Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 04. Juni 2020 zum Aktenzeichen 2 BvR 343/19 entschieden, dass die abgelehnte Aussetzung des Vollzugs einer Restfreiheitsstrafe zur Bewährung nach § 57 Abs. 1 StGB verfassungswidrig ist.
Der Beschwerdeführer ist vielfach wegen Betruges, Computerbetruges und Urkundenfälschung vorbestraft. Er befindet sich seit dem 14. Oktober 2009 in Haft. Zuletzt verbüßte er eine Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten wegen gewerbsmäßigen Betruges beziehungsweise gewerbsmäßigen Computerbetruges und Urkundenfälschung in über hundert Fällen aus einem Urteil des Amtsgerichts Aschaffenburg vom 10. August 2010. Seit dem 22. Juni 2019 wird der Rest der Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und zehn Monaten aus einem Urteil des Landgerichts Arnsberg vom 18. Dezember 2012 wegen Betruges in zwei Fällen vollstreckt. Das voraussichtliche Strafende ist für den 30. September 2020 notiert.
Mit Schriftsatz vom 5. September 2018 beantragte der Beschwerdeführer, die Strafreste der Urteile des Amtsgerichts Aschaffenburg vom 10. August 2010 und des Landgerichts Arnsberg vom 18. Dezember 2012 zur Bewährung auszusetzen.
Das Landgericht Berlin lehnte – nach Anhörung des Beschwerdeführers – mit Beschluss vom 26. November 2018 den Antrag auf Strafaussetzung ab, da dies unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit nicht verantwortet werden könne (§ 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB). Dem Beschwerdeführer könne derzeit keine günstige Prognose gestellt werden. Angesichts der Dichte der von ihm seit 2004 begangenen Straftaten sei bei ihm ein kritischer Maßstab an die Wahrscheinlichkeit des Wohlverhaltens anzulegen. Das gelte umso mehr, als ihn auch die Strafvollstreckung nicht von der Begehung weiterer Straftaten in der Haft abgehalten habe. Eine günstige Prognose setze in diesem Fall Tatsachen voraus, die es überwiegend wahrscheinlich machten, dass er die kritische Probe in Freiheit wirklich bestehen werde. Zwar sei dem Beschwerdeführer zugute zu halten, dass er seit seiner Verlegung in die Justizvollzugsanstalt Tegel intensive therapeutische Gespräche geführt habe, die zu einer Aufarbeitung seiner Straftaten geführt haben mögen. Für seine Führung in Freiheit ließen sich daraus aber noch keine tragfähigen Schlüsse ziehen. Positiv zu bewerten sei, dass sein Vollzugsverlauf kooperativ und unauffällig sei. Auch sei er aktiv um einen Ausgleich der Tatfolgen bemüht. Im Rahmen der vorzunehmenden Gesamtbetrachtung nach § 57 Abs. 1 Satz 2 StGB gingen aber Zweifel über das Prognoseurteil zulasten des Verurteilten. Dies gelte insbesondere vor dem Hintergrund, dass der Beschwerdeführer bislang noch nicht zu Lockerungen zugelassen worden sei. Ohne weitere Erprobung (Lockerungen oder sogar Langzeiturlaub), die nunmehr sorgfältig geprüft werden solle, sei es nicht möglich, eine positive Prognose zu begründen.
Der Beschwerdeführer legte gegen den Beschluss des Landgerichts Berlin am 5. Dezember 2018 sofortige Beschwerde ein. Darin monierte er, das Landgericht habe sich mit seinem Vorbringen allenfalls in Ansätzen beschäftigt, keine ausreichende Gesamtabwägung vorgenommen und den Sachverhalt nicht genügend aufgeklärt. Insbesondere sei der Vortrag zur Tataufarbeitung und Entwicklung von Gegenstrategien ignoriert worden. Ferner sei das Gericht dadurch seiner Aufklärungspflicht nicht nachgekommen, dass es weder die Anstaltspsychologin noch den früheren Sozialarbeiter angehört habe. Außerdem wandte sich der Beschwerdeführer dagegen, dass das Landgericht entscheidend darauf abgestellt habe, dass der Strafvollzug noch nicht gelockert worden sei. Dabei habe es die geplante Vollzugslockerung nicht berücksichtigt und die Gründe für deren Nichtdurchführung nicht weiter aufgeklärt. Außerdem hindere die fehlende Absolvierung der Lockerungsmaßnahmen die Bewährungsaussetzung nicht. Schließlich habe das Landgericht außer Betracht gelassen, dass der Beschwerdeführer sich in einer Haftsituation befinde, in der er ständigen Anreizen ausgesetzt sei, die in der Vergangenheit zu delinquentem Handeln geführt hätten.
