Eigenrechte der Natur erhöhen Schadensersatz

16. August 2024 -

Das Landgericht Erfurt hat mit Urteil vom 02.08.2024 zum Aktenzeichen 8 O 1373/21 entschieden, dass in Abgas-Fällen bei der Bestimmung des Schadensersatzes auch die Rechte der Natur zu berücksichtigen sind.

Eigenrechte der Natur treten schutzverstärkend hinzu, die sich aus der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ergeben. Diese Rechte der Natur sind – wie in zahlreichen anderen Rechtsordnungen, etwa in Südamerika – von Amts wegen und unabhängig von entsprechendem Vortrag der Parteien oder einer ausdrücklichen Berufung hierauf zu berücksichtigen.

Da in den Dieselfällen Unionsrecht einschlägig ist, ist die Charta – wie ein „Schatten“ des Unionsrechts – ebenfalls anwendbar, Art. 51 Abs. 1. Aus den Rechten der Charta, insbesondere aus Art. 2 und Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 37, lassen sich Eigenrechte der Natur begründen, die auch im vorliegenden Fall Berücksichtigung verlangen. Diese Grundrechte sind nämlich ihrem Wesen nach auf die Natur oder einzelne Ökosysteme – ökologische Personen – anwendbar. Es kann dabei offenbleiben, ob vorliegend die Natur als solche oder aber einzelne durch Abgase (besonders) geschädigte Ökosysteme Schutz verlangen. Aus der Charta ergibt sich das umfassende Recht ökologischer Personen, dass ihre Existenz, ihr Erhalt und die Regenerierung ihrer Lebenszyklen, Struktur, Funktionen und Entwicklungsprozesse geachtet und geschützt werden.

Der Anerkennung solcher Rechte steht nicht entgegen, dass sie der im Jahr 2000 tagende Grundrechtekonvent noch nicht in den Blick genommen hatte. Bekanntlich stellt der Originalism in Europa keinen maßgeblichen Auslegungstopos dar. Zudem war der Grundrechtekonvent für ökologische Belange und Anliegen durchaus aufgeschlossen.

Insbesondere ist die Charta – wie die Europäische Menschenrechtskonvention – ein lebendiges Instrument („living instrument“), mit dem auf neue Gefährdungslagen angemessen reagiert werden kann. Die Anerkennung von spezifischen Rechten ökologischer Personen durch Auslegung und Anwendung des geltenden Unionsrechts ist aufgrund der Wichtigkeit und Dringlichkeit der ökologischen Herausforderungen – Klimawandel, Artensterben und Globalvermüllung – und angesichts drohender irreversibler Schäden geboten.

Die Gewährung von Rechtssubjektivität für ökologische Personen, wie es vor kurzem in Spanien für die Salzwasserlagune Mar Menor durch den Gesetzgeber erfolgt ist, entspricht dem Menschenbild der Charta. Deren Präambel betont die Verantwortung und die Pflichten sowohl gegenüber den Mitmenschen als auch gegenüber der menschlichen Gemeinschaft und den künftigen Generationen. Nach Art. 37 der Charta müssen zudem ein hohes Umweltschutzniveau und die Verbesserung der Umweltqualität in die Politik der Union einbezogen und nach dem Grundsatz der nachhaltigen Entwicklung sichergestellt werden. Diesem wesentlichen Ziel der Union dient die Anerkennung von Eigenrechten der Natur.

Der in der Charta vielfach verwendete, offene Begriff „Person“ umfasst – als weitere Rechtssubjekte neben dem Menschen – die Natur oder Ökosysteme wie Flüsse und Wälder. Im ersten Titel der Charta mit den fundamentalen Rechten wird im ursprünglichen deutschen Text wie in zahlreichen weiteren Sprachfassungen nicht der Begriff „Mensch“, vielmehr der deutungsoffene Begriff „Person“ („personne“) verwandt. Das englische „everyone“ kann dem gleichgestellt werden. Da fundamentale Rechte wie das Recht auf Leben in Art. 2 der Charta nicht juristischen Personen zukommen, liegt der überschießende Wert, der Mehrwert des Begriffs „Person“ darin, neben dem Menschen ökologische Personen zu achten und zu schützen.

Es ist im Übrigen kein Grund dafür ersichtlich, zwar juristische Personen – oder künftig Künstliche Intelligenz – umfassend grundrechtlich zu schützen, nicht jedoch ökologische Personen. Letztlich wird nur eine „Waffengleichheit“ hergestellt.

Die Garantie der Menschenwürde in Art. 1 der Charta steht der Anerkennung von Rechten der Natur nicht entgegen, verlangt diesen Schritt vielmehr. Die Anerkennung von Eigenrechten der Natur trägt nämlich dazu bei, dass Menschen auch in Zukunft ein freies und selbstbestimmtes Leben in Würde führen können.

Weiter steht nicht entgegen, dass Art. 2 und sonstige Chartarechte der EMRK entlehnt sind und die Konvention – bisher – wohl keine Eigenrechte der Natur kennt. Art. 52 Abs. 3 S. 2 der Charta lässt es nämlich ausdrücklich zu, dass das Recht der Union einen weiter gehenden Schutz als die Konvention gewährt.

Schließlich gebietet Art. 53 der Charta, rechtsvergleichende Gesichtspunkte in deren Auslegung einfließen zu lassen. In zahlreichen Rechtsordnungen, vor allem im globalen Süden, aber auch in den USA oder in Neuseeland, finden Eigenrechte der Natur verfassungsrechtlich, im Wege der Gesetzgebung oder des Richterrechts Anerkennung und Durchsetzung. Dieser weltweiten, zunehmenden Tendenz verschließt sich der europäische Rechtskreis nicht.

Vor diesem Hintergrund erscheint es rechtsdogmatisch gerechtfertigt, richterrechtlich Eigenrechten der Natur auch in Europa Wirkmacht zu verleihen. Hierbei kann dem Beispiel kolumbianischer oder peruanischer Gerichte gefolgt werden, die – auch ohne einschlägige Gesetzgebung – solche Rechte aus einer Gesamtschau ihrer Rechtsordnungen abgeleitet haben.

Da zwar nicht in wissenschaftlicher Hinsicht, wohl aber in der Rechtsprechung Neuland betreten wird, wurde den Parteien umfassend rechtliches Gehör gewährt.