Der Bundesgerichtshof hat mit Urteil vom 19. Dezember 2024 zum Aktenzeichen III ZR 24/23 entschieden, dass im Lebensmittelrecht zwischen dem Lebensmittelunternehmer und den für die Überwachung der Lebensmittelsicherheit zuständigen Behörden ein Kooperationsverhältnis besteht, auf Grund dessen der Lebensmittelunternehmer verpflichtet ist, bei einer öffentlichen Produktwarnung beziehungsweise bei einem Produktrückruf mit den zuständigen Behörden – deren Sachverhaltsermittlungspflicht begrenzend – aktiv zusammenzuarbeiten.
Aus der Pressemitteilung des BGH Nr. 240/2024 vom 19.12.2024 ergibt sich:
Sachverhalt:
Der Kläger macht als Insolvenzverwalter über das Vermögen der S-Gesellschaft für Wurst- und Schinkenspezialitäten mbH (im Folgenden: S-GmbH oder Insolvenzschuldnerin) gegenüber dem beklagten Freistaat Bayern Schadensersatzansprüche aus Amtshaftung im Zusammenhang mit einer öffentlichen Produktwarnung geltend.
Die S-GmbH stellte Wurst- und Schinkenprodukte sowie vegetarische Nahrungsmittel her. Am 16. März 2016 entnahm die Lebensmittelüberwachung in einem Verbrauchermarkt eine Probe des von der Insolvenzschuldnerin hergestellten Produkts „Original Bayerisches Wacholderwammerl“. In dieser Probe stellte das Bayerische Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL) Listerien weit über dem zulässigen Grenzwert fest. Listerien sind Bakterien, die insbesondere für Schwangere, Neugeborene und Immungeschwächte lebensgefährlich sein können.
Im April 2016 wurden im Betrieb der Insolvenzschuldnerin in mehreren Proben von Wammerlprodukten erneut Listerien qualitativ festgestellt. Am 19. Mai 2016 teilte das Ministerium für Ländlichen Raum und Verbraucherschutz Baden-Württemberg dem Bayerischen Staatsministerium für Umwelt und Verbraucherschutz mit, Untersuchungen beim Robert Koch-Institut und beim Bundesamt für Risikobewertung hätten ergeben, dass die im März 2016 entnommene „Wacholderwammerl-Probe“ identisch mit einem humanen Erkrankungs-Cluster sei, an dem in Süddeutschland seit 2012 über 75 Menschen erkrankt seien. Am 27. Mai 2016 übermittelte das LGL der S-GmbH die Ergebnisse der Untersuchungen von Proben, die am 20. sowie zusätzlich am 23. Mai 2016 entnommen worden waren. In Proben von fünf weiteren Produkten wurde eine unzulässige Belastung mit Listerien festgestellt.
Ebenfalls am 27. Mai 2016 kamen die zuständigen Behördenmitarbeiter des Beklagten bei einer Telefonkonferenz unter Leitung des Bayerischen Staatsministeriums für Umwelt und Verbraucherschutz zu dem Ergebnis, dass es erforderlich sei, die Öffentlichkeit zu informieren. Die S-GmbH wurde zu der beabsichtigten Pressemitteilung, in der vor ihren Produkten gewarnt werden sollte, angehört und beantragte am selben Tag um 16.34 Uhr beim Verwaltungsgericht, dem Beklagten im Wege der einstweiligen Anordnung gemäß § 123 VwGO zu untersagen, vor den Produkten der S-GmbH öffentlich zu warnen. Diesen Antrag lehnte das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom selben Tag ab.
Das Bayerische Staatsministerium für Umwelt und Verbraucherschutz warnte daraufhin in einer noch am 27. Mai 2016 in den Abendstunden veröffentlichten Pressemitteilung vor allen Schinken- und Wurstprodukten der S-GmbH wegen einer möglichen Kontamination mit Listeria monocytogenes.