Mit Beschluss vom 17. Januar 2019 verwarf das Kammergericht die sofortige Beschwerde. Dabei schloss sich das Gericht der Begründung des Landgerichts Berlin an und ergänzte nur mit Blick auf das Beschwerdevorbringen vom 21. Dezember 2018 wie folgt: Der Beschwerdeführer habe die grundsätzliche Vermutung, dass der Strafvollzug den Straftäter beeindrucke und von weiteren Straftaten abhalten könne, durch die im Vollzug begangenen Straftaten in den Jahren 2013, 2014 und 2016 widerlegt. Durch sie werde auch zugleich deutlich, dass die von ihm begangenen Straftaten Ausdruck einer „ausgeprägten betrügerischen Persönlichkeit“ seien. Angesichts der erst jungen positiven Entwicklung seit der Überführung in die Justizvollzugsanstalt Tegel und vor allem wegen des früheren Vollzugsverlaufs, der sogar durch die Begehung von mehreren Straftaten geprägt gewesen sei, sei es ohne Weiteres nachvollziehbar, dass die Vollzugsbehörde wegen bestehender Missbrauchsbefürchtungen mit dem Vollzugs- und Eingliederungsplan vom 21. Juni 2018 noch keine selbstständigen Vollzugslockerungen gewährt habe. Die günstig verlaufende Behandlung durch die Psychologin sei bei der Vollzugsplanung berücksichtigt worden. Durchgeführten Tests sei von vornherein nur Indiz-Charakter beizumessen. Dass die für den 12. Oktober 2018 vorgesehene Vollzugsplanungskonferenz noch nicht stattgefunden habe, sei in der Tat kritikwürdig. Dies ändere aber nichts daran, dass eine auch aus Sicht des Kammergerichts jedenfalls erforderliche Erprobung noch nicht stattgefunden habe, zumal auch eine Gewährung von Lockerungen im Oktober 2018 und deren ordnungsgemäßer Verlauf noch keine hinreichend sichere Tatsachengrundlage für eine verantwortbare Strafaussetzung hätte schaffen können.
Gegen die Entscheidung des Kammergerichts legte der Beschwerdeführer mit Schriftsatz vom 30. Januar 2019 eine Anhörungsrüge ein. Darin machte er geltend, dass das Kammergericht die Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt Tegel vom 19. Oktober 2018 nicht in seine Entscheidungsgründe einbezogen und die komplette Entschädigung der Tatopfer nicht berücksichtigt habe. Ferner gehe das Gericht fälschlicherweise davon aus, dass die psychologische Behandlung des Beschwerdeführers noch andauere. Darüber hinaus habe das Kammergericht sich nicht mit dem Vorbringen des Beschwerdeführers auseinandergesetzt, dass er nach den Angaben der Anstaltspsychologin durch die Unterbringung in Haus II der Justizvollzugsanstalt Tegel dauerhaft und ständig in Situationen gebracht werde, die in früheren Zeiten letztlich Auslöser für sein delinquentes Verhalten gewesen seien. Schließlich beanstandete der Beschwerdeführer die trotz der entsprechenden Anträge nicht erfolgte persönliche Anhörung beziehungsweise Einholung von Stellungnahmen der Anstaltspsychologin und seines früheren Sozialarbeiters.
Das Kammergericht wies mit Beschluss vom 20. Februar 2019 die Anhörungsrüge als unzulässig zurück. Der Beschwerdeführer habe keine entscheidungserheblichen Tatsachen vorgetragen, die unberücksichtigt geblieben seien oder zu denen er nicht in ausreichender Weise angehört worden sei. Das Gericht habe sich insbesondere mit dem Inhalt der Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt vom 19. Oktober 2018 auseinandergesetzt und die Bemühung des Beschwerdeführers um den Strafausgleich hinreichend berücksichtigt. Auch wenn die Behandlung – wie der Beschwerdeführer meine – abgeschlossen sei, sei unbedingt eine Erprobung des Beschwerdeführers durch Lockerungen erforderlich.
