Das Bundesverfassungsgericht hat am 20.05.2020 zum Aktenzeichen 2 BvR 2628/18 entschieden, dass der Tochter eines jüdischen Emigranten, dem die deutsche Staatangehörigkeit 1938 entzogen worden war, die Einbürgerung nicht mit der Begründung versagt werden darf, dass sie als nichteheliches Kind die deutsche Staatsangehörigkeit auch ohne Ausbürgerung ihres Vaters nicht hätte erlangen können.
Aus der Pressemitteilung des BVerfG Nr. 48/2020 vom 17.06.2020 ergibt sich:
Die im Jahr 1967 in den USA geborene Beschwerdeführerin ist wie ihre Mutter US-amerikanische Staatsangehörige. Ihrem 1921 geborenen Vater wurde 1938 die deutsche Staatsangehörigkeit entzogen. Er war als Jude in die USA geflohen. Die Eltern der Beschwerdeführerin waren nicht verheiratet. Der Vater erkannte sie als sein Kind an. Sie beantragte 2013 die Einbürgerung gemäß Art. 116 Abs. 2 GG und begründete im Bundesgebiet ihren Wohnsitz. Das Bundesverwaltungsamt lehnte den Antrag auf Einbürgerung ab. Zwar habe der Vater der Beschwerdeführerin zu dem Personenkreis des Art. 116 Abs. 2 GG gehört. Zusätzlich sei jedoch eine hypothetische Prüfung erforderlich, ob der Entzug der deutschen Staatsangehörigkeit bei ihrem Vater Auswirkungen auf den Erwerb bzw. Nichterwerb der deutschen Staatsangehörigkeit durch sie gehabt habe. Die Beschwerdeführerin sei nichtehelich geboren worden und habe deshalb die Staatsangehörigkeit zum damaligen Zeitpunkt nicht von ihrem Vater erwerben können.
Die Klage auf dem Verwaltungsrechtsweg blieb bis hin zur Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Berufung erfolglos.
Das BVerfG hat der Verfassungsbeschwerde stattgegeben.
Nach Art. 116 Abs. 2 Satz 1 GG sind frühere deutsche Staatsangehörige, denen zwischen 1933 und 1945 die Staatsangehörigkeit aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen entzogen worden ist, und ihre Abkömmlinge auf Antrag wieder einzubürgern. Die Auslegung, die Einbürgerung mit der Begründung zu versagen, weil sie als nichteheliches Kind die deutsche Staatsangehörigkeit auch ohne Ausbürgerung ihres Vaters nicht hätte erlangen können, verstoße gegen grundlegende Wertentscheidungen des Grundgesetzes. Namentlich werde der Verfassungsauftrag aus Art. 6 Abs. 5 GG, alle Kinder ungeachtet ihres Familienstandes gleich zu behandeln, nicht erfüllt. Zudem liege darin ein Verstoß gegen das Gebot der Gleichberechtigung von Mann und Frau gemäß Art. 3 Abs. 2 GG, da nach dieser Auslegung der Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit nur im Verhältnis zur Mutter anerkannt werde.
Wesentliche Erwägungen des BVerfG:
Bei der Anwendung von Regelungen zur Staatsangehörigkeit, die mit einer Generationenfolge an die Familienbindung des Einzelnen anknüpfen, sind die Wertentscheidungen zu beachten, in denen die Verfassung das Verhältnis der Geschlechter zueinander, die Beziehungen in der Familie und deren Verhältnis zum Staat kennzeichnet und bestimmt.
Art. 6 Abs. 5 GG enthält einen Verfassungsauftrag, der die Gleichstellung und Gleichbehandlung aller Kinder ungeachtet ihres Familienstandes zum Ziel hat und den Gesetzgeber verpflichtet, nicht-ehelichen Kindern die gleichen Bedingungen für ihre körperliche und seelische Entwicklung und ihre Stellung in der Gesellschaft zu schaffen wie ehelichen Kindern. Art. 6 Abs. 5 GG enthält die Wertentscheidung, dass ein Kind nicht wegen seiner nichtehelichen Geburt benachteiligt werden darf. Auch eine mittelbare Schlechterstellung nichtehelicher Kinder ist verboten. Der Auftrag aus Art. 6 Abs. 5 GG ist auch von der Verwaltung und der Rechtsprechung bei der Anwendung des geltenden Rechts zu berücksichtigen. Eine differenzierende Regelung für nichteheliche Kinder ist verfassungsrechtlich nur gerechtfertigt, wenn sie aufgrund der unterschiedlichen tatsächlichen Lebenssituation zwingend erforderlich ist, um das Ziel der Gleichstellung von nichtehelichen Kindern mit ehelichen Kindern zu erreichen.
