Der Bundesgerichtshof hat mit Urteil vom 27.02.2020 zum Aktenzeichen VII ZR 151/18 über die rechtlichen Voraussetzungen einer Haftung der Benannten Stelle im Sinne des unionsrechtlich harmonisierten Medizinprodukterechts gegenüber Patientinnen für die Folgen der Verwendung von Silikonbrustimplantaten des französischen Unternehmens Poly Implant Prothèse (PIP) entschieden. Danach kommt zwar keine vertragliche, aber eine deliktische Haftung der Benannten Stelle in Betracht.
Aus der Pressemitteilung des BGH Nr. 023/2020 vom 27.02.2020 ergibt sich:
Sachverhalt:
Die Klägerin, eine Krankenkasse, macht geltend, sie habe die Kosten für Revisionsoperationen bei ihr gesetzlich versicherter Patientinnen getragen, denen Silikonbrustimplantate des Herstellers PIP eingesetzt worden seien. Sie nimmt aus übergegangenem Recht die Beklagte, die von 1997 bis 2010 als Benannte Stelle im Auftrag von PIP bei dem vom Hersteller durchzuführenden EU-Konformitätsbewertungsverfahren nach Anhang II der Richtlinie 93/42/EWG mitwirkte, auf Erstattung dieser Kosten in Anspruch.
Die Beklagte führte von 1997 bis 2010 als Benannte Stelle die Bewertung des Qualitätssicherungssystems und die Prüfung der Auslegungsdokumentation der PIP durch. Die Durchführung dieses Konformitätsbewertungsverfahrens berechtigte PIP als Hersteller von Medizinprodukten, auf richtlinienkonform gefertigten Brustimplantaten ein CE-Kennzeichen anzubringen, und ist nach § 6 Abs. 1 Medizinproduktegesetz (MPG) Voraussetzung dafür, dass Medizinprodukte in Deutschland in den Verkehr gebracht werden dürfen.
Die für PIP zuständige französische Aufsichtsbehörde stellte im März 2010 fest, dass dort nicht das eigentlich vorgesehene Rohmaterial für die Implantate verwendet wurde, sondern nicht für den menschlichen Körper zugelassenes Industriesilikon. Bei den Untersuchungen stellte sich heraus, dass PIP vor Kontrollen der französischen Behörden und Überprüfungen durch die Beklagte den Herstellungsprozess auf den zertifizierten Ablauf mit der Verwendung des zugelassenen Silikons umgestellt und sämtliche Hinweise auf die Verwendung von Industriesilikon verborgen hatte. PIP meldete im Jahr 2011 Insolvenz an und wurde liquidiert. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) empfahl Anfang 2012 die Entfernung der betroffenen Silikonbrustimplantate als Vorsichtsmaßnahme.
Die Klägerin begehrt von der Beklagten die Zahlung von 50.287,15 € nebst Zinsen. Nach ihrem Vortrag hat sie in 26 Fällen Operationskosten für bei ihr versicherte Frauen erstattet, denen in den Jahren 2003 bis 2010 von PIP hergestellte Silikonbrustimplantate eingesetzt worden seien und die aufgrund der Empfehlung des BfArM diese Implantate hätten entfernen lassen. Darüber hinaus erstrebt sie die Feststellung, dass die Beklagte zum Ersatz eines weitergehenden Schadens verpflichtet ist, auch soweit bislang noch nicht bekannt gewordene Versicherte betroffen sind.
Bisheriger Prozessverlauf:
Die Klage ist in beiden Vorinstanzen erfolglos geblieben. Mit der vom Oberlandesgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr Klagebegehren weiter.
Das Oberlandesgericht hat die Auffassung vertreten, für das Klagebegehren komme weder eine vertrags- noch eine deliktsrechtliche Anspruchsgrundlage in Betracht. Scheide danach eine Haftung der Beklagten bereits aus Rechtsgründen von vorneherein aus, sei es unerheblich, ob der Beklagten im Zusammenhang mit der Überprüfung und Zertifizierung des Qualitätssicherungssystems und der Auslegungsdokumentation Pflichtverletzungen vorgeworfen werden könnten, denn etwaige Pflichten hätten jedenfalls nicht gegenüber den Versicherten der Klägerin bestanden.
