Das Gericht der Europäischen Union hat am 17.07.2020 zum Aktenzeichen T-715/19 entschieden, dass der Europäische Rat es nicht rechtswidrig unterlassen hat, den tschechischen Premierminister wegen eines behaupteten Interessenkonflikts von den Tagungen des Europäischen Rates über die Annahme des mehrjährigen Finanzrahmens der Europäischen Union 2021/2027 auszuschließen.
Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 98/2020 vom 17.07.2020 ergibt sich:
Nur die Mitgliedstaaten seien dafür zuständig, zu bestimmen, wer – der Staats- oder der Regierungschef – sie bei den Tagungen des Europäischen Rates vertreten soll, und die Gründe festzulegen, die dazu führen könnten, dass eine dieser Personen sie bei den Tagungen des Europäischen Rates nicht vertreten könne, so das EuG.
Mit Schreiben vom 05.06.2019 hatte Herr W., ein Mitglied des Senát Parlamentu České republiky (Senat der Tschechischen Republik), den Europäischen Rat aufgefordert, den Premierminister der Tschechischen Republik von der Tagung des Europäischen Rates vom 20.06.2019 und zukünftigen Tagungen zu den Verhandlungen über den mehrjährigen Finanzrahmen 2021/2027 der Europäischen Union auszuschließen. Dieses Begehren stützte er auf einen angeblichen Interessenkonflikt des tschechischen Premierministers, der sich aus dessen persönlichen und familiären Interessen an Unternehmen des im Agrar- und Lebensmittelbereich tätigen Agrofert-Konzerns ergebe, da diese Unternehmen Begünstigte von Subventionen aus dem Haushalt der Union seien. In seiner Antwort vom 24.06.2019 stellte der Rat klar, dass er zu den Behauptungen von Herrn W. in der Sache nicht Stellung beziehe, erklärte aber, dass der EU-Vertrag (Art. 15 Abs. 2) die Zusammensetzung des Europäischen Rates unantastbar festlege, indem er vorsehe, dass er „sich … aus den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten sowie dem Präsidenten des Europäischen Rates und dem Präsidenten der Europäischen Kommission [zusammensetzt]“. Daher sah sich der Europäische Rat nicht in der Lage, diese Zusammensetzung zu ändern, da der EU-Vertrag die Möglichkeit einer solchen Änderung nicht vorsehe. Ferner hob der Europäische Rat hervor, dass die Frage, welche Person – der Staats- oder der Regierungschef – jeden einzelnen Mitgliedstaat der Union vertreten solle, allein Sache des nationalen Verfassungsrechts sei. Somit stehe es nicht im Ermessen des Europäischen Rates, zu entscheiden, wer einen Mitgliedstaat in diesem Organ vertreten solle, und auch nicht, wer – der Staats- oder der Regierungschef – zu seinen verschiedenen Tagungen eingeladen werden solle. Infolgedessen stellte der Europäische Rat fest, dass er den tschechischen Premierminister nicht von den von Herrn W. angesprochenen Tagungen ausschließen könne.
Da er mit diesen Erklärungen nicht zufrieden war, erhob Herr W. vor dem EuG Klage nach Art. 265 AEUV gegen den Europäischen Rat mit dem Antrag, dessen Untätigkeit festzustellen, da dieser es unter Verstoß gegen die Vorschriften der Union zum Schutz der finanziellen Interessen der Union und zur Vermeidung jedweden Interessenkonflikts bei der Verwaltung der Mittel der Union versäumt habe, entsprechend seiner Aufforderung tätig zu werden.
Das EuG hat die Klage abgewiesen.
Das EuG hat zur Zulässigkeit der Klage darauf hingewiesen, dass eine natürliche oder juristische Person, wenn sie feststellen lassen möchte, dass ein Unionsorgan es rechtswidrig unterlassen hat, einen Rechtsakt zu erlassen, entweder dartun muss, dass sie, wenn dieser Rechtsakt erlassen worden wäre, dessen Empfänger gewesen wäre, oder dass der in Rede stehende Rechtsakt sie unmittelbar und individuell genauso betroffen hätte wie den Empfänger eines solchen Rechtsakts. Zudem müsse eine solche Person ein Rechtsschutzinteresse nachweisen, dessen Vorliegen voraussetze, dass der Rechtsbehelf ihr im Ergebnis einen persönlichen Vorteil verschaffen könne. Jedoch wäre der Rechtsakt, dessen Erlass Herr W. vom Europäischen Rat verlangt habe, wenn er erlassen worden wäre, kein vom Europäischen Rat an ihn gerichteter Rechtsakt gewesen, sondern ein Beschluss, dessen Empfänger der tschechische Premierminister gewesen wäre.