Nach der Rechtsprechung des EGMR kann überdies eine willkürliche Verweigerung der Staatsangehörigkeit wegen der Auswirkung einer solchen Maßnahme auf das Privatleben einer Person in den Schutzbereich von Art. 8 EMRK fallen. Denn das von Art. 8 EMRK geschützte Privatleben umfasst Aspekte der sozialen Identität einer Person. Wenn ein Staat das Recht vorsieht, seine Staatsangehörigkeit zu erlangen, muss dieses Recht auch ohne Diskriminierung gegenüber nichtehelichen Kindern ausgestaltet sein. Eine unterschiedliche Behandlung stellt eine Diskriminierung im Sinne des Art. 14 EMRK dar, wenn sie kein legitimes Ziel verfolgt oder die angewandten Mittel nicht verhältnismäßig sind. Die Mitgliedstaaten verfügen hier zwar über einen gewissen Beurteilungsspielraum. Es müssen aber „sehr gewichtige Gründe“ vorgebracht werden, damit eine unterschiedliche Behandlung von nichtehelichen Kindern als vereinbar mit der Europäischen Menschenrechtskonvention angesehen werden kann.
Daneben verbietet Art. 3 Abs. 2 GG die rechtliche Differenzierung nach dem Geschlecht und schützt sowohl Männer als auch Frauen vor Benachteiligung. Bei Regelungen, die an den Geschlechterunterschied der Eltern anknüpfen, kann Art. 3 Abs. 2 GG insbesondere als objektiver Wertmaßstab von Bedeutung sein. Wenn die Staatsangehörigkeit eines Kindes von der Staatsangehörigkeit der Eltern oder eines Elternteils abhängig gemacht wird, so verbietet Art. 3 Abs. 2 GG grundsätzlich, das Problem der Staatsangehörigkeit von Kindern einseitig zulasten der Mutter oder des Vaters zu lösen.
An diesen Maßstäben gemessen halten die angegriffenen Entscheidungen einer verfassungsrechtlichen Überprüfung nicht stand. Bei der Interpretation von Art. 116 Abs. 2 Satz 1 GG haben die Gerichte unter Zugrundelegung eines engen Abkömmlingsbegriffs trotz der offenen Formulierung der Norm die Wertentscheidungen des hier vorrangig maßgeblichen Art. 6 Abs. 5 GG und des Art. 3 Abs. 2 GG nicht hinreichend berücksichtigt. Sie haben nicht beachtet, dass die Interpretation des Abkömmlingsbegriffs in einer Weise, die nichteheliche Kinder eines ausgebürgerten deutschen Vaters mitumfasst, den Wertentscheidungen des Grundgesetzes besser entspricht als die von ihnen gewählte enge Auslegung und daher den Vorzug verdient.
Die angegriffenen Entscheidungen stützen sich auf die Rechtsprechung des BVerwG. Hiernach setzt nach dem Gesetzeszweck der Einbürgerungsanspruch des Abkömmlings nach Art. 116 Abs. 2 Satz 1 GG ein rechtliches Verhältnis zum Ausgebürgerten voraus, an welches das Staatsangehörigkeitsrecht den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit knüpft.
Die Auslegung des Begriffs „Abkömmlinge“ i.S.v. Art. 116 Abs. 2 Satz 1 GG in den angegriffenen Entscheidungen trägt der Bedeutung und Tragweite des Art. 6 Abs. 5 GG und des Art. 3 Abs. 2 GG nicht hinreichend Rechnung. Ist eine Norm so formuliert, dass mehrere Auslegungsergebnisse möglich sind, ist diejenige Auslegung zu wählen, welche die juristische Wirkungskraft einer Grundrechtsnorm am stärksten entfaltet und den Wertentscheidungen der Verfassung am besten Rechnung trägt. Art. 116 Abs. 2 GG ist einer solchen Auslegung zugänglich.
