Das Oberlandesgericht Karlsruhe hat am 08.06.2020 zum Aktenzeichen 14 U 171/18 entschieden, dass die Herstellerin und Importeurin einer Großkopf-Hüfttotalendoprothese, die einem Patienten im Jahre 2005 implantiert wurde und die Metall aus dem Konusadapter abgab, Schadensersatz und Schmerzensgeld in Höhe von 25.000 Euro zahlen muss.
Aus der Pressemitteilung des OLG Karlsruhe Nr. 16/2020 vom 08.06.2020 ergibt sich:
Der Kläger litt an einer schweren Coxarthrose (Hüftgelenksverschleiß) der rechten Hüfte und wurde im Juni 2005 in einem Krankenhaus in Freiburg mit einer ab 2003 von der Beklagten vertriebenen Großkopfprothese versorgt. Diese bestand aus einer Hüftpfanne, Größe 58 mm, die im Hüftknochen verankert wird, einem Prothesenkopf, Durchmesser 52 mm, einem Konusadapter, auch Adapterhülse genannt, und einem Prothesenschaft. Pfanne und Prothesenkopf bilden die Gleitpaarung. Sie bestehen ebenso wie der Konusadapter aus einer Kobalt-Chrom-Legierung; der Prothesenschaft aus einer Titanlegierung. In den Prothesenkopf wird außerhalb des Operationsfeldes der Konusadapter mit einem schweren Hammer eingeschlagen. Dieser zusammengesetzte Prothesenkopf mit dem Adapter wird mittels eines Hammers und eines Aufschlagaufsatzes auf den oberen, konisch geformten Teil des Prothesenschaftes (Titanlegierung) eingeschlagen. Da der Prothesenschaft vor diesem Fügeprozess bereits in den Oberschenkelknochen eingeschlagen worden war, erfolgt dieses Einschlagen im Körper des Patienten. Obwohl dabei 2 OP-Helfer den Oberschenkelknochen halten, kann dieser beim Einschlagen 2-3 cm nachgeben. Die damals gültige englischsprachige OP-Anleitung der Beklagten enthielt den Hinweis: „Mit einem leichten Schlag des Einschlagwerkzeugs mit Kunststoffaufsatz wird der Metasul-LDH-Kopf auf den Femurschaft montiert“. Im Oktober 2009 unterzog sich der Kläger einer Revisionsoperation, bei der Pfanne und Kopf der Prothese gewechselt, der Schaft hingegen belassen wurde. Die Operateure stellten zwei große Osteolysen, eine ausgeprägte Bursitis trochanterica sowie eine gräuliche Masse „ähnlich einer Maultaschenfüllung“ und einen schwarz gefärbten Konus mit Kranz fest. Der Kläger forderte Schadensersatz und Schmerzensgeld.
Das Landgericht hatte die Beklagten nach umfangreichen Gutachten zur Zahlung von 25.000 Euro Schmerzensgeld und zum Ersatz weiteren materiellen und zukünftigen immateriellen Schadens verurteilt, den weitergehenden Antrag (weitere 15.000 Euro Schmerzensgeld) hatte es abgewiesen.
Hiergegen haben die Beklagten Berufung eingelegt.
Das OLG Karlsruhe hat die Berufungen der Beklagten gegen dieses Urteil nach nochmaliger Anhörung der bereits erstinstanzlich angehörten Sachverständigen zurückgewiesen.
Nach § 1 ProdhaftG hat der Hersteller eines fehlerhaften Produkts demjenigen, der durch den Fehler an seinem Körper oder seiner Gesundheit verletzt wird, den daraus entstehenden Schaden zu ersetzen. Nach Auffassung des Oberlandesgerichts ist die dem Kläger implantierte Hüftprothese fehlerhaft, denn der Verkehr erwartet, dass eine Hüftprothese kein Metall – Abriebpartikel oder Metallionen – in solchen Mengen in den Körper abscheidet, dass diese gesundheitsgefährdend sein können. Etwas anderes gelte nur, soweit solche Abscheidungen zwangsläufig hingenommen werden müssten, wie etwa ein gewisses Maß von Abrieb in der Gleitpaarung. Wenn in der Gleitpaarung allerdings nur wenig Abrieb entstehe, akzeptiere ein Patient nicht, dass stattdessen an anderer Stelle vermeidbare Metallausscheidungen auftreten.
Der gerichtliche Sachverständige habe in der Gleitpaarung keinen nennenswerten Abrieb gefunden, aber durch Messungen am Innenkonus der Adapterhülse ein Verschleiß- bzw. Deformationsvolumen von 6,1 mm³ (1,4 mm³/ Jahr) festgestellt. Bei weiteren beim OLG Karlsruhe anhängigen Verfahren liege der durchschnittliche jährliche Metallverlust bei den Fällen, bei denen es zu Metallverlust gekommen ist, bei knapp über 2,0 mm³.
Die Metallpartikel und -ionen hätten nach den Ausführungen der Sachverständigen in der gemessenen Menge im Körper des Patienten gesundheitsschädliche Auswirkungen.
Der Metallverlust am Konus beruhe auf galvanischer, elektrochemischer oder Spalt-Korrosion. Diese werde dadurch verursacht, dass die aus verschiedenen Legierungen bestehende Konussteckverbindung bei der Operation mit einer unzureichenden Krafteinwirkung zusammengefügt wurde. Auch wenn die Schadensmechanismen noch nicht abschließend geklärt seien, sei Korrosion die wesentliche Ursache.
