Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 09.03.2020 zum Aktenzeichen 2 BvR 103/20 entschieden, dass gegen einen 17-Jährigen Untersuchungsgefangenen, dem vorgeworfen wird, an der tödlichen Attacke auf einen Feuerwehrmann auf dem Augsburger Weihnachtsmarkt beteiligt gewesen zu sein, unrechtmäßig Haftbefehl erlassen worden ist.
Aus der Pressemitteilung des BVerfG Nr. 17/2020 vom 11.03.2020 ergibt sich:
- Die Staatsanwaltschaft Augsburg führt gegen den 17-jährigen Beschwerdeführer ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Beihilfe zum Totschlag und der gefährlichen Körperverletzung. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft erließ das AG Augsburg Haftbefehle gegen den Beschwerdeführer und sechs weitere Beschuldigte. Das Amtsgericht hält den Beschwerdeführer für dringend verdächtig, am 06.12.2019 als Teil einer Gruppe von sieben Personen in Augsburg auf die von einem Besuch des Weihnachtsmarkts kommenden beiden Geschädigten getroffen zu sein. Die Beschuldigten hätten sich gemeinsam mit weiteren Personen als Gruppe den Namen „Oberhausen 54“ gegeben. Nachdem sich zunächst ein Wortwechsel entwickelt habe, hätten sie einen der Geschädigten umzingelt, um diesen einzuschüchtern. Alle seien zu diesem Zeitpunkt jederzeit bereit gewesen, ihn entweder selbst gewaltsam zu attackieren oder ein anderes Gruppenmitglied bei jedweder Art auch massiver Gewalthandlungen gegen den Geschädigten zu unterstützen. Dies habe jedem ein erhöhtes Sicherheitsgefühl vermittelt, einhergehend mit einer erhöhten Bereitschaft, Aggressionen gegenüber dem Opfer hemmungslos auszuleben und sich zu solchen durch die anderen angestachelt zu fühlen. Dies sei auch jedem von ihnen bewusst gewesen. Während der Geschädigte auf einen vor ihm stehenden, ihn bedrängenden Beschuldigten konzentriert gewesen sei und diesen von sich gestoßen habe, habe ihm ein seitlich von ihm stehender Mitbeschuldigter – tödliche Verletzungen billigend in Kauf nehmend – einen gezielten und derart wuchtigen Schlag mit der Faust gegen die linke Gesichtshälfte versetzt, dass der Kopf in solch hoher Geschwindigkeit nach rechts geschnellt sei, dass dessen Hirngrundschlagader eingerissen sei. Hierbei sei es zu einer schlagartigen massiven Blutansammlung im Gehirn des Geschädigten gekommen, weshalb dieser – wie alle Beschuldigten billigend in Kauf genommen hätten – augenblicklich verstorben sei. Der wenige Meter entfernt stehende zweite Geschädigte sei, als er dies gesehen habe, herbeigeeilt, um zu helfen. Daraufhin hätten alle sieben Beschuldigten entschieden, nunmehr ihn zu attackieren. Sie hätten ihm in der Folge zahlreiche Schläge gegen den Gesichtsbereich und diverse Schläge und Tritte gegen den Körper versetzt. Alle hätten dabei die Handlungen der anderen gebilligt. Der Geschädigte habe einen Jochbeinbruch, eine Platzwunde am linken Auge, eine Prellung sowie starke Schmerzen erlitten und einer stationären Behandlung bedurft. Das Gericht bewertete das Verhalten des Beschwerdeführers als Beihilfe zum Totschlag in Tatmehrheit mit gefährlicher Körperverletzung und stützte den dringenden Tatverdacht vor allem auf Erkenntnisse aus Videoaufzeichnungen.
