitalisierten Akte der zuständigen Berufsgenossenschaft überhaupt ein „Auffinden einer Urkunde“ i.S..s § 580 Nr. 7 Buchst. b ZPO zu erkennen ist und ob mit dem 9. Senat des BSG (Urt. v. 24.03.1993 – 9/9a RV 38/91 – BSGE 72, 139 = SozR 3-1300 § 45 Nr. 16) davon auszugehen ist, dass beim Vorliegen von Wiederaufnahmegründen i.S.d. § 580 ZPO die Rücknahmefrist nur fünf Jahre beträgt. Denn insbesondere systematische Gründe sprechen dafür, zumindest beim gleichzeitigen Vorliegen eines Wiederaufnahmegrundes nach § 580 Nr. 7 Buchst. b ZPO und eines Vertrauensausschlussgrundes des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 oder 3 SGB X eine zeitliche Begrenzung der Rücknahmemöglichkeit auf maximal 10 Jahre anzunehmen.