Die Aussetzungsentscheidungen des Landgerichts Berlin und des Kammergerichts nach § 57 Abs. 1 StGB sind mit dem Gebot der bestmöglichen Sachaufklärung aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG und Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG nicht vereinbar.
Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleistet jedermann „die Freiheit der Person“ und nimmt einen hohen Rang unter den Grundrechten ein. Das kommt darin zum Ausdruck, dass die Norm die Freiheit der Person als „unverletzlich“ bezeichnet, Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG ihre Beschränkung nur aufgrund eines förmlichen Gesetzes zulässt und Art. 104 Abs. 2 bis 4 GG besondere Verfahrensgarantien für ihre Beschränkung statuieren (vgl. BVerfGE 35, 185 <190>; 109, 133 <157>; 128, 326 <372>).
Das Bundesverfassungsgericht prüft gerichtliche Entscheidungen nur in einem eingeschränkten Umfang. Bei der nach § 57 Abs. 1 StGB zu treffenden Entscheidung handelt es sich um die Auslegung und Anwendung von Gesetzesrecht, die Sache der Strafgerichte ist. Sie wird vom Bundesverfassungsgericht daher nur daraufhin nachgeprüft, ob das Strafvollstreckungsgericht in objektiv unvertretbarer Weise vorgegangen ist oder die verfassungsrechtliche Bedeutung und Tragweite des durch Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG und Art. 104 Abs. 1 GG verbürgten Freiheitsrechts verkannt hat (vgl. BVerfGE 18, 85 <92 f., 96>; 72, 105 <113 ff.>; BVerfG, Beschlüsse der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 3. Dezember 2003 – 2 BvR 1661/03 -, Rn. 5, und vom 22. Oktober 2009 – 2 BvR 2549/08 -, Rn. 29).
Die aus dem Freiheitsrecht abzuleitenden Anforderungen richten sich im Rahmen der Prüfung des § 57 Abs. 1 StGB insbesondere an die Prognoseentscheidung. Für deren tatsächliche Grundlagen gilt von Verfassungs wegen das Gebot bestmöglicher Sachaufklärung aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG und Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG (vgl. BVerfGE 70, 297 <309>). Es verlangt, dass der Richter die Grundlagen seiner Legalprognose selbstständig bewertet, verbietet mithin, dass er die Bewertung einer anderen Stelle überlässt. Darüber hinaus fordert es vom Richter, dass er sich um eine breite Tatsachenbasis bemüht und sich so ein möglichst umfassendes Bild über die zu beurteilende Person verschafft (vgl. BVerfGE 70, 297 <310 f.>; ferner BVerfG, Beschlüsse der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 3. Dezember 2003 – 2 BvR 1661/03 -, Rn. 6, vom 22. Oktober 2009 – 2 BvR 2549/08 -, Rn. 30, und vom 18. Oktober 2011 – 2 BvR 259/11 -, Rn. 6).
Dabei haben die Anforderungen an die Sachaufklärung sowohl dem Sicherheitsaspekt als auch dem hohen Wert der Freiheit des Verurteilten Rechnung zu tragen. Sie steigen mit zunehmender Dauer des Freiheitsentzugs, mit der auch die verfassungsgerichtliche Kontrolldichte und die mit der Sachaufklärungspflicht korrespondierende Begründungspflicht der Gerichte zunimmt (vgl. BVerfGE 117, 71 <102-104, 109>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 30. April 2009 – 2 BvR 2009/08 -, Rn. 27). Das Vollstreckungsgericht hat sich daher auch von Verfassungs wegen um eine möglichst breite Tatsachenbasis für seine Prognoseentscheidung zu bemühen und alle prognoserelevanten Umstände besonders sorgfältig zu klären (vgl. BVerfGE 109, 133 <165>; 117, 71 <107>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 30. April 2009 – 2 BvR 2009/08 -, Rn. 27 m.w.N.).
