Bezeichnung als „frecher Jude“ ist Volksverhetzung

11. Juli 2020 -

Das Bundesverfassungsgericht hat am 07.07.2020 zum Aktenzeichen 1 BvR 479/20 entschieden, dass die Verwendung des Begriffs „frecher Juden-Funktionär“ und ein Boykottaufruf gegen eine jüdische Gemeinde nicht vom Recht auf freie Meinungsäußerung gedeckt ist und daher eine Verurteilung wegen Volksverhetzung rechtfertigt.

Aus der Pressemitteilung des BVerfG Nr. 59/2020 vom 10.07.2020 ergibt sich:

Im Vorfeld der bestraften Äußerungen hatte der Westdeutsche Rundfunk darüber berichtet, dass eine nordrheinwestfälische Gemeinde ihr Amtsblatt von einem Verleger herausgeben ließ, dessen Inhaber über einen anderen Verlag auch Schriften mit rechtsradikalem Hintergrund verbreite. Der Vorsitzende einer jüdischen Gemeinde in der Region hatte deshalb gefordert, dass die Gemeinde ihr Amtsblatt in einem anderen Verlag herausgeben solle. Daraufhin veröffentlichte der Beschwerdeführer, der damalige Vorsitzende eines Ortsverbands der Partei „Die Rechte“, auf der von ihm verantworteten Internetseite der Partei einen Artikel, in dem er zunächst allgemein den Versuch, „Dissidenten … mundtot zu machen“ kritisiert. Das sei nun auch im Fall eines „politischen nonkonformen Verlegers“ zu beobachten, der auch ein Buch „über vorbildliche und bewährte Männer der Waffen-SS“ verlege. „Politisch korrekten Sittenwächtern“ in den Medien, stoße das „sauer auf“. „Noch dreister gebärde sich [Name des Betroffenen], Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde H., wohnhaft [Wohnort des Betroffenen].“ „Selbstgefällig“ fordere „der freche Juden-Funktionär die Stadt dazu auf, umgehend Konsequenzen zu ziehen.“ Angesichts der „massiven Hetzkampagne von Medien, Linken und Jüdischer Gemeinde“ sei „jegliche Kooperation mit der Jüdischen Gemeinde H. unverzüglich einzustellen“. Die Partei Die Rechte würde „den Einfluss jüdischer Lobbyorganisationen auf die deutsche Politik in allerkürzester Zeit auf genau Null reduzieren [… und] sämtliche staatliche Unterstützung für jüdische Gemeinden streichen und das Geld für das Gemeinwohl einsetzen.“
Wegen dieser Äußerungen verurteilten die Strafgerichte den mehrfach einschlägig vorbestraften Beschwerdeführer wegen Volksverhetzung und Beleidigung zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten ohne Bewährung.

Das BVerfG hat die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.

Das BVerfG bekräftigt mit dem Beschluss zum einen, dass die in der Wunsiedel-Entscheidung des BVerfG anerkannte Ausnahme vom Allgemeinheitserfordernis des Art. 5 Abs. 2 GG die inhaltlichen Anforderungen an Beschränkungen der Meinungsfreiheit nicht aufhebt oder verändert. Beschränkungen der Meinungsfreiheit dürften – auch wenn sie in Bezug zu nationalsozialistischem Gedankengut stehen – nicht auf den rein geistigen Gehalt einer Äußerung zielen. Zum anderen sei aber festzuhalten, dass Einschränkungen nach allgemeinen Grundsätzen rechtlich zulässig seien, wenn Äußerungen die Schwelle zu einer Verletzung oder konkreten Gefährdung von Rechtsgütern überschreiten. Das könne etwa der Fall sein, wenn sie einen gegen bestimmte Personen oder Gruppen gerichteten hetzerischen, die Friedlichkeit der öffentlichen Diskussion verletzenden Charakter aufweisen. Um einen solchen Fall handele es sich hier.

Wesentliche Erwägungen des BVerfG:

Wenngleich die strafgerichtlichen Entscheidungen teilweise ein unpräzises Verständnis der vom BVerfG in seiner Wunsiedel-Entscheidung anerkannten Ausnahme vom Allgemeinheitserfordernis des Art. 5 Abs. 2 GG in Bezug auf die Verherrlichung der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft (§ 130 Abs. 4 StGB) zugrunde gelegt haben, begegnen sie im Ergebnis keinen verfassungsrechtlichen Bedenken.

