Der Bundesgerichtshof hat am 30.04.2020 zum Aktenzeichen I ZR 139/15 entschieden, dass die Presse die geheimen militärischen Lageberichte über den Afghanistaneinsatz der Bundeswehr veröffentlichen durfte.
Aus der Pressemitteilung des BGH Nr. 45/2020 vom 30.04.2020 ergibt sich:
Die Klägerin ist die Bundesrepublik Deutschland, die im vorliegenden Verfahren durch das Bundesministerium der Verteidigung vertreten wird. Dieses lässt wöchentlich einen militärischen Lagebericht über die Auslandseinsätze der Bundeswehr und Entwicklungen im Einsatzgebiet erstellen. Die Berichte werden unter der Bezeichnung „Unterrichtung des Parlaments“ (UdP) an ausgewählte Abgeordnete des deutschen Bundestages, Referate im Bundesministerium der Verteidigung und anderen Bundesministerien, sowie dem Bundesministerium der Verteidigung nachgeordneten Dienststellen versendet. Sie sind als Verschlusssache „VS – Nur für den Dienstgebrauch“ eingestuft. Daneben veröffentlicht die Klägerin gekürzte Fassungen der UdP als „Unterrichtung der Öffentlichkeit“ (UdÖ). Die Beklagte betreibt das Onlineportal der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung. Sie beantragte im Jahr 2012 unter Berufung auf das Informationsfreiheitsgesetz die Einsichtnahme in sämtliche UdP aus der Zeit zwischen dem 01.09.2001 und dem 26.09.2012. Nach Ablehnung dieses Antrags gelangte die Beklagte auf unbekanntem Weg an einen Großteil der Berichte und veröffentlichte diese unter der Bezeichnung „Afghanistan-Papiere“ im Internet. Die Klägerin hat die Beklagte auf Unterlassung in Anspruch genommen, weil die Veröffentlichung ihr Urheberrecht an den Berichten verletze.
Das Landgericht hat der Klage stattgegeben. Die Berufung der Beklagten ist ohne Erfolg geblieben. Mit ihrer Revision hat die Beklagte ihren Klageabweisungsantrag weiterverfolgt. Der BGH hat das Verfahren mit Beschluss vom 01.06.2017 ausgesetzt und dem EuGH verschiedene Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt (I ZR 139/15 – GRUR 2017, 901 „Afghanistan Papiere I“). Der EuGH hat über diese Fragen durch Urteil vom 29.07.2019 (C-469/17 – GRUR 2019, 934 „Funke Medien“) entschieden. Der BGH hat daraufhin das Revisionsverfahren fortgesetzt.
Der BGH hat das Berufungsurteil aufgehoben und die Klage abgewiesen.
Nach Auffassung des BGH kann offenbleiben, ob die UdP urheberrechtlich als Schriftwerke geschützt sind. Die Beklagte habe durch die Veröffentlichung der UdP jedenfalls ein daran bestehendes Urheberrecht nicht widerrechtlich verletzt. Zu ihren Gunsten greife vielmehr die Schutzschranke der Berichterstattung über Tagesereignisse (§ 50 UrhG) ein.
Eine Berichterstattung im Sinne dieser Bestimmung liege vor. Das Berufungsgericht habe bei seiner abweichenden Annahme, es habe keine journalistische Auseinandersetzung mit den einzelnen Inhalten der jeweiligen UdP stattgefunden, nicht hinreichend berücksichtigt, dass die Beklagte die UdP nicht nur auf ihrer Website veröffentliche, sondern sie auch mit einem Einleitungstext, weiterführenden Links und einer Einladung zur interaktiven Partizipation versehen und in systematisierter Form präsentiert habe.
Die Berichterstattung habe auch ein Tagesereignis zum Gegenstand. Sie betreffe die Frage, ob die jahrelange und andauernde öffentliche Darstellung des auch zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Texte auf der Internetseite der Beklagten noch stattfindenden und damit aktuellen, im Auftrag des deutschen Bundestages erfolgenden Einsatzes der deutschen Soldaten in Afghanistan als Friedensmission zutreffe oder ob in diesem Einsatz entgegen der öffentlichen Darstellung eine Beteiligung an einem Krieg zu sehen sei.