Die Korrosion hätte durch eine ausreichende Fügekraft vermieden werden können. Die Beklagten hätten selbst in den Jahren 2008/2009 Tests mit dem Ergebnis durchgeführt, wonach bei einer mit 7 kN gefügten Verbindung die Korrosion hätte vermieden werden können. Zwar könne eine sichere Konusverbindung auch mit einer Fügekraft von weniger als 7 kN hergestellt werden, dies aber nur, wenn und solange gute Bedingungen (Schmierung des Gelenks) herrschten.
Die danach grundsätzlich erforderlichen 7 kN – aber selbst 6 kN – seien mit dem in der Einbauanleitung zum Zeitpunkt der Operation des Klägers vorgesehenen sanften Schlag nicht gewährleistet. Ein sanfter Schlag mit einem nicht schweren Hammer reiche nach der übereinstimmenden Feststellung aller Sachverständigen nicht aus, um die erforderlichen 7 kN oder auch nur 6 kN sicher zu erbringen. Damit liege ein Instruktionsfehler vor.
Ein kräftiger Schlag mit einem schweren Hammer könne dagegen zwar ausreichen, um eine Kraft von 7 kN aufzubringen. Dieses Ergebnis sei aber nicht sicher reproduzierbar (Konstruktionsfehler). Nach einer Studienauswertung liege die von Operateuren angewandte Einschlagskraft meistens im Bereich von 1-2 kN und nur selten über 4 kN. Ein anderer Sachverständiger gehe von 4 – 6 kN aus. Schwankungen könnten sich aber durch den Winkel und das Nachgeben des Körpers ergeben. Angesichts des Umstandes, dass der Schaft während des Einschlagens um bis zu 2 -3 cm nachgebe, könne nach physikalischen Gesetzen die Aufschlagskraft sehr verschieden ausfallen. Ein Privatsachverständiger der Beklagten habe zu einem vergleichbaren von ihm bearbeiteten Problem eingeräumt, dass es hier wie dort schwierig sei, die Kraft genau zu bestimmen, die per Hammerschlag ausgeübt werde. Das könne zwischen 100 N und 8000 N der Fall sein. Auf dem Markt gebe es zwar Geräte, die einen festen Impuls auf den Kopf ausüben könnten, die benutze nur keiner. Hinzu komme, dass bei Kräften um die 7 kN die Gefahr bestehe, die Knochen zu schädigen.
Der fehlerbedingte Metallverlust sei für die gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Klägers – mit Ausnahme der Bursitis – und die Revisionsoperation verantwortlich gewesen. Dafür spreche angesichts der Umstände der Anscheinsbeweis. Soweit die Beklagten diesen Zusammenhang mit der Behauptung verneinen wollten, das von ihnen in Verkehr gegebene Produkt sei nachträglich durch falschen Einbau oder Reinigung negativ beeinflusst worden, tragen sie die Beweislast.
Die Haftung sei auch nicht nach § 1 Abs. 2 Nr. 5 ProdhaftG ausgeschlossen, denn die Beklagten hätten nicht bewiesen, dass der Produktfehler zum Zeitpunkt der Inverkehrgabe des konkreten Produkts im Jahr 2005 nach dem Stand der Wissenschaft und Technik nicht erkennbar gewesen sei.
Zum Stand der Wissenschaft und Technik gehörten nicht nur die allgemein anerkannten Regeln der Technik bzw. die allgemein anerkannten wissenschaftlichen Erkenntnisse. Auch vereinzelte Erkenntnisse könnten den „Stand“ der Wissenschaft und Technik bestimmen. Dabei sei unter potenzieller Gefährlichkeit des Produkts nicht der konkrete Fehler des schadensstiftenden Produkts, sondern das zugrundeliegende allgemeine, mit der gewählten Konzeption verbundene Fehlerrisiko zu verstehen. Auch bei einer Hüftprothese komme es daher nicht auf die konkrete Gefährlichkeit des einzelnen Implantats, sondern allein auf die Gefährlichkeit der Konstruktion des Prothesentyps an. Dann gehe der Hersteller mit dem Inverkehrbringen eine Risikoentscheidung ein, gegenüber deren Folgen er sich nicht deshalb entlasten könne, weil er den Risikoeintritt im Einzelfall nicht vorhergesehen habe. Der Fehler sei nach diesen Grundsätzen erkennbar gewesen, denn im Jahr 2005 sei bekannt gewesen, dass aus modularen Steckverbindungen aus verschiedenen Legierungen wegen Korrosionsprozessen Metallpartikel und / oder -ionen austreten könnten und dies zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen führen könne. Die unzutreffende Annahme des Herstellers, eine bekannte Gefahr beseitigt oder behoben zu haben, reiche aber nicht aus, um einen sog. Entwicklungsfehler i.S.d. § 1 Abs. 2 Nr. 5 ProdhaftG anzunehmen, für den der Hersteller nicht einzustehen habe. Aus den Erfahrungen bei Kleinkopfprothesen konnte zudem nicht sicher ausgeschlossen werden, dass bei Großkopfprothesen keine Probleme auftreten.
Eine Ersatzpflicht der Beklagten sei auch nicht ausgeschlossen, weil den Beklagten das Zeichen „CE-Kennzeichnung“ zuerkannt worden sei. Dies besage nicht, dass die potenzielle Gefährlichkeit des Produkts unter Zugrundelegung des im Zeitpunkt seiner Inverkehrgabe objektiv zugänglichen Gefahrenwissens nicht hätte erkannt werden können. Daher sei auch die Frage, ob alle nach dem damaligen Stand vorgesehenen Tests absolviert wurden, für die Frage der Erkennbarkeit nicht von Bedeutung.
Die Entscheidung des Landgerichts zur Höhe des Schmerzensgeldes und den materiellen Schäden hat das OLG Karlsruhe gebilligt.
Die Revision wurde nicht zugelassen. Die Nichtzulassungsbeschwerde zum BGH ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils möglich.