Der Verfassungsgerichtshof für das Land Baden-Württemberg in Stuttgart hat am 18.05.2020 zum Aktenzeichen 1 GR 24/19 entschieden, dass das von der SPD Baden-Württemberg angestrebte Volksbegehren über gebührenfreie Kitas wegen Verstoßes gegen die Landesverfassung unzulässig ist.
Aus der Pressemitteilung des VerfGH Stuttgart vom 18.05.2020 ergibt sich:
Mit Schreiben vom 12.02.2019 beantragten die Antragsteller, zwei Landtagsabgeordnete, als Vertrauensleute des Volksbegehrens „Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die Betreuung und Förderung von Kindern in Kindergärten, anderen Tageseinrichtungen und der Kindertagespflege“ die Zulassung desselben beim Ministerium für Inneres, Digitalisierung und Migration Baden-Württemberg. Dem Antrag war ein mit einer Begründung versehener Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Betreuung und Förderung von Kindern in Kindergärten, anderen Tageseinrichtungen und in der Kindertagespflege (Kindertagesbetreuungsgesetz – KiTaG) beigefügt. Als wesentlichen Inhalt sieht der Gesetzentwurf vor, dass Kinder bis zu ihrer Einschulung eine Kindertageseinrichtung oder die Kindertagespflege gebührenfrei besuchen können sollen. Dies soll dadurch erreicht werden, dass die Träger der Kindertageseinrichtungen und die Kindertagespflegepersonen einen Ausgleich vom Land erhalten, wenn sie auf die Erhebung von Elternbeiträgen verzichten. Mit Entscheidung vom 04.03.2019 lehnte das Ministerium für Inneres, Digitalisierung und Migration den Antrag auf Zulassung des Volksbegehrens ab. Die dem Antrag zugrunde liegende Gesetzesvorlage widerspreche dem Grundgesetz und der Landesverfassung (§ 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 des Gesetzes über Volksabstimmung, Volksbegehren und Volksantrag [VAbstG]). Unter anderem verstoße sie gegen Art. 59 Abs. 3 Satz 3 der Landesverfassung (LV), da ein Volksbegehren über Abgabengesetze und das Staatshaushaltsgesetz vorliege.
Gegen die Ablehnung riefen die Antragsteller am 18.03.2019 nach § 29 Abs. 3 Satz 1 VAbstG den Verfassungsgerichtshof an.
Der VerfGH Stuttgart hat den Antrag zurückgewiesen.
Wesentliche Erwägungen des Verfassungsgerichtshofs
Der zulässige Antrag ist unbegründet.
Zum einen verstößt der Gesetzentwurf gegen den Bestimmtheitsgrundsatz, der ein Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips des Art. 23 Abs. 1 LV ist, sowie das Erfordernis eines ausgearbeiteten und mit Gründen versehenen Gesetzentwurfs aus Art. 59 Abs. 3 Satz 1 LV.
Der Bestimmtheitsgrundsatz verlangt, dass staatliches Handeln messbar und berechenbar ist. Hieran fehlt es, wenn Regelungen unklar und widersprüchlich bleiben, sodass die Normbetroffenen die Rechtslage nicht erkennen und ihr Verhalten nicht danach einrichten können. Zwar können Gesetze, die im Wege der Volksgesetzgebung erlassen werden, in besonderem Umfang und in anderer Weise auslegungsbedürftig sein als Parlamentsgesetze. Auch kann und muss bei der Auslegung eines Gesetzes seine Entstehung im Wege der Volksgesetzgebung berücksichtigt werden. Allerdings sind grundlegende rechtsstaatliche Anforderungen auch durch ein Volksbegehren zu beachten.
Hinzu kommt im Bereich der Volksgesetzgebung das in Art. 59 Abs. 3 Satz 1 LV enthaltene Erfordernis eines ausgearbeiteten und mit Gründen versehenen Gesetzentwurfs. Der Bürger als Gesetzgeber muss aus dem Gesetzentwurf und dessen Begründung die Abstimmungsfrage sowie deren Bedeutung und Tragweite entnehmen können. Die Entscheidung der Stimmberechtigten über den Gesetzentwurf kann nur dann sachgerecht ausfallen, wenn dieser so ausgestaltet ist, dass sie seinen Inhalt verstehen, seine Auswirkungen überblicken und die wesentlichen Vor- und Nachteile abschätzen können. Daher darf die Begründung insbesondere nicht in einem derartigen Gegensatz zu dem Entwurf selbst stehen, dass bei den Stimmberechtigten erhebliche Unklarheiten über den tatsächlich intendierten Inhalt des Gesetzes entstehen können.