Diese Ausnahme betrifft – entgegen der Annahme des Landgerichts – allein die formelle Anforderung, dass Gesetze nicht gegen eine bestimmte Meinung gerichtet sein dürfen (Standpunktneutralität). Sie erlaubt dem Gesetzgeber, Strafnormen zu schaffen, die nicht abstrakt formuliert sind, sondern gegen die Verherrlichung der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft gerichtet sind. Eine solche Strafvorschrift, die spezifisch an den Nationalsozialismus anknüpft, steht hier jedoch nicht in Frage, sondern der allgemeine Volksverhetzungstatbestand des § 130 Abs. 1 StGB. Demgegenüber gilt auch für Äußerungen mit Bezug auf den Nationalsozialismus keine allgemeine, auch inhaltliche Ausnahme von den Anforderungen an meinungsbeschränkende Gesetze. Das Grundgesetz kennt kein allgemeines antinationalsozialistisches Grundprinzip, das ein Verbot der Verbreitung rechtsradikalen oder auch nationalsozialistischen Gedankenguts schon in Bezug auf die geistige Wirkung seines Inhalts erlaubte. Vielmehr gewährleistet Art. 5 Abs. 1 und 2 GG die Freiheit der Meinung als Geistesfreiheit unabhängig von der inhaltlichen Bewertung ihrer Richtigkeit oder Gefährlichkeit. Die Meinungsfreiheit verbietet daher den staatlichen Zugriff auf die Gesinnung und lässt Eingriffe erst zu, wenn Meinungsäußerungen die rein geistige Sphäre des Für-richtig-Haltens verlassen und in Rechtsgutverletzungen oder erkennbar in Gefährdungslagen umschlagen. Das ist der Fall, wenn sie den öffentlichen Frieden als Friedlichkeit der öffentlichen Auseinandersetzung gefährden und so den Übergang zu Aggression oder Rechtsbruch markieren.

Allerdings ist für die Beurteilung von Äußerungen nach allgemeinen Grundsätzen ihre konkrete Wirkung im jeweiligen Kontext in Betracht zu nehmen. Dabei gebieten die besonderen Erfahrungen der deutschen Geschichte, insbesondere die damals durch zielgerichtete und systematische Hetze und Boykottaufrufe eingeleitete und begleitete Entrechtung und systematische Ermordung der jüdischen Bevölkerung Deutschlands und Europas, eine gesteigerte Sensibilität im Umgang mit der abwertenden Bezeichnung eines anderen als „Juden“. Insoweit kommt es darauf an, ob in der Äußerung eine die Friedlichkeitsgrenze überschreitende Aggression liegt. Je nach Einzelfall, insbesondere wenn die sich äußernde Person auf eine Stimmungsmache gegen die jüdische Bevölkerung zielt oder sich in der Äußerung mit der nationalsozialistischen Rassenideologie identifiziert, kann darin eine menschenverachtende Art der hetzerischen Stigmatisierung von Juden und damit implizit verbunden auch eine Aufforderung an andere liegen, sie zu diskriminieren und zu schikanieren. Maßgeblich bleibt allerdings die Äußerung selbst und ihr unmittelbarer Kontext, nicht die innere Haltung oder die parteiliche Programmatik, die möglicherweise den Hintergrund einer Äußerung bilden.

Nach diesen Maßstäben begegnen die angegriffenen Entscheidungen keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Die Gerichte haben ihre Bewertung der bestraften Äußerungen als ein Aufstacheln zum Hass gegen die jüdische Bevölkerung insbesondere nicht auf die allgemeine ideologische Ausrichtung des Beschwerdeführers und seiner Partei, sondern auf die Äußerung selbst gestützt. Sie weisen nachvollziehbar darauf hin, dass das Ziel des Beschwerdeführers, zum Hass gegen die jüdische Bevölkerung aufzustacheln, insbesondere aus der Verwendung von seitens der nationalsozialistischen antisemitischen Propaganda verwendeter Termini („frecher Jude“), aus der positiven Hervorhebung der „Männer der Waffen-SS“ und aus dem unmittelbar an die Äußerung angeschlossenen Boykottaufruf gegenüber der vom Betroffenen geleiteten jüdischen Gemeinde deutlich wurde. Diese Stoßrichtung der Äußerung wird auch durch deren Einbettung in den Vorwurf eines angeblich besonders ausgeprägten Einflusses jüdischer Organisationen auf die Politik in Deutschland, die ersichtlich den Topos einer angeblichen jüdischen Weltverschwörung aufgreifen soll, klar kenntlich. Schließlich weisen die Strafgerichte zutreffend darauf hin, dass die Ankündigung, den Einfluss jüdischer Organisationen auf die deutsche Politik „in allerkürzester Zeit auf genau Null reduzieren“ zu wollen, in ihrer Militanz an nationalsozialistische Vernichtungsrhetorik anknüpft. Spezifisch gegen die jüdische Bevölkerung gerichtet begründet eine solche verbale Anlehnung aufgrund der historischen Erfahrung und Realität eines solchen Vernichtungsunterfangens einen konkret drohenden Charakter, trägt die Gefahr in sich, die politische Auseinandersetzung ins Feindselige und Unfriedliche umkippen zu lassen und gefährdet damit deren grundlegende Friedlichkeit. Eben dagegen schützt der Tatbestand der Volksverhetzung nach § 130 Abs. 1 StGB.