Auf die einhellige Zustimmung der Sachverständigen ist ein gemeinsamer Gesetzentwurf der Fraktionen von FDP, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen zur Änderung des Grundgesetzes bei einer öffentlichen Anhörung im Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz am 12.02.2020 gestoßen, der die Einfügung des Merkmals der sexuellen Identität in Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG vorsieht.
Aus hib – heute im bundestag Nr. 179 vom 12.02.2020 ergibt sich:
Die rechtliche Situation von Lesben, Schwulen und Bisexuellen habe sich stark verbessert, heißt es in dem Entwurf (BT-Drs. 19/13123 – PDF, 315 KB). Dennoch stoße die Lebensführung etwa von Homosexuellen noch immer auf Vorbehalte, was sich in rechtlicher und sozialer Diskriminierung niederschlage. Das allgemeine Diskriminierungsverbot biete dabei keinen ausreichenden Schutz.
Für die vorgeschlagene Verfassungsänderung sprächen gewichtige Gründe, sagte Sigrid Boysen von der Universität der Bundeswehr in Hamburg. Der Entwurf benenne einen klassischen Diskriminierungsgrund, der den übrigen Merkmalen des Grundgesetzartikels gleichrangig sei. Demgegenüber vermöge insbesondere das Argument, es handele sich angesichts der gefestigten Rechtsprechung des BVerfG um „reine Symbolpolitik“, nicht zu überzeugen. Offen bleibe aber die Frage, mit welcher Begründung der Gesetzentwurf die Anstrengung einer Verfassungsänderung auf Fragen der sexuellen Orientierung beschränke, während trans- und intergeschlechtliche Personen wiederum auf bereits bestehenden Diskriminierungsschutz unter der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung verwiesen würden.
Petra Follmar-Otto vom Deutschen Institut für Menschenrechte erklärte, trotz großer rechtlicher und faktischer Fortschritte bei der Verwirklichung der Menschenrechte von Schwulen, Lesben, Bisexuellen sowie transsexuellen, transgeschlechtlichen und intergeschlechtlichen Menschen (LSBTI) in Deutschland stellten diese nach wie vor eine strukturell diskriminierungsgefährdete Gruppe dar. Eine Ergänzung des Diskriminierungsverbots im Grundgesetz um die Merkmale sexuelle Orientierung sowie körperliche Geschlechtsmerkmale und Geschlechtsidentität wäre deshalb zu begrüßen.
Axel Hochrein vom Bundesvorstand des Lesben- und Schwulenverbands (LSVD) erklärte, die Ergänzung der speziellen Diskriminierungsverbote sei eine vom LSVD seit Jahrzehnten immer wieder an den Gesetzgeber herangetragene Forderung. Obgleich die einfache Gesetzgebung in den letzten Jahrzehnten viele diskriminierende Ungleichbehandlungen von LSBTI-Menschen beseitigt habe, bleibe die Ergänzung des Grundgesetzes um den Begriff der sexuellen Identität sowohl aus Gründen der historischen Erfahrung als auch wegen des fortbestehenden Diskriminierungsrisikos dringend geboten.
Ulrike Lembke von der Humboldt Universität Berlin betonte, dass Diskriminierungen auf Grund der sexuellen Identität traurige Realität darstellten und dass diese Realität grundsätzlich rechtliche Gegenmaßnahmen erfordere. Sie verwies darauf, dass für bestimmte politische Richtungen, die in Europa zunehmend stärker würden, die aggressive Ablehnung nicht-heterosexueller Lebensweisen zum politischen Programm gehörten. Diskriminierungsschutz als Minderheitenschutz sei im demokratischen Rechtsstaat zuvörderst die Aufgabe des Gesetzgebers.
Anna Katharina Mangold von der Europa-Universität Flensburg erklärte, die vorgeschlagene Grundgesetz-Erweiterung diene einer expliziten Klarstellung, dass nämlich in Deutschland niemand mehr aufgrund der sexuellen Identität Diskriminierung erfahren soll. Allen demokratisch orientierten Parteien im Bundestag müsse es Anliegen sein, Schutz vor Diskriminierung für vulnerable Personengruppen in der Verfassung zu verankern. Es sei unbedingt geboten, für klare Verhältnisse zu sorgen und den Schutz von gleichgeschlechtlich liebenden Menschen in das Grundgesetz aufzunehmen. Gleiches gelte für alle Menschen, die nicht dem binären Geschlechtsmodell entsprechen können oder wollen, insbesondere trans- und intergeschlechtliche Personen.
Joachim Wieland von der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer sagte, das verfassungsrechtliche Diskriminierungsverbot des Grundgesetzes erstrecke sich bislang nicht auf die sexuelle Orientierung beziehungsweise sexuelle Identität. Die vom Gesetzentwurf beabsichtigte Einfügung dieses Merkmals schließe daher eine Schutzlücke. Dies sollte vor allem deswegen erfolgen, weil nicht nur die Nationalsozialisten Menschen wegen ihrer sexuellen Identität verfolgt haben, sondern auch unter der Geltung des Grundgesetzes das BVerfG 1957 und 1973 die Verfassungsmäßigkeit der Strafbarkeit homosexueller Handlungen bestätigt und damit Homosexuelle staatlich diskriminiert hat.
Ferdinand Wollenschläger von der Universität Augsburg erklärte, zwar bewirke die vorgesehene Ergänzung aus verfassungsrechtlicher Sicht keine nennenswerte Verstärkung des Schutzes vor Diskriminierungen im Vergleich zur aktuellen Rechtslage und erscheine insoweit nicht erforderlich. Vor dem Hintergrund namentlich der Leitbildfunktion der Verfassung seien die im Gesetzentwurf betonte „Symbolfunktion“ der Verfassungsänderung und deren „Signalwirkung in die Gesellschaft hinein“ jedoch legitime Anliegen. Dies sei das gewichtigste der im Gesetzentwurf angeführten Argumente. Insoweit sei politisch zu entscheiden, ob eine entsprechende Ergänzung angezeigt ist.
Auch der Berliner Rechtsanwalt Dirk Siegfried, der vor dem BVerfG wichtige Urteile für die Gleichstellung von Eingetragenen Lebenspartnerschaften errungen hat, unterstützte den Entwurf der drei Parteien. Die Leitsätze des BVerfG seien angesichts von weiterhin in der Gesellschaft propagierten Familienbildern wenig wert, sagte Siegfried. Deswegen werde eine grundgesetzliche Absicherung der sexuellen Identität und anderer Lebensweisen dringend gebraucht.