Strafrechtliches Urteil aus Italien darf in Deutschland derzeit nicht vollstreckt werden

Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 14. Juli 2020 zum Aktenzeichen 2 BvR 852/20 entschieden, dass Entscheidungen des Landgerichts Essen und des Oberlandesgerichts Hamm im Rahmen eines Exequaturverfahrens, mit denen die Vollstreckung einer in Italien verhängten Freiheitsstrafe für zulässig erklärt wurde, vorerst nicht vollstreckt werden dürfen, bis das Bundesverfassungsgericht über die Verfassungsbeschwerde entschieden hat.

Das Schwurgericht zweiter Instanz Turin – 2. Senat – hatte den Beschwerdeführer wegen fahrlässiger Brandstiftung in Tateinheit mit fahrlässiger Tötung und vorsätzlicher Entfernung oder Unterlassung der Aufstellung von Sicherheitseinrichtungen gegen Arbeitsunfälle gemäß Art. 437 Abs. 1, Art. 449 und Art. 589 des italienischen Strafgesetzbuchs mit Urteil vom 29. Mai 2015, Urteil Nr. 5/15, rechtskräftig seit dem 13. Mai 2016, zu einer Freiheitsstrafe von neun Jahren und acht Monaten verurteilt, die im Exequaturverfahren in eine fünfjährige Freiheitsstrafe umgewandelt wurde.

Der anwaltlich vertretene Beschwerdeführer rügt, dass im italienischen Verfahren gegen das Schuldprinzip verstoßen worden sei, weil die Verurteilung auf den Nachweis der konkret-individuellen Fahrlässigkeit verzichtet habe. Daneben sei der Grundsatz des fairen Verfahrens und des rechtlichen Gehörs verletzt worden, weil während des Verfahrens bestimmte Unterlagen nicht ins Deutsche übersetzt worden seien. Er sieht sich dadurch in seinen Grundrechten aus Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG, Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 6 Abs. 3 EMRK, Art. 103 Abs. 1 GG sowie Art. 48 Abs. 2 und Art. 49 Abs. 1 GRCh verletzt.

Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsaktes vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde erwiese sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Bei offenem Ausgang des Verfassungsbeschwerdeverfahrens muss das Bundesverfassungsgericht die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegen die Nachteile abwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde der Erfolg aber zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 88, 25 <35>; 89, 109 <110 f.>; stRspr).

Gemessen hieran ist dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung stattzugeben.

Die Verfassungsbeschwerde ist weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Die Komplexität und der erhebliche Umfang der ihr zugrundeliegenden Entscheidungen verursachen einen Prüfungsbedarf, dem bis zum beabsichtigten Beginn der Strafvollstreckung nicht in vollem Umfang Rechnung getragen werden kann.

Infolge des offenen Ausgangs des Verfassungsbeschwerdeverfahrens ist eine Folgenabwägung durchzuführen, die zugunsten des Beschwerdeführers ausgeht.

Unterbliebe die einstweilige Anordnung, erweist sich später die Verfassungsbeschwerde jedoch als begründet, kann in der Zwischenzeit die Freiheitsstrafe aus dem landgerichtlichen Beschluss vollstreckt werden. Damit wäre ein erheblicher, nicht wiedergutzumachender Eingriff in das Recht auf Freiheit der Person aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG (vgl. BVerfGE 22, 178 <180>) verbunden, dem unter den grundrechtlich verbürgten Rechten besonderes Gewicht zukommt (vgl. BVerfGE 65, 317 <322>).

Erginge demgegenüber eine einstweilige Anordnung, obwohl der Verfassungsbeschwerde in der Hauptsache der Erfolg letztlich versagt bliebe, so wiegen die damit verbundenen Nachteile weniger schwer. In diesem Fall kann zwar die oben genannte Freiheitsstrafe vorübergehend nicht vollstreckt werden. Ein erheblicher Nachteil für das Wohl der Allgemeinheit ist jedoch nicht zu besorgen, da dem öffentlichen Interesse an der Vollstreckung der Freiheitsstrafe auch nach einer Zurückweisung der Verfassungsbeschwerde – wenn auch zeitlich verzögert – noch Rechnung getragen werden kann.