Der Europäische Gerichtshof hat am 08.10.2020 zum Aktenzeichen C-360/19 entschieden, dass ein Kunde gegen den Betreiber des nationalen Netzes wegen eines Stromausfalls Beschwerde einlegen kann, auch wenn er nicht direkt an dieses Netz, sondern an ein regionales Netz angeschlossen ist, das seinerseits vom nationalen Netz gespeist wird.
Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 130/2020 vom 08.10.2020 ergibt sich:
Am 27.03.2015 bewirkte eine allgemeine Störung im Hochspannungsumschaltwerk Diemen (Niederlande), das zum von TenneT TSO betriebenen Hochspannungsnetz gehört, dass ein großer Teil der Provinz Noord-Holland (Nordholland) und ein kleiner Teil der Provinz Flevoland (Niederlande) mehrere Stunden lang keinen Strom hatten. Aufgrund dieser Störung war die Stromübertragung zur Papierfabrik von Crown Van Gelder in Velsen-Noord (Niederlande) für mehrere Stunden unterbrochen. Die Fabrik ist an das von der Liander NV betriebene Verteilungsnetz angeschlossen, das aus dem von TenneT TSO betriebenen Netz gespeist wird.
Crown Van Gelder machte geltend, durch diese Störung einen Schaden erlitten zu haben, und legte bei der Autoriteit Consument en Markt (ACM) (Behörde für Verbraucher- und Marktangelegenheiten, Niederlande), der nationalen Regulierungsbehörde, Beschwerde ein, um feststellen zu lassen, dass TenneT TSO nicht alle ihr zur Verfügung stehenden zumutbaren Maßnahmen ergriffen habe, um den Stromausfall zu verhindern, und dass die Netzstruktur des Umschaltwerks Diemen nicht den gesetzlichen Anforderungen genüge.
Die ACM erklärt mit Bescheid vom 30.04.2018 die Beschwerde von Crown Van Gelder jedoch für unzulässig, da diese keine unmittelbare Vertragsbeziehung mit TenneT TSO habe. Die Fabrik von Crown Van Gelder sei nämlich nicht an das Netz von TenneT TSO angeschlossen, sondern nur an das Netz von Liander. Außerdem habe Crown Van Gelder keinen Vertrag mit TenneT TSO geschlossen und erhalte von dieser keine Rechnungen. Das College van Beroep voor het bedrijfsleven (Berufungsgericht für Wirtschaftsverwaltungssachen, Niederlande), das mit einer Klage gegen den Bescheid der ACM befasst ist, hat beschlossen, den EuGH dazu zu befragen. Es ersuchte um Klärung des Begriffs „jeder Betroffene, der eine Beschwerde hat“ im Sinne der Richtlinie der Union über den Elektrizitätsbinnenmarkt (RL 2009/72/EG – ABl. 2009, L 211, 55). Im Einzelnen möchte es wissen, ob die Beschwerde eines Endkunden gegen den Betreiber eines Stromnetzes wegen einer Störung dieses Netzes mit der Begründung zurückgewiesen werden kann, dass die Anlage des Endkunden nicht unmittelbar an dieses nationale Netz, sondern nur an ein vom nationalen Netz gespeistes regionales Netz angeschlossen sei.
Der EuGH hat entschieden, dass die Beschwerde eines Kunden nicht schon deshalb zurückgewiesen werden kann, weil die Anlage des Endkunden nicht unmittelbar an das nationale Stromnetz, sondern nur an ein vom nationalen Netz gespeistes regionales Netz angeschlossen ist
Die Befugnis der ACM, wenn sie mit einer Beschwerde befasst sei, hänge ausdrücklich von zwei Voraussetzungen ab: Zum einen müsse sich die Beschwerde gegen einen Übertragungs- oder Verteilernetzbetreiber richten, zum anderen müsse sich die in dieser Beschwerde erhobene Rüge auf Verpflichtungen des Netzbetreibers aus der RL 2009/72 beziehen. Dem Wortlaut der Richtlinie lasse sich hingegen nicht entnehmen, dass die Befugnis der ACM vom Bestehen einer unmittelbaren Beziehung zwischen dem Beschwerdeführer und dem Netzbetreiber abhänge.
Die Richtlinie 2009/72 soll den Energieregulierungsbehörden die Befugnis verleihen, die volle Wirksamkeit der zum Schutz der Kunden ergriffenen Maßnahmen zu gewährleisten. Ebenso verpflichte die Richtlinie die Mitgliedstaaten dazu, ein hohes Verbraucherschutzniveau zu gewährleisten, insbesondere in Bezug auf Streitbeilegungsverfahren.
Zu den Betreibern von Stromübertragungsnetzen führt der EuGH aus, dass die ihnen durch die RL 2009/72 auferlegten Aufgaben und Verpflichtungen nicht nur Einrichtungen betreffen, deren Anlage an ihr Netz angeschlossen sei. So seien sie u.a. dazu verpflichtet, unter wirtschaftlichen Bedingungen sichere, zuverlässige und leistungsfähige Übertragungsnetze zu betreiben, zu pflegen und zu entwickeln. Sie seien auch verpflichtet, zu gewährleisten, dass die zur Erfüllung der Dienstleistungsverpflichtungen erforderlichen Mittel vorhanden seien, durch entsprechende Übertragungskapazität und Zuverlässigkeit des Netzes zur Versorgungssicherheit beizutragen und die Übertragung von Strom durch das Netz unter Berücksichtigung des Austauschs mit anderen Verbundnetzen zu regeln.
Der EuGH ist daher zu dem Schluss gekommen, dass der Begriff „Betroffener, der eine Beschwerde hat“ nicht dahin ausgelegt werden könne, dass er eine unmittelbare Beziehung zwischen dem Beschwerdeführer und dem von der Beschwerde betroffenen Übertragungsnetzbetreiber voraussetze. Folglich könne die ACM, wenn sie mit einer Beschwerde eines Endkunden befasst sei, mit der die Nichterfüllung der den Übertragungsnetzbetreibern durch die RL 2009/72 auferlegten Verpflichtungen geltend gemacht werde, diese Beschwerde nicht mit der Begründung zurückweisen, dass die Anlage des Endkunden nicht unmittelbar an dieses Übertragungsnetz, sondern nur an ein von ihm gespeistes Verteilernetz angeschlossen sei.