Aufgrund eines sofort vollziehbaren Bescheids der Lebensmittelüberwachungsbehörde rief die S-GmbH am 29. Mai 2016 in einer Pressemitteilung alle Produkte ihres Sortiments zurück und stellte die Auslieferung von Waren aus dem Produktionsstandort G. ein.
Der Kläger hat Schadensersatz in Höhe von 46.591,90 € begehrt wegen des Rückrufs von nachpasteurisierten beziehungsweise vor dem Verzehr zwingend zu erhitzenden Produkten, von denen nach seiner Behauptung keine gesundheitlichen Gefahren ausgegangen seien. Außerdem hat er Ersatz des durch die Insolvenz der S-GmbH entstandenen Schadens verlangt, den er mit 10.709.199,73 € beziffert hat.
Prozessverlauf:
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Oberlandesgericht das landgerichtliche Urteil abgeändert. Unter Berücksichtigung eines Mitverschuldens des Geschäftsführers der S-GmbH bestehe ein Anspruch des Klägers auf Ersatz von zwei Dritteln des Schadens, welcher dadurch entstanden sei, dass in der Pressemitteilung vom 27. Mai 2016 undifferenziert vor dem Konsum sämtlicher Schinken- und Wurstprodukte gewarnt und bestimmte in der Verpackung – werkseitig – nachpasteurisierte Produkte von der Warnung und der Rückruf- und Untersagungsanordnung nicht ausgenommen worden seien.
Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs:
Die Revision des Beklagten hatte Erfolg. Sie führte zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht, soweit zum Nachteil des Beklagten erkannt wurde.
Mit Recht hat das Berufungsgericht angenommen, dass eine Warnung vor dem Verzehr potentiell gefährlicher Schinken- und Wurstprodukte der S-GmbH auf der Grundlage von § 39 Abs. 2 Satz 1, Satz 2 Nr. 9, § 40 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 3 des Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuchs (LFGB) in der Fassung der Bekanntmachung vom 26. Januar 2016 Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuchs (LFGB) i.V.m. Art. 10 der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Januar 2002 zur Festlegung der allgemeinen Grundsätze und Anforderungen des Lebensmittelrechts, zur Errichtung der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit und zur Festlegung von Verfahren zur Lebensmittelsicherheit (Basisverordnung) grundsätzlich ergehen durfte.
Im Zeitpunkt der Produktwarnung lagen hinreichende Anhaltspunkte für eine von Erzeugnissen der Insolvenzschuldnerin ausgehende Gefährdung für die Sicherheit und Gesundheit der Verbraucher vor. Die Anhaltspunkte für eine Gesundheitsgefährdung beschränkten sich dabei nicht auf Wammerlprodukte, sondern erfassten auch weitere Wurstprodukte.
Indessen ist die Würdigung des Berufungsgerichts, die zuständigen Beamten hätten amtspflichtwidrig gehandelt, da sie nachpasteurisierte Produkte von der Warnung nicht ausgenommen hätten, nicht frei von Rechtsfehlern. Auf der Grundlage der vom Berufungsgericht getroffenen Feststellungen kann nicht angenommen werden, dass nachpasteurisierte Produkte von der Warnung hätten ausgenommen werden müssen. Das Berufungsgericht hat nämlich festgestellt, dass keiner der als Zeugen vernommenen Mitarbeiter der Gesundheitsbehörden bei seit 2011 durchgeführten Betriebskontrollen Wahrnehmungen gemacht oder Unterlagen gesehen hat, die auf ein Nachpasteurisieren von Produkten hätten schließen lassen. Insbesondere enthielten weder die Produktlisten der S- GmbH noch die Gefahrenanalysen (sog. HACCP = Hazard Analysis Critical Control Points) Hinweise auf eine Nachpasteurisierung, obwohl diese als kritischer Kontrollpunkt hätte ausgewiesen werden müssen. Ebenso wenig erfolgten mündliche Hinweise vonseiten des damaligen Geschäftsführers der S-GmbH oder von Beschäftigten auf einen Nachpasteurisierungsprozess.