Entscheidung des Bundesgerichtshofs:
Der unter anderem für Rechtsstreitigkeiten über Schadensersatzansprüche wegen fehlerhafter Gutachten zuständige VII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
In seinem früherem Urteil vom 22. Juni 2017 (VII ZR 36/14; vgl. zu diesem Verfahren die Pressemitteilungen Nrn. 94/2017, 44/2017 und 52/2015) hatte der VII. Zivilsenat auf der Grundlage eines Vorabentscheidungsersuchens an den Gerichtshof der Europäischen Union und dessen daraufhin ergangenen Urteils vom 16. Februar 2017 (C-219/15; vgl. dazu auch die Pressemitteilung des Gerichtshofs der Europäischen Union Nr. 14/17 vom 16. Februar 2017) dahinstehen lassen, ob eine vertragliche oder deliktische Haftung der Benannten Stelle gegenüber Patientinnen, denen Implantate von PIP eingesetzt wurden, überhaupt in Betracht kommt. Im damaligen Fall schied eine Verantwortung der Beklagten nach den revisionsrechtlich maßgeblichen Feststellungen jedenfalls mangels Pflichtverletzung aus.
In dem heute entschiedenen Fall hatte das Berufungsgericht hingegen keine Feststellungen zu einer Pflichtverletzung der Beklagten getroffen, sondern deren Haftung bereits aus Rechtsgründen abgelehnt. Die Frage der rechtlichen Voraussetzungen für eine Haftung der Benannten Stelle bedurfte deshalb hier einer Entscheidung. Der VII. Zivilsenat hat diese Frage nunmehr dahin entschieden, dass das Berufungsgericht jedenfalls die Möglichkeit einer deliktischen Haftung zu Unrecht schon aus Rechtsgründen verneint hat.
Im Ergebnis mit Recht hat das Berufungsgericht allerdings angenommen, dass eine Haftung der Beklagten nach den Grundsätzen eines Vertrages mit Schutzwirkung zugunsten Dritter ausscheidet, weil die rechtlichen Voraussetzungen für die Einbeziehung der Versicherten der Klägerin in den Schutzbereich des zwischen PIP und der Beklagten geschlossenen Zertifizierungsvertrages nicht vorliegen.
Es erscheint bereits fraglich, ob die hierfür notwendige Leistungs- beziehungsweise Einwirkungsnähe der Versicherten der Klägerin mit den Leistungen dieses Vertrages gegeben ist. Jedenfalls liegt kein schutzwürdiges Interesse des Gläubigers PIP an der Einbeziehung der Versicherten der Klägerin in den Schutzbereich des Vertrages vor. Der Zweck des Zertifizierungsvertrages mit der Beklagten bestand aus der in diesem Zusammenhang maßgeblichen Sicht von PIP darin, die gesetzlich notwendigen Voraussetzungen für den Vertrieb der Silikonbrustimplantate zu schaffen. Hierzu bedurfte es der Durchführung des EU-Konformitätsbewertungsverfahrens unter Einschaltung einer Benannten Stelle. Selbst wenn unterstellt werden kann, dass der Hersteller eines Medizinproduktes in der Regel ein allgemeines Interesse daran hat, dass durch seine Produkte niemand zu Schaden kommt, führt diese generelle Erwägung hier nicht dazu, dass aus der Sicht von PIP Vertragszweck des Zertifizierungsvertrages mit der Beklagten der Schutz künftiger Patientinnen vor Gesundheitsgefahren der von PIP hergestellten Medizinprodukte war. Dem EU-Konformitätsbewertungsverfahren kommt aus Herstellersicht nicht die Aufgabe zu, ihn im Verhältnis zu Patienten abzusichern oder seine Rückgriffsmöglichkeiten gegenüber der Benannten Stelle bei Fehlerhaftigkeit von Produkten zu erweitern, sondern es dient der Eröffnung des Marktzugangs für den Hersteller ähnlich einem behördlichen Zulassungsverfahren. Zudem ist weder vorgetragen noch ersichtlich, dass die Versicherten der Klägerin ihre Entscheidung zum Einsetzen der Implantate aufgrund der Zertifizierungsleistung der Beklagten getroffen haben. Die Tätigkeit der Beklagten im Rahmen des EU-Konformitätsbewertungsverfahrens trat nach außen nicht in Erscheinung und war insbesondere auch für die Patientinnen nicht erkennbar. Bei dem auf den Implantaten vom Hersteller selbst angebrachten CE-Kennzeichen nach § 6 Abs. 1 MPG handelt es sich gerade nicht um ein besonderes Qualitätssiegel, dem die Patientinnen ein gesteigertes Vertrauen entgegensetzen konnten. Vielmehr war die Zertifizierung für alle Medizinprodukte der Klasse III eine notwendige rechtliche Voraussetzung dafür, dass diese überhaupt in den Verkehr gebracht werden durften.