Diesen Anforderungen genügt das Volksbegehren nicht. Die Gesetzesvorlage enthält Unklarheiten und Widersprüche, die sich nicht im Wege der Auslegung korrigieren lassen. Sie ist damit nicht geeignet, den abstimmungsberechtigten Bürgern eine hinreichende Grundlage für eine sachgerechte und abgewogene Entscheidung zu bieten.
Aus dem Gesetzentwurf ergibt sich nicht, wie der Ausgleichsbetrag für den nicht erhobenen Elternbeitrag zu bemessen ist. Die Formulierung „Ausgleich in Höhe des nicht erhobenen Elternbeitrags“ ist mehrdeutig. Die Unbestimmtheit der Formulierung führt in dem zentralen Punkt des Gesetzentwurfs dazu, dass die Auswirkungen der Gesetzesänderung, insbesondere ihre finanziellen Folgen, völlig unklar bleiben. Der Gesetzentwurf gibt beispielsweise keine Auskunft darüber, wie der Ausgleichsbetrag bei neu zur Verfügung gestellten Kinderbetreuungsplätzen, bei veränderten Angeboten oder bei einem sich verändernden Finanzierungsbedarf der Träger zu bestimmen ist, bzw. ob die Einrichtungsträger mangels bestehender Vorgaben den von ihnen für erforderlich erachteten Aufwand und damit die Höhe des vom Land zu leistenden Ausgleichs frei bestimmen können. Ungeklärt bleibt auch die Bemessung des Ausgleichsbetrags bei den Trägern, die bislang durch Aufwendung eigener Mittel keine oder lediglich geringe Elternbeiträge verlangt haben und diese Mittel nicht mehr aufbringen können oder wollen.
Ferner ist die Gesetzesvorlage hinsichtlich der Reichweite der Gebührenfreiheit und damit in einem wesentlichen Punkt in sich widersprüchlich. Denn nach ihrer Zielsetzung und Begründung erweckt sie den Eindruck, auch in der Kindertagespflege eine gebührenfreie Kinderbetreuung zu ermöglichen, was nach dem Inhalt der Regelungen allerdings nicht der Fall ist.
Zum anderen verstößt das Volksbegehren, jedenfalls soweit es kommunale und staatliche Träger von Kindertageseinrichtungen betrifft, gegen den Abgabenvorbehalt aus Art. 59 Abs. 3 Satz 3 LV. Es hat ein Abgabengesetz zum Gegenstand.
Zwar regelt der Gesetzentwurf auf den ersten Blick nicht die Pflicht von Bürgern, Abgaben zu erbringen, sondern lediglich die Finanzbeziehungen zwischen dem Land und den Trägern der Kindertageseinrichtungen. Er gewährt Letzteren, wenn sie auf die Erhebung von Elternbeiträgen verzichten, einen Erstattungsanspruch gegen das Land. De facto würde der Gesetzentwurf – was nach der Gesetzesbegründung sein erklärtes Ziel ist – mittelbar aber zu einer Beitragsfreiheit der Kindertagesbetreuung führen. Die kommunalen Träger der Kindertageseinrichtungen würden schon allein, um ihre Bürger nicht schlechter zu stellen, unverzüglich nach Inkrafttreten des Gesetzes auf die Erhebung von Elternbeiträgen verzichten und von der Ausgleichsmöglichkeit Gebrauch machen.
Daher umgeht die im Gesetzentwurf vorgesehene Regelung den Abgabenvorbehalt des Art. 59 Abs. 3 Satz 3 LV.
III. Die festgestellten Verfassungsverstöße führen zur Unzulässigkeit des gesamten Volksbegehrens. Keiner Entscheidung bedarf daher, inwieweit das Volksbegehren aus weiteren Gründen unzulässig ist, insbesondere ob es unter die Ausschlussregelung des Art. 59 Abs. 3 Satz 3 LV hinsichtlich des Staatshaushaltsgesetzes fällt.