- Auf die Haftbeschwerde des Beschwerdeführers hob das LG Augsburg am 23.12.2019 den Haftbefehl auf. Es verneinte einen dringenden Tatverdacht. Ein doppelter Gehilfenvorsatz des Beschwerdeführers zu einem Totschlag oder einer Köperverletzung mit Todesfolge liege nicht vor. Bereits eine Beihilfehandlung sei fraglich, da der Beschwerdeführer vom Geschädigten weggestoßen worden und gerade zum Stehen gekommen sei, als der tödliche Schlag des Mitbeschuldigten erfolgt sei. Der Beschwerdeführer sei demnach zu diesem Zeitpunkt zwar zugegen gewesen, von einer aktiven Handlung könne jedoch keine Rede sein. Ob die bloße Präsenz eine objektive Beihilfehandlung darstelle, könne dahingestellt bleiben, da jedenfalls kein dringender Tatverdacht hinsichtlich der subjektiven Tatseite bestehe. Der spontane Schlag des Beschuldigten sei sofort abgeschlossen gewesen, sodass die weiteren Beschuldigten keine Verhaltensweisen hätten zeigen können, die Rückschlüsse auf eine subjektive Tatseite ermöglicht hätten. Die Zugehörigkeit der Beschuldigten zu einer gewaltbereiten Gruppe „Oberhausen 54“ sei nicht durch belastbare Fakten belegt. Auch während der Auseinandersetzung mit dem zweiten Geschädigten habe sich der Beschwerdeführer zunächst in gewisser Distanz befunden und sich dann abgewandt, sodass auch insoweit kein dringender Tatverdacht für ein strafbares Verhalten des Beschwerdeführers bestehe.
- Auf die weitere Beschwerde der Staatsanwaltschaft hob das Oberlandesgericht am 27.12.2019 die – insgesamt sechs – stattgebenden Beschlüsse des Landgerichts auf und ordnete wieder die Untersuchungshaft an. Es bestehe hinsichtlich aller sechs Beschuldigter der dringende Tatverdacht der Beihilfe zum Totschlag in Tatmehrheit mit gefährlicher Körperverletzung. Soweit das Landgericht den Sachverhalt in individuelle Handlungen der jeweiligen Beschuldigten zerlege und auf dieser Grundlage einen dringenden Tatverdacht der Beihilfe zum Totschlag verneine, berücksichtige es in prozessualer Hinsicht nicht ausreichend den vorläufigen Charakter der Prüfung des dringenden Tatverdachts und in tatsächlicher Hinsicht nicht hinlänglich das besondere gruppendynamische Gepräge des Tatgeschehens. Sowohl aus den Zeugenaussagen als auch aus den Videoaufzeichnungen erschließe sich mit ausreichender Deutlichkeit, dass die Beschuldigten unmittelbar vor der Tat im öffentlichen Raum in einer provozierenden und bedrohlich wirkenden Weise als Gruppe aufgetreten seien. Dieses gruppendynamische Verhalten setze sich im eigentlichen Tat- und Nachtatgeschehen fort, indem die Beschuldigten das später getötete Opfer zunächst in ihre Mitte nähmen und bedrängten, sich nach dem vom Mitbeschuldigten geführten Faustschlag gemeinsam von dem gestürzten Opfer entfernten und Menschen, die dem am Boden liegenden schwer verletzten Geschädigten zur Hilfe eilen wollten, abdrängten, den zweiten Geschädigten angriffen und sich gemeinsam vom Tatort entfernten. Bei einer Gesamtbetrachtung werde das vom Landgericht vorgenommene Zerlegen des Geschehens in zahlreiche Einzelakte individueller Verdächtiger dem Tatbild nicht gerecht. Die von den Beschuldigten ausgehende Bedrohlichkeit und Gefährlichkeit, die sich in den verfahrensgegenständlichen Straftaten realisiert habe, könne nicht allein durch eine isolierte Betrachtung und Würdigung individueller Handlungen erfasst werden, sondern bedürfe außerdem einer sorgfältigen Berücksichtigung der Besonderheiten des Auftretens als Gruppe.
Das BVerfG hat der Verfassungsbeschwerde stattgegeben. Es hat den Beschluss des OLG München aufgehoben und die Sache an das Oberlandesgericht zurückverwiesen, das unter Beachtung der Ausführungen des BVerfG erneut darüber zu entscheiden haben wird, ob der Beschwerdeführer weiter in Untersuchungshaft bleibt.
Nach Auffassung des BVerfG ist der Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf Freiheit der Person verletzt. Die Ausführungen des Oberlandesgerichts zum dringenden Tatverdacht ließen die erforderliche Begründungstiefe vermissen, zumal eine schlüssige Darstellung einer konkreten Tat des Beschwerdeführers fehle.