Die Berichterstattung habe zudem nicht den durch den Zweck gebotenen Umfang überschritten. Nach der Bestimmung des Art. 5 Abs. 3 Buchst. c Fall 2 der Richtlinie 2001/29/EG, deren Umsetzung § 50 UrhG diene und die bei der gebotenen unionsrechtskonformen Auslegung zu beachten sei, dürfe die fragliche Nutzung des Werks nur erfolgen, wenn die Berichterstattung über Tagesereignisse verhältnismäßig sei, d.h. mit Blick auf den Zweck der Schutzschranke, der Achtung der Grundfreiheiten des Rechts auf Meinungsfreiheit und auf Pressefreiheit, den Anforderungen der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit (Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne) entspreche.
Nach der Rechtsprechung des BVerfG komme es für die Frage, ob bei der Auslegung und Anwendung unionsrechtlich bestimmten innerstaatlichen Rechts die Grundrechte des Grundgesetzes oder die Grundrechte der Charta der Grundrechte der Europäischen Union maßgeblich seien, grundsätzlich darauf an, ob dieses Recht unionsrechtlich vollständig vereinheitlicht sei (dann sind in aller Regel nicht die Grundrechte des Grundgesetzes, sondern allein die Unionsgrundrechte maßgeblich) oder ob dieses Recht unionsrechtlich nicht vollständig determiniert sei (dann gilt primär der Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes). Im letztgenannten Fall greife die Vermutung, dass das Schutzniveau der Charta der Grundrechte der Europäischen Union durch die Anwendung der Grundrechte des Grundgesetzes mitgewährleistet ist (vgl. BVerfG, Beschl. v. 06.11.2019 – 1 BvR 16/13 Rn. 71 – GRUR 2020, 74 Rn. 71 „Recht auf Vergessen I“). Da nach der Rechtsprechung des EuGH Art. 5 Abs. 3 Buchst. c Fall 2 der Richtlinie 2001/29/EG dahin auszulegen sei, dass er keine Maßnahme zur vollständigen Harmonisierung der Reichweite der in ihm aufgeführten Ausnahmen oder Beschränkungen darstelle, sei die Verhältnismäßigkeitsprüfung bei der Anwendung des § 50 UrhG danach anhand des Maßstabs der Grundrechte des deutschen Grundgesetzes vorzunehmen.
Im Blick auf die Interessen der Klägerin sei zu berücksichtigen, dass die durch Art. 14 Abs. 1 GG geschützten ausschließlichen Verwertungsrechte zur Vervielfältigung und zur öffentlichen Zugänglichmachung der UdP allenfalls unwesentlich betroffen seien, weil die UdP nicht wirtschaftlich verwertbar seien. Das vom Urheberpersönlichkeitsrecht geschützte Interesse an einer Geheimhaltung des Inhalts des Werks erlange im Rahmen der im Streitfall vorzunehmenden Grundrechtsabwägung kein entscheidendes Gewicht. Das Urheberpersönlichkeitsrecht schütze nicht das Interesse an der Geheimhaltung von Umständen, deren Offenlegung Nachteile für die staatlichen Interessen der Klägerin haben könnte. Dieses Interesse sei durch andere Vorschriften – etwa das Sicherheitsüberprüfungsgesetz, § 3 Nr. 1 Buchst. b IFG oder die strafrechtlichen Bestimmungen gegen Landesverrat und die Gefährdung der äußeren Sicherheit gemäß § 93 ff. StGB – geschützt. Das Urheberpersönlichkeitsrecht schütze allein das urheberrechtsspezifische Interesse des Urhebers, darüber zu bestimmen, ob er mit der erstmaligen Veröffentlichung seines Werkes den Schritt von der Privatsphäre in die Öffentlichkeit tue und sich und sein Werk damit der öffentlichen Kenntnisnahme und Kritik aussetze. Dieses Geheimhaltungsinteresse könne nach den Umständen des Streitfalls das durch die Meinungs- und Pressefreiheit gemäß Art. 5 Abs. 1 Satz 1 und 2 GG geschützte Veröffentlichungsinteresse nicht überwiegen. Dem Interesse an einer Veröffentlichung der hier in Rede stehenden Informationen komme im Blick auf die politische Auseinandersetzung über die Beteiligung deutscher Soldaten an einem Auslandseinsatz und das damit berührte besonders erhebliche allgemeine Interesse an der öffentlichen und parlamentarischen Kontrolle von staatlichen Entscheidungen in diesem Bereich größeres Gewicht zu.