Die zuständigen Beamten waren nicht verpflichtet, von sich aus durch Befragung des Personals der Insolvenzschuldnerin gleichsam „ins Blaue hinein“ zu eruieren, ob und welche nachpasteurisierten Erzeugnisse die Insolvenzschuldnerin in ihrem Sortiment führte. Was ein Amtsträger trotz sorgfältiger und gewissenhafter Prüfung im Zeitpunkt seiner Entscheidung „nicht sieht“ und nach den ihm zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen auch „nicht zu sehen braucht“, kann von ihm nicht berücksichtigt werden und braucht von ihm auch nicht berücksichtigt zu werden. Das Berufungsgericht hat die Anforderungen an die Pflicht zur Sachverhaltsermittlung überspannt und verkannt, dass es der Insolvenzschuldnerin auf Grund ihrer Mitwirkungs- und Kooperationspflicht oblag, auf unbedenkliche Produkte in ihrem Sortiment von sich aus aktiv hinzuweisen.
Die Amtsermittlungspflicht der zuständigen Beamten war auf Grund des zwischen der Insolvenzschuldnerin als Lebensmittelunternehmer und den Behörden des Beklagten bestehenden Kooperationsverhältnisses begrenzt. Die Insolvenzschuldnerin war verpflichtet, an der Warnung aktiv mitzuwirken und dafür Sorge zu tragen, dass die Verbraucher zutreffend darüber informiert wurden, von welchen Produkten eine Gefährdung ausging. Die Insolvenzschuldnerin traf diesbezüglich nicht nur eine allgemeine Mitwirkungsobliegenheit, sondern eine echte Mitwirkungs- und Kooperationspflicht.
Nach der Systematik des Unionsrechts sind die Unternehmen primär und vollumfänglich für die Sicherheit von Erzeugnissen und die Einhaltung der einschlägigen Normen verantwortlich. Art. 19 Abs. 4 Basisverordnung sieht ausdrücklich vor, dass die Lebensmittelunternehmer bei Maßnahmen, die getroffen werden, um die Risiken durch ein Lebensmittel, das sie liefern oder geliefert haben, zu vermeiden oder zu verringern, mit den zuständigen Behörden zusammenarbeiten müssen.
Die Insolvenzschuldnerin war nach den dargelegten Grundsätzen verpflichtet, an der Warnung aktiv mitzuwirken. Auf nachpasteurisierte und damit unbedenkliche Produkte in ihrem Sortiment hätte sie schon deshalb hinweisen müssen, weil es sich bei der Nachpasteurisierung um einen betriebsinternen Vorgang im Rahmen der Produktion handelte, der sich außerhalb der Wahrnehmung der Behörden abspielte.
Die Pflicht der zuständigen Beamten, den Sachverhalt von sich aus durch eigene Ermittlungen weiter aufzuklären, war auf Grund der der Insolvenzschuldnerin obliegenden Mitwirkungs- und Kooperationspflicht begrenzt. Die Gesundheitsbehörden durften darauf vertrauen, dass die Insolvenzschuldnerin einen Hinweis auf nachpasteurisierte Lebensmittel spätestens nach Ankündigung der umfassenden Produktwarnung vorgebracht hätte.
Das Berufungsgericht hat jedoch die Behauptung des Klägers dahinstehen lassen, die Behördenmitarbeiter hätten positive Kenntnis von der Nachpasteurisierung gehabt, und die hierfür benannten Zeugen nicht vernommen. Selbst wenn diese noch zu vernehmenden Zeugen das positive Wissen der Behördenmitarbeiter um den Nachpasteurisierungsprozess nicht bestätigen sollten, erscheint es nicht ausgeschlossen, dass sich daraus Anhaltspunkte für ein fahrlässiges Verhalten von Amtsträgern ergeben könnten.
Die noch zu treffenden ergänzenden Feststellungen sind auch entscheidend dafür, ob eine Amtspflichtverletzung zudem darin zu sehen ist, dass der angeordnete Produktrückruf und die Untersagung, Produkte aus der Produktionsanlage in G. als Lebensmittel in den Verkehr zu bringen, auch nachpasteurisierte Produkte umfassten.