In Bezug auf das Vorbringen von Herrn W., ein sich aus seiner Eigenschaft als Mitglied des Senats der Tschechischen Republik ergebendes Allgemeininteresse könne ihm ein Rechtsschutzinteresse für die diese Untätigkeitsklage verschaffen, sei festzustellen, dass Herr W. nach der Rechtsprechung wie jede andere natürliche Person ein persönliches Rechtsschutzinteresse vor dem Unionsrichter nachweisen müsse. Da er ein solches persönliches Interesse an der begehrten Feststellung der Untätigkeit nicht nachgewiesen habe, sei die Voraussetzung seiner unmittelbaren und individuellen Betroffenheit durch die Maßnahmen, die er vom Europäischen Rat verlange, in jedem Fall nicht erfüllt.
Zudem stelle die unter Angabe von Gründen erklärte Weigerung eines Unionsorgans, entsprechend einer solchen Aufforderung zum Erlass einer Maßnahme tätig zu werden, zum einen eine Stellungnahme, die jedwede Untätigkeit dieses Organs in Bezug auf diese Aufforderung zum Tätigwerden beende, und zum anderen eine vor dem Unionsrichter im Rahmen einer nach Art. 263 AEUV erhobenen Nichtigkeitsklage anfechtbare Handlung dar. Genau dies war vorliegend der Fall, und insoweit stelle die Antwort des Europäischen Rates vom 24.06.2019 eine Entscheidung dar, mit der ein Tätigwerden abgelehnt wurde. Herr W. habe jedoch, obwohl er die Möglichkeit dazu hatte, diese Entscheidung nicht gemäß Art. 263 AEUV vor dem Gericht angefochten.
Unter diesen Umständen hat das EuG der vom Europäischen Rat erhobenen Einrede der Unzulässigkeit stattgegeben und entschieden, dass die Untätigkeitsklage von Herrn W. unzulässig ist.
Was den in Rede stehenden Antrag in der Sache betrifft, hat das EuG jedenfalls festgestellt, dass der Europäische Rat über kein Ermessen verfügt, wenn er die Staats- oder Regierungschefs der Mitgliedstaaten zu seinen Tagungen einlädt. Da es keine Klarstellung hierzu im EU-Vertrag gebe, falle es in die Verantwortung der Mitgliedstaaten, die nationalen Maßnahmen, einschließlich der verfassungsrechtlichen, zu erlassen, anhand deren bestimmt werden könne, ob sie bei Tagungen des Europäischen Rates von ihrem Staats- oder ihrem Regierungschef vertreten werden sollen. Die Mitgliedstaaten müssten auch festlegen, ob es gegebenenfalls Gründe gebe, aus denen einer von beiden an der Vertretung seines jeweiligen Mitgliedstaats im Europäischen Rat verhindert sei.
Folglich sei unabhängig von der Frage, ob sich der tschechische Premierminister in einer Eigenschaft als Vertreter der Tschechischen Republik im Europäischen Rat in einem Interessenkonflikt befinde, der Europäische Rat im vorliegenden Fall in Anbetracht des Wortlauts von Art. 15 Abs. 2 EUV zu Recht davon ausgegangen, dass er nicht in der Lage war, ihn, wie von Herrn W. gefordert, von seinen Tagungen auszuschließen.
Daher sei die Untätigkeitsklage von Herrn W. nicht nur unzulässig, sondern jedenfalls auch offensichtlich unbegründet.
In Bezug auf die Behauptungen, es bestehe ein Interessenkonflikt des tschechischen Premierministers, hat das EuG darauf hingewiesen, dass die Ordnungsmäßigkeit der Zahlungen, die von der Union im Rahmen der in ihrem Namen und für ihre Rechnung in den Mitgliedstaaten verteilten Mittel getätigt werden, unter die auf diese Mittel anwendbaren Unionsvorschriften und unter die nach diesen vorgesehenen Voraussetzungen fällt, wie z.B. die, die Gegenstand der beim EuG anhängigen Rechtssache T-76/20 („Tschechische Republik/Kommission“) sind.