Dem Wortlaut lässt sich eine Eingrenzung auf eheliche Abkömmlinge nicht zwingend entnehmen. Die systematische Stellung des Art. 116 Abs. 2 GG spricht zudem dafür, dass nichteheliche Kinder ebenso wie im Anwendungsbereich des Art. 116 Abs. 1 GG vom Abkömmlingsbegriff umfasst sind. Nach seinem Sinn und Zweck dient Art. 116 Abs. 2 GG der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts im Bereich des Staatsangehörigkeitsrechts. Der Gesetzeszweck der Wiedergutmachung steht einer einengenden Auslegung grundsätzlich entgegen, was ebenfalls für eine Einbeziehung der nichtehelichen Kinder eines ausgebürgerten Vaters spricht. Die Ausbürgerung von jüdischen Staatsbürgern im Sinne der nationalsozialistischen Gesetzgebung bleibt ein historisches Geschehen, das als solches nicht nachträglich beseitigt werden kann. Art. 116 Abs. 2 GG will aber das Unrecht, das den ausgebürgerten Verfolgten angetan worden ist, im Rahmen des Möglichen ausgleichen. Eine weite Auslegung erscheint auch deshalb angezeigt, weil im Rahmen der hypothetischen Prüfung bei der Einbürgerung von Abkömmlingen nicht mehr in Kraft befindliche Regelungen des Staatsangehörigkeitsrechts perpetuiert werden, die den Wertentscheidungen des Grundgesetzes zuwiderlaufen. Schließlich lässt sich auch der Entstehungsgeschichte ein Ausschluss von nichtehelichen Kindern nicht entnehmen.
Danach ist es verfassungsrechtlich geboten, den Begriff „Abkömmlinge“ in Art. 116 Abs. 2 Satz 1 GG weit auszulegen, dabei die in Art. 6 Abs. 5 GG und Art. 3 Abs. 2 GG enthaltenen Wertentscheidungen miteinzubeziehen und den Einbürgerungsanspruch nicht solchen Abkömmlingen vorzuenthalten, die nach einem durch das Grundgesetz überwundenen Rechtsverständnis die Staatsangehörigkeit von ihrem Vater auch ohne dessen Ausbürgerung nicht hätten erwerben können.
Die Auslegung der Verwaltungsgerichte in den angegriffenen Entscheidungen verstößt zuvörderst gegen das Diskriminierungsverbot in Art. 6 Abs. 5 GG. Wenn es dem Verfassungsgeber notwendig erschien, Differenzierungen nach der Abstammung durch einen besonderen Verfassungssatz zu verbieten, damit diese unter dem Grundgesetz wirksam ausgeschlossen werden, spricht dies gegen eine Auslegung des Grundgesetzes an anderer Stelle, die nichteheliche Kinder vom Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit durch ihren Vater ausschließt. Art. 6 Abs. 5 GG stellt mit dem Verbot der Diskriminierung nichtehelicher Kinder die menschliche Persönlichkeit und ihre Würde in den Mittelpunkt des Wertsystems der Verfassung und des gesamten Rechts, und diese Wertentscheidung muss auch bei der Bestimmung des Begriffs „Abkömmlinge“ in Art. 116 Abs. 2 Satz 1 GG beachtet werden. Die in dem heute nicht mehr gültigen Staatsangehörigkeitsrecht vorgenommene ausschließliche Zuordnung des nichtehelichen Kindes zu seiner Mutter ist weder nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ein wesentlicher noch nach der Rechtsprechung des EGMR ein sehr gewichtiger Grund, der die Ungleichbehandlung des nichtehelichen Kindes beim Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit rechtfertigen könnte.
Daneben ist es auch mit Art. 3 Abs. 2 GG als objektivem Wertmaßstab nicht vereinbar, wenn der Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit nach dem Abstammungsprinzip nur im Verhältnis zu einem Elternteil, im Falle einer nichtehelichen Geburt allein zur Mutter, anerkannt wird. Denn eine Regelung über den Erwerb der Staatsangehörigkeit des Vaters oder der Mutter regelt nicht nur den objektiven Status des Kindes, sondern berührt auch unmittelbar die Rechtsstellung der Elternteile in ihrem Verhältnis zum Staat wie zur Familie. Das Abstammungsprinzip als Grundlage des Staatsangehörigkeitserwerbs soll zum einen die Bindung an die eigenständige soziale Einheit der Familie vermitteln und gewährleisten, zum anderen macht die gemeinsame Bindung an eine bestimmte staatliche Gemeinschaft einen Teil der vielfältigen engen Beziehungen zwischen Eltern und Kindern aus und trägt dazu bei, den Zusammenhang in der Familie zu dokumentieren und zu stärken.
Die Wertentscheidung des Art. 3 Abs. 2 GG wird verfehlt, wenn ein solcher Zusammenhang abhängig vom Geschlecht nur im Verhältnis von Mutter und Kind, nicht aber im Verhältnis von Vater und Kind anerkannt wird. Dies gilt bei einer Auslegung der Vorschriften des Staatsangehörigkeitsrechts im Lichte der Wertentscheidungen des Grundgesetzes nicht nur, wenn die Eltern des Kindes miteinander verheiratet sind, sondern auch dann, wenn es um das Verhältnis eines nichtehelichen Kindes zu seinen Eltern geht.