Für die im Aussetzungsverfahren zu treffende Prognoseentscheidung haben Vollzugslockerungen besondere Bedeutung, da sich so für den Richter die Basis der prognostischen Beurteilung erweitert und stabilisiert. Gerade das Verhalten anlässlich solcher Belastungserprobungen stellt einen geeigneten Indikator für die künftige Legalbewährung dar (vgl. BVerfGE 109, 133 <165 f.>; 117, 71 <119>). Der Gefangene erhält Gelegenheit, sich innerhalb des vorgegebenen Rahmens zu bewähren; sein hierbei an den Tag gelegtes Verhalten ist „Verhalten im Vollzug“, das der Richter bei der Prognoseentscheidung zu berücksichtigen hat (vgl. § 57 Abs. 1 Satz 2 StGB). Darüber hinaus machen es Vollzugslockerungen dem Gefangenen – insbesondere bei langem Freiheitsentzug – möglich, wenigstens ansatzweise Orientierung für ein normales Leben zu suchen und zu finden. Je nach dem Erfolg dieser Orientierungssuche stellen sich seine Lebensverhältnisse und die von einer Aussetzung der Strafvollstreckung zu erwartenden Wirkungen günstiger oder ungünstiger dar. Folglich werden die Chancen, dass das Gericht, das über die Aussetzung zu entscheiden hat, zu einer zutreffenden Prognoseentscheidung gelangt, durch vorherige Gewährung von Vollzugslockerungen verbessert und umgekehrt durch deren Versagung verschlechtert (vgl. BVerfG, Beschlüsse der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 22. März 1998 – 2 BvR 77/97 – Rn. 44, und vom 17. Juni 1999 – 2 BvR 867/99 -, Rn. 24; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 30. April 2009 – 2 BvR 2009/08 -, Rn. 30).
Daraus folgen besondere Prüfungspflichten der Gerichte im Aussetzungsverfahren. Will das Gericht die Ablehnung der Aussetzung auch auf die fehlende Erprobung des Gefangenen in Lockerung stützen, darf es sich nicht mit dem Umstand einer – von der Vollzugsbehörde verantworteten – begrenzten Tatsachengrundlage abfinden. Ungeachtet des Standes eines möglichen Verfahrens über einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach § 109 Abs. 1 StVollzG hat das Gericht von Verfassungs wegen selbstständig zu klären, ob die Begrenzung der Prognosebasis zu rechtfertigen ist, weil die Versagung von Lockerungen auf einem hinreichenden Grund beruhte. Kommt das Gericht dieser Prüfungspflicht nicht oder nicht hinreichend nach, entspricht die auf fehlende Erprobung gestützte Ablehnung der bedingten Entlassung nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen (vgl. BVerfGE 22, 311 <318 f.>; 86, 288 <328>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 30. April 2009 – 2 BvR 2009/08 -, Rn. 32, 35, 52 m.w.N.).
Nach diesen Maßstäben verletzen die angegriffenen Beschlüsse des Landgerichts Berlin vom 26. November 2018 und des Kammergerichts vom 17. Januar 2019 den Beschwerdeführer in seinem Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG. Durch den Verzicht auf die Anhörung der Anstaltspsychologin K. und des früheren Sozialarbeiters F. der Justizvollzugsanstalt Tegel haben die Gerichte gegen das Gebot bestmöglicher Sachaufklärung verstoßen (aa). Demgegenüber kann zur Begründung der Ablehnung der Aussetzung des Strafrests zur Bewährung auch nicht auf die fehlende Durchführung von Lockerungsmaßnahmen verwiesen werden (bb).
Aus Sicht der Gerichte steht der Strafaussetzung zur Bewährung die negative Legalprognose des Beschwerdeführers entgegen (1). Diese ist jedoch nicht auf eine möglichst breite Tatsachengrundlage gestützt (2).
Beide Gerichte verweisen in den angegriffenen Beschlüssen darauf, dass es nach der Verlegung des Beschwerdeführers in die Justizvollzugsanstalt Tegel am 8. August 2017 zu therapeutischen Gesprächen kam. Dabei stellt das Landgericht fest, dass es sich um intensive therapeutische Gespräche gehandelt habe, die beim Beschwerdeführer zu einer Aufarbeitung seiner Straftaten geführt haben mögen. Auch das Kammergericht attestiert dem Beschwerdeführer nach der Überführung in die Justizvollzugsanstalt Tegel eine „positive Entwicklung“ und verweist auf die Stellungnahme der Berliner Aids-Hilfe e.V., wonach es beim Beschwerdeführer zu einer „grundlegenden psychischen Stabilisierung“, einer „Verbesserung der eigenen Reflektion auf Delinquenz“ und einer „Erhöhung der Frustrationstoleranz“ gekommen sei.
Gleichwohl gehen beide Gerichte davon aus, dass dem Beschwerdeführer keine positive Legalprognose gestellt werden könne und daher eine Strafaussetzung zur Bewährung ausscheide.
