Das OVG Lüneburg hat mit Beschluss vom 04.06.2020 zum Aktenzeichen 13 MN 195/20 entschieden, dass die Neuregelung zur Quarantäne für Reiserückkehrer aus bestimmten europäischen Ländern aufgrund der Niedersächsischen Verordnung über infektionsschützende Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus voraussichtlich rechtmäßig ist und daher nicht einstweilig außer Vollzug gesetzt wird.
Aus der Pressemitteilung des OVG Lüneburg Nr. 27/2020 vom 05.06.2020 ergibt sich:
Gegenstand des entschiedenen Normenkontrolleilverfahrens war aufgrund des vom Antragsteller gestellten Antrags ausschließlich die Neuregelung zur Quarantäne für Reiserückkehrer aus bestimmten europäischen Ländern in § 5 Abs. 1 der Niedersächsischen Verordnung über infektionsschützende Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus. Die vorausgegangene Regelung in § 5 der Verordnung war vom OVG Lüneburg mit Beschluss vom 11.05.2020 (13 MN 143/20) einstweilig außer Vollzug gesetzt worden. Diese Regelung sah die pauschale Anordnung einer 14-tägigen Quarantäne für nach Deutschland Rückreisende aus aller Welt ohne Befreiungsmöglichkeit vor und wurde vom Oberverwaltungsgericht als rechtswidrig erachtet, weil nicht bei allen Rückkehrern unterschiedslos ein hinreichender Ansteckungsverdacht anzunehmen sei.
Auf diese einstweilige Außervollzugsetzung hat das Niedersächsische Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung nach Abstimmung mit dem Bund und den anderen Ländern mit der Verordnung zur Änderung der Niedersächsischen Verordnung über infektionsschützende Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus vom 22.05.2020 reagiert. Durch diese Änderungsverordnung wurde die Regelung zur Quarantäne für Reiserückkehrer vollständig neu gefasst. § 5 der Verordnung unterscheidet nun danach, ob eine Person aus einem bestimmten europäischen oder aus einem anderen Land einreist. Für Personen, die aus einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union, Island, dem Fürstentum Liechtenstein, Norwegen, der Schweiz oder dem Vereinigten Königreich von Großbritannien und Nordirland nach Niedersachsen oder zunächst in ein anderes Land der Bundesrepublik Deutschland und dann nach Niedersachsen einreisen (§ 5 Abs. 1 der Verordnung), wurde eine Pflicht zur Absonderung (Quarantäne, § 5 Abs. 2 der Verordnung), eine Pflicht zur Meldung gegenüber der zuständigen Behörde (§ 5 Abs. 3 der Verordnung) und eine Beobachtung durch die zuständige Behörde (§ 5 Abs. 4 der Verordnung) nur für den Fall angeordnet, dass nach einer Veröffentlichung des Robert Koch-Instituts (RKI) nach den statistischen Auswertungen und Veröffentlichungen des European Center for Disease Prevention and Control (ECDC) in dem betreffenden Staat der Ausreise eine Neuinfiziertenzahl im Verhältnis zur Bevölkerung von mehr als 50 Fällen pro 100.000 Einwohner kumulativ in den letzten sieben Tagen besteht. Für Personen, die nicht aus einem der genannten europäischen Länder einreisen, wird demgegenüber grundsätzlich eine 14-tägige Quarantäne angeordnet, es sei denn, dass für den betreffenden Staat das Robert Koch-Institut aufgrund belastbarer epidemiologischer Erkenntnisse festgestellt hat, dass das dortige Infektionsgeschehen eine Ansteckungsgefahr für die einzelne Person als gering erscheinen lässt (§ 5 Abs. 5 der Verordnung). Für alle Personen sieht die Neuregelung zudem eine Befreiungsmöglichkeit auf Antrag in begründeten Einzelfällen vor (§ 5 Abs. 11 der Verordnung).
Das OVG Lüneburg hat nun den Antrag auf einstweilige Außervollzugsetzung der Neuregelung zur Quarantäne für Reiserückkehrer aus bestimmten europäischen Ländern in § 5 Abs. 1 der Niedersächsischen Verordnung über infektionsschützende Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus in der Fassung vom 22.05.2020 abgelehnt.
Nach Auffassung des Oberverwaltungsgerichts ist diese Neuregelung nach summarischer Prüfung rechtmäßig. Der Grenzwert von 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern innerhalb von sieben Tagen markiere die Grenze, bis zu der die öffentliche Gesundheitsverwaltung in Deutschland zu einer Rückverfolgung der Infektionsketten maximal in der Lage sei und so das wichtige und unverändert legitime Ziel der Verhinderung der weiteren Ausbreitung durch Fallfindung mit Absonderung von Erkrankten und engen Kontaktpersonen mit einem erhöhten Erkrankungsrisiko noch erreicht werden könne. Mit Überschreitung dieses Grenzwerts bestehe die ernsthafte Gefahr, dass die Gesundheitsverwaltung aufgrund der schieren Anzahl der Neuinfektionen (für Deutschland mit seinen ca. 83 Mio. Einwohnern wären dies mehr als 41.500 Neuinfektionen innerhalb von sieben Tagen) die Fähigkeit verliere, das Infektionsgeschehen ohne weitere einschneidende Maßnahmen unter Kontrolle zu halten. In Abgrenzung zur insoweit nur wenig aussagekräftigen Gesamtzahl aller jemals Infizierten ergebe sich aus diesem Wert von Neuinfektionen innerhalb kurzer Zeit aus Sicht des Oberverwaltungsgerichts ein entscheidender Hinweis auf eine signifikante Dynamik eines Infektionsgeschehens. Die Übertragung dieses Grenzwerts für die Rückverfolgung und Fallfindung in Deutschland auf die Situation in anderen europäischen Ländern sei zwar nicht zwingend; im Sinne einer notwendigerweise typisierenden Betrachtungsweise in einer Rechtsverordnung dürfte sie aber durchaus zulässig sein. Die vom RKI nach den statistischen Auswertungen und Veröffentlichungen des ECDC zu veröffentlichende Feststellung einer Überschreitung des Grenzwerts beruhe zudem auf hinreichend konkret nachvollziehbaren und belastbaren tatsächlichen Grundlagen. Dies könne es letztlich rechtfertigen, ein derartiges Land als Risikogebiet anzusehen und einen aus einem solchen Land Einreisenden unter Anlegung des gebotenen „flexiblen“ Maßstabs für die hinreichende (einfache) Wahrscheinlichkeit als ansteckungsverdächtig i.S.d. § 30 des Infektionsschutzgesetzes zu betrachten.
Der Beschluss ist unanfechtbar.