Allerdings kann eine Haftung der Beklagten nach § 823 Abs. 2 BGB mit der vom Berufungsgericht gegebenen Begründung nicht verneint werden. Bei der im Medizinproduktegesetz getroffenen Regelung zum EU-Konformitätsbewertungs-verfahren und den Rechten und Pflichten der Benannten Stelle bei Medizinprodukten der Klasse III in § 6 Abs. 1 und 2 i.V.m. § 37 MPG, § 7 Abs. 1 Nr. 1 der Verordnung über Medizinprodukte (MPV) und Anhang II der Richtlinie 93/42/EWG handelt es sich um ein den Schutz eines anderen bezweckendes Gesetz im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB. Die hier maßgebliche Regelung zum EU-Konformitätsbewertungsverfahren soll gerade dem Schutz der Gesundheit der Endempfänger der Medizinprodukte dienen; der Individualschutz der einzelnen Patienten steht im Vordergrund. Die Gewährleistung dieses Schutzes obliegt dabei nicht allein dem Hersteller selbst, sondern auch der Benannten Stelle. Ungeachtet ihrer Beauftragung durch den Hersteller hat die Benannte Stelle unter Berücksichtigung ihrer in der Richtlinie 93/42/EWG festgeschriebenen Rechte und Pflichten eine von ihrem Auftraggeber unabhängige Stellung und dient mit ihrer Prüfungstätigkeit nicht nur dem Hersteller, sondern gerade auch den Endempfängern der Medizinprodukte.
Eine solche deliktische Haftung der Benannten Stelle ist auch sinnvoll und im Lichte des haftungsrechtlichen Gesamtsystems tragbar. Die Ablehnung einer deliktischen Haftung der Benannten Stelle bei schuldhaften Pflichtverletzungen würde den Sinn und Zweck des Konformitätsbewertungsverfahrens, das in der europäischen Konzeption des Medizinprodukterechts an die Stelle eines behördlichen Zulassungsverfahrens tritt, infrage stellen und seine Bedeutung entwerten. Angesichts der mit der Verwendung fehlerhafter Medizinprodukte zusammenhängenden Gesundheitsgefahren ist die Schaffung eines individuellen Schadensersatzanspruchs gegen die Benannte Stelle auch aus diesem Grunde sinnvoll. Zur Verhinderung von dem Zweck des Konformitätsbewertungsverfahrens zuwiderlaufenden Anreizen besteht die Notwendigkeit, dass die Benannte Stelle nicht nur dem Risiko einer vertraglichen Haftung gegenüber dem Hersteller im Falle einer zu strengen Prüfung ausgesetzt ist, sondern ebenfalls dem Risiko einer deliktischen Inanspruchnahme durch Dritte bei einer nachlässigen Prüfung.
Das Berufungsgericht wird im weiteren Prozessverlauf Feststellungen zu treffen haben, ob die Voraussetzungen für eine deliktische Haftung der Beklagten im Übrigen – insbesondere also eine relevante Pflichtverletzung bei der Vornahme ihrer Zertifizierungsleistungen – vorliegen.