Das Landgericht verweist dabei auf die seit 2004 begangenen Straftaten und den Umstand, dass auch die Strafvollstreckung den Beschwerdeführer in den Jahren 2013, 2014 und 2016 nicht von der Begehung weiterer Straftaten abgehalten habe. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass der Beschwerdeführer noch nicht zu Lockerungen zugelassen worden sei, ließen sich aus der möglichen Aufarbeitung der Straftaten keine tragfähigen Schlüsse für seine Führung in der Freiheit ziehen. Verbleibende Unsicherheiten gingen zulasten des Beschwerdeführers.
Auch das Kammergericht nimmt auf die früheren und insbesondere die während der Strafvollstreckung begangenen Straftaten Bezug und sieht darin den Ausdruck einer „ausgeprägten betrügerischen Persönlichkeit“ des Beschwerdeführers. Vor allem wegen des Vollzugsverlaufs sei es ohne Weiteres nachvollziehbar, dass die Vollzugsbehörde auch angesichts der erst jungen Entwicklung keine selbstständigen Vollzugslockerungen gewährt habe. Da aber die jedenfalls erforderliche Erprobung noch nicht stattgefunden habe, fehle es an einer hinreichend sicheren Tatsachengrundlage für eine verantwortbare Strafaussetzung.
Damit haben die Gerichte jedoch dem verfassungsrechtlichen Gebot, ihre Prognoseentscheidung auf eine möglichst breite Tatsachengrundlage zu stellen und alle prognoserelevanten Umstände sorgfältig zu klären (vgl. BVerfGE 117, 71 <107>; 109, 133 <165>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 30. April 2009 – 2 BvR 2009/08 -, Rn. 27 m.w.N.), nicht hinreichend Rechnung getragen. Vielmehr hätte es hierzu aufgrund der konkreten Umstände des vorliegenden Einzelfalls einer Vernehmung der Anstaltspsychologin K. und des früheren Sozialarbeiters F. der Justizvollzugsanstalt Tegel bedurft.
Dabei ist es schon für sich genommen naheliegend, dass die Vernehmung der Anstaltspsychologin und des für den Beschwerdeführer zuständigen Sozialarbeiters wichtige Anhaltspunkte für die Legalprognose ergeben und zu einem umfassenden Bild seiner Persönlichkeit beitragen können (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 30. April 2009 – 2 BvR 2009/08 -, Rn. 33). Hinzu kommt im vorliegenden Fall, dass nach der Verlegung des Beschwerdeführers in die Justizvollzugsanstalt Tegel unstreitig ein intensiver therapeutischer Prozess in Gang gebracht werden konnte. Die Vernehmung der Anstaltspsychologin und des Sozialarbeiters hätten daher weiteren Aufschluss über den Verlauf und das Ergebnis dieses Prozesses und den daraus sich ergebenden Rückwirkungen auf das Risiko der Begehung künftiger Straftaten durch den Beschwerdeführer geben können.
Dabei hätte auch dem Umstand Rechnung getragen werden können, dass der Beschwerdeführer sämtliche Straftaten während der Vollstreckung, die zu seinen Lasten in die Legalprognose eingestellt wurden, noch vor der Verlegung in die Justizvollzugsanstalt Tegel im August 2017 begangen hat. Es erscheint zumindest nicht ausgeschlossen, dass die Gerichte durch die Stellungnahmen der Anstaltspsychologin und des Sozialarbeiters weitere Erkenntnisse hätten gewinnen können, ob die aufgrund der früheren Straftaten dem Beschwerdeführer attestierte „ausgeprägte betrügerische Persönlichkeit“ fortbesteht oder ob sich insoweit angesichts des Aufarbeitungsprozesses prognoserelevante Veränderungen in der Persönlichkeit des Beschwerdeführers ergeben haben. Der Verweis insbesondere auf die während der Strafvollstreckung begangenen Taten genügt daher zur Begründung der negativen Legalprognose nicht. Angesichts der nachfolgenden, unstreitig positiven Entwicklung hätte es den Gerichten oblegen, nachzufragen, ob ein Rückfall des Beschwerdeführers in frühere Verhaltensmuster weiterhin zu erwarten ist oder ob dem eine nachhaltig positive Veränderung seiner Persönlichkeit entgegensteht.
