Das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster hat am 22.09.2020 zum Aktenzeichen 19 E 477/20 entschieden, dass ein Schüler, der von einem Mitschüler tätlich angegriffen wurde und sich mit einem Faustschlag zur Wehr setzte, der zu einer lebensgefährlichen Verletzung des Mitschülers führte, wegen dieses Vorfalls nicht von der Schule entlassen werden durfte.
Aus der Pressemitteilung des OVG NRW vom 23.09.2020 ergibt sich:
Der seinerzeit 14 Jahre alte Schüler einer Gesamtschule war im August 2019 an einer Bushaltestelle vor dem Schulgelände von dem gleichaltrigen Mitschüler mit mehreren Faustschlägen angegriffen worden. Der Schüler wehrte sich mit einem Schlag, der den Mitschüler so am Kopf traf, dass dieser zu Boden fiel und einen Schädelbruch mit massiven Gehirnblutungen erlitt. Das ihn betreffende strafrechtliche Ermittlungsverfahren wegen schwerer Körperverletzung stellte die Staatsanwaltschaft ein, weil von einer Notwehrsituation auszugehen sei. Gegen die von der Gesamtschule wegen des Vorfalls verfügte Entlassung erhob der Schüler Klage, die er weiter verfolgt, auch wenn er nunmehr eine andere Schule besucht und nicht an seine frühere Schule zurückkehren möchte. Er beantragte die Gewährung von Prozesskostenhilfe, weil er die Kosten der Prozessführung nicht aufbringen kann.
Das VG Düsseldorf hatte diesen Antrag mangels hinreichender Erfolgsaussicht der Klage abgewiesen (18 K 129/20).
Die dagegen gerichtete Beschwerde hatte vor dem OVG Münster Erfolg.
Nach Auffassung des Oberverwaltungsgerichts hat sich die Schulentlassung nicht dadurch erledigt, dass der Schüler an seiner neuen Schule bleiben wolle. Die Erledigung trete in einem solchen Fall grundsätzlich erst dann ein, wenn die Schullaufbahn beendet sei, weil die Entlassung von der Schule einen Anspruch auf Wiederaufnahme grundsätzlich ausschließe. Dass der Schüler eine Rückkehr an seine frühere Schule nicht beabsichtige, sei unerheblich, weil es auf sein subjektives Interesse nicht ankomme. Das Rechtsschutzbedürfnis für die Anfechtung der Schulentlassung bestehe fort, da negative Auswirkungen der Ordnungsmaßnahme auf die weitere Schullaufbahn möglich seien.
Die Ordnungsmaßnahme sei unverhältnismäßig und daher rechtswidrig. Eine Entlassung von der Schule ohne vorherige Androhung sei nur in begründeten Ausnahmefällen verhältnismäßig, nämlich wenn zu einem schweren oder wiederholten Fehlverhalten des Schülers weitere erschwerende Umstände wie insbesondere gewalttätiges Handeln oder schweres kriminelles Tun hinzu kämen. Jedenfalls solche Umstände habe die Schule nicht festgestellt. Hier habe der Schüler in einer Abwehrsituation gehandelt, die das Gewicht eines ihm vorzuwerfenden Fehlverhaltens auch schulordnungsrechtlich nicht unerheblich gemindert habe. Allerdings sei im Interesse des Schulfriedens von einem Schüler grundsätzlich zu erwarten, dass er körperliche Auseinandersetzungen, auch wenn diese von anderen ausgingen, meide und sich solchen Situationen entziehe, soweit ihm das möglich sei. Inwieweit hiernach ein dem Schüler vorwerfbares Fehlverhalten verblieben sei, bedürfe keiner näheren Prüfung. Denn es lägen jedenfalls keine tatsächlichen Erkenntnisse dafür vor, dass die Schwelle zu einem gravierenden Fehlverhalten, bei dem eine Entlassung von der Schule ohne vorherige Androhung verhältnismäßig sein könne, im vorliegenden Fall erreicht gewesen sei. Zudem sei die Ordnungsmaßnahme ermessensfehlerhaft, weil sie auf einer in wesentlicher Hinsicht unvollständigen Tatsachengrundlage beruhe. Die Schule habe den tatsächlichen Hergang der Schlägerei nicht vollständig berücksichtigt und dem entlassenen Schüler ein Mitverschulden an deren Zustandekommen vorgehalten, ohne konkrete tatsächliche Erkenntnisse hierfür zu benennen. Damit habe die Schule gegen ihre Pflicht verstoßen, den Sachverhalt umfassend und zeitnah aufzuklären und ihre Ermittlungen sorgfältig zu dokumentieren.
Der Beschluss ist unanfechtbar.