Demgegenüber erscheint der bloße Hinweis des Kammergerichts, das Votum der Anstaltspsychologin sei bei der Vollzugsplanung berücksichtigt worden, unzureichend. Dies entbindet die Gerichte nicht von der Notwendigkeit einer eigenständigen Legalprognose auf der Basis einer möglichst breit ermittelten Tatsachengrundlage.
Schließlich hätte eine Vernehmung der Anstaltspsychologin auch die Möglichkeit einer Auseinandersetzung mit dem Ergebnis des durch die Vollzugsanstalt im November 2018 durchgeführten Tests, der eine geringe Rückfallwahrscheinlichkeit des Beschwerdeführers auswies, eröffnet. Zwar mag dem – wie das Kammergericht ausführt – nur Indizcharakter zukommen. Dies schließt eine Berücksichtigung im Rahmen der Legalprognose aber nicht aus.
Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Umstand, dass eine Lockerungserprobung des Beschwerdeführers im Zeitpunkt der angegriffenen Beschlüsse noch nicht stattgefunden hatte. Zwar sehen beide Gerichte diese als unverzichtbare Voraussetzung einer Bewährungsaussetzung an. Auch insoweit haben sie aber dem Gebot bestmöglicher Sachverhaltsaufklärung unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des vorliegenden Einzelfalls nicht hinreichend Rechnung getragen.
Es erscheint schon zweifelhaft, ob die Gerichte sich in den angegriffenen Beschlüssen hinreichend damit auseinandergesetzt haben, dass die unterbliebene Lockerungserprobung des Beschwerdeführers auf Umständen beruht, die dieser nicht zu vertreten hat, da die für Oktober 2018 vorgesehene Vollzugsplankonferenz, in der über die Anordnung von Lockerungen entschieden werden sollte, wegen der Erkrankung eines Mitarbeiters nicht stattfand. Das Landgericht fordert insoweit lediglich eine sorgfältige Überprüfung einer weiteren Erprobung des Beschwerdeführers durch Lockerungen oder eine Langzeitbeurlaubung. Das Kammergericht stellt zwar fest, dass es kritikwürdig sei, wenn die im Oktober 2018 vorgesehene Überprüfung der Vollzugsplanung nicht stattgefunden habe, und fordert die umgehende Durchführung einer Vollzugsplankonferenz einschließlich der damit einhergehenden Prüfung von Lockerungen. Ob angesichts dessen die fehlende Erprobung bei der Aussetzungsentscheidung überhaupt zum Nachteil des Beschwerdeführers berücksichtigt werden durfte, erörtert das Kammergericht aber nicht. Stattdessen verweist es darauf, dass auch eine Gewährung von Lockerungen im Oktober 2018 und deren ordnungsgemäßer Verlauf noch keine hinreichend sichere Tatsachengrundlage für eine verantwortbare Strafaussetzung hätte schaffen können.
Dabei bleibt aber jedenfalls außer Betracht, dass nach dem Vortrag des Beschwerdeführers die Anstaltspsychologin hätte darlegen können, dass er während des Vollzugs in der Justizvollzugsanstalt Tegel täglich Situationen ausgesetzt gewesen sei, die zu einem früheren Zeitpunkt zu kriminellem Verhalten geführt hätten, und er aufgrund der erfolgreichen Behandlung nunmehr in der Lage sei, diesen Anreizen zu kriminellem Handeln zu widerstehen. Auch insoweit hätte auf eine Vernehmung oder Stellungnahme der Anstaltspsychologin nicht verzichtet werden dürfen. Es erscheint angesichts des unstreitig positiven Verlaufs der Therapiegespräche nach der Verlegung des Beschwerdeführers nicht von vornherein ausgeschlossen, dass die Darstellung des Beschwerdeführers zutrifft. Wäre dies der Fall, käme eine positive Aussetzungsentscheidung auch ohne seine Erprobung in Lockerungsmaßnahmen möglicherweise in Betracht, zumal deren Unterbleiben von ihm nicht zu verantworten ist. Auch insoweit fehlt es daher an der Ausschöpfung der Möglichkeiten zur Klärung aller prognoserelevanten Umstände in der Person des Beschwerdeführers.
Die negative Legalprognose zulasten des Beschwerdeführers beruht folglich auf einem Verstoß gegen das Gebot bestmöglicher Sachaufklärung und verletzt den Beschwerdeführer in seinem Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG.