Teilweise erfolgreiche Verfassungsbeschwerde wegen Verletzung der Mitteilungspflicht nach § 243 Abs. 4 Satz 2 Strafprozessordnung

Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 08. November 2023 2 BvR 294/22 einer Verfassungsbeschwerde gegen eine strafrechtliche Verurteilung teilweise stattgegeben.

Aus der Pressemitteilung des BVerfG Nr. 14/2024 vom 7. Februar 2024 ergibt sich:

Kommt es im Verlauf der Hauptverhandlung zu Erörterungen zwischen Gericht und Verfahrensbeteiligten, die eine Verständigung zum Gegenstand haben, so muss der Vorsitzende nach § 243 Abs. 4 Satz 2 Strafprozessordnung (StPO) deren Gegenstand und wesentlichen Inhalt mitteilen.

Das Amtsgericht verurteilte den Beschwerdeführer wegen gewerbsmäßiger Steuerhehlerei in fünf Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe. Vorausgegangen war eine Verständigung zwischen Gericht und Verfahrensbeteiligten. Im Sitzungsprotokoll heißt es, es sei eine Verständigung herbeigeführt worden; bei einem Geständnis komme keine höhere Gesamtfreiheitsstrafe als ein Jahr mit Strafaussetzung zur Bewährung in Betracht. Das Sitzungsprotokoll enthält insbesondere keine Angaben dazu, wer den Verständigungsvorschlag unterbreitete und wer welchen Standpunkt vertrat. Der Beschwerdeführer legte gegen das amtsgerichtliche Urteil Sprungrevision zum Oberlandesgericht ein. Er ließ sinngemäß vortragen, sein Verteidiger habe ihn über das Ergebnis der Verständigung, nicht aber über weitere Einzelheiten informiert. Das Oberlandesgericht verwarf die Revision als unbegründet.

Das Oberlandesgericht hat Bedeutung und Tragweite des Rechts auf ein faires Verfahren (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG) für die Auslegung und Anwendung der Vorschriften über die Verständigung im Strafprozess nicht hinreichend berücksichtigt. Es hat die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Mitteilungspflicht aus § 243 Abs. 4 Satz 2 StPO sowie an die Beurteilung, ob das amtsgerichtliche Urteil auf einer Verletzung dieser Mitteilungspflicht beruht, verkannt.

Die Sache wird an das Oberlandesgericht zurückverwiesen.

Sachverhalt:

Das Amtsgericht verurteilte den Beschwerdeführer wegen gewerbsmäßiger Steuerhehlerei (§ 374 Abgabenordnung – AO) in fünf Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr, deren Vollstreckung es zur Bewährung aussetzte. Während der Hauptverhandlung regte der Verteidiger des Beschwerdeführers ein Rechtsgespräch an, woraufhin die Sitzung für etwa 20 Minuten unterbrochen wurde. Im Sitzungsprotokoll ist vermerkt:

„Eine Verständigung wurde insoweit herbeigeführt, als dass im Falle eines glaubhaften Geständnisses keine höhere Gesamtfreiheitsstrafe als ein Jahr mit Strafaussetzung zur Bewährung (…) in Betracht komme (…). Der Vertreter der Staatsanwaltschaft tritt neben dem Gericht dieser Verständigung bei.“

Der Verteidiger erklärte für den Beschwerdeführer, dass er die Anklage bestätige.

Der Beschwerdeführer legte gegen das amtsgerichtliche Urteil Sprungrevision ein. Er ließ unter anderem vortragen, in der Sitzung vor dem Amtsgericht sei auf Anregung seines Verteidigers eine Erörterung durchgeführt worden. Er und die Öffentlichkeit seien aufgefordert worden, den Sitzungssaal zu verlassen. Der Strafrichter habe in dem Gespräch gesagt: „Wenn es eine Vereinbarung geben solle, müsse sich diese auf die gesamten Anklagevorwürfe beziehen“. Der Strafrichter, der Verteidiger und der Staatsanwalt hätten im weiteren Gesprächsverlauf unter anderem ihre Standpunkte zu der Art und Höhe der Strafe im Falle eines Geständnisses ausgetauscht. Nach der Erörterung habe ihm sein Verteidiger erklärt, dass seine Sichtweise zum Eingreifen eines Beweisverwertungsverbots nicht geteilt werde, aber eine Bewährungsstrafe gegen Geständnis bei Einräumung aller Vorwürfe laut Anklage von circa einem Jahr für realistisch gehalten werde, die ohne Auflage oder Weisung einer Geldzahlung in Betracht komme. Weitere Umstände der Erörterung seien dem Beschwerdeführer nicht mitgeteilt worden.

Das Oberlandesgericht verwarf die Revision als unbegründet.

Wesentliche Erwägungen der Kammer:

Die Verfassungsbeschwerde ist teilweise zulässig und insoweit auch begründet. Das Oberlandesgericht hat Bedeutung und Tragweite des Rechts auf ein faires Verfahren (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) für die Auslegung und Anwendung der Vorschriften über die Verständigung im Strafprozess nicht hinreichend berücksichtigt. Es hat die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Mitteilungspflicht aus § 243 Abs. 4 Satz 2 StPO sowie an die Beurteilung, ob das amtsgerichtliche Urteil auf einer Verletzung dieser Mitteilungspflicht beruht, verkannt.

Die gesetzlichen Regelungen zur Verständigung im Strafprozess sind getragen von der Absicht des Gesetzgebers, ein Strafverfahren sicherzustellen, das dem fundamentalen und verfassungsrechtlich verankerten Grundsatz der Wahrheitsermittlung sowie der Findung einer gerechten, schuldangemessenen Strafe verpflichtet ist. Um diese Aufgabenstellung zu verwirklichen, hat der Gesetzgeber nicht nur den zulässigen Inhalt von Verständigungen und das Verständigungsverfahren umfassend normieren wollen, sondern einen Schwerpunkt seines Regelungskonzepts in der Herstellung von Transparenz, Öffentlichkeit und einer vollständigen Dokumentation des mit einer Verständigung verbundenen Geschehens gesehen, die wiederum die von ihm als erforderlich bewertete „vollumfängliche“ Rechtsmittelkontrolle ermöglichen und wirksam ausgestalten soll.

Die laut Sitzungsprotokoll des Amtsgerichts erfolgte Mitteilung über die Verständigung durch den Strafrichter genügt nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen an § 243 Abs. 4 Satz 2 StPO.

Der Inhalt des während der Unterbrechung der Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht geführten Gesprächs zwischen dem Vertreter der Staatsanwaltschaft, dem Strafrichter und dem Verteidiger des Beschwerdeführers unterfiel jedenfalls ab dem Zeitpunkt der Mitteilungspflicht nach § 243 Abs. 4 StPO, als der Strafrichter durch die Aussage „Wenn es eine Vereinbarung geben solle, müsse sich diese auf die gesamten Anklagevorwürfe beziehen“ ausdrücklich die Möglichkeit einer Vereinbarung in Betracht gezogen hatte. Spätestens ab diesem Moment war die Erörterung offensichtlich auf eine einvernehmliche Verfahrenserledigung gerichtet.

Die Mitteilung des Strafrichters in der Hauptverhandlung gibt den wesentlichen Inhalt des Verständigungsgesprächs nicht vollständig wieder. Der Strafrichter beschränkte sich darauf, kundzutun, dass eine Verständigung herbeigeführt worden sei und welche Strafe der Beschwerdeführer im Falle eines Geständnisses zu erwarten habe. Nach § 243 Abs. 4 StPO oblag es dem Strafrichter jedoch, darüber hinaus mitzuteilen, welche Standpunkte die einzelnen Gesprächsteilnehmer vertraten, von welcher Seite die Frage einer Verständigung aufgeworfen wurde und ob sie bei den anderen Gesprächsteilnehmern auf Zustimmung oder Ablehnung stieß.

Das Oberlandesgericht dürfte das Beruhen des Urteils des Amtsgerichts auf der Verletzung der Mitteilungspflicht mit verfassungsrechtlich nicht tragfähiger Argumentation ausgeschlossen haben.

Es hat die verfassungsrechtlichen Anforderungen des § 243 Abs. 4 StPO bereits aus dem Grund verfehlt, dass die Frage des Beruhens offensichtlich allein unter dem Gesichtspunkt einer Einwirkung auf das Aussageverhalten des Beschwerdeführers geprüft und die Bedeutung der von dem Verstoß in erster Linie betroffenen, auch dem Schutz des Beschwerdeführers dienenden Kontrollmöglichkeit der Öffentlichkeit außer Acht gelassen worden ist.

Auch bei einer an den Umständen des Einzelfalls ausgerichteten Gesamtbetrachtung drängt sich kein anderes Ergebnis auf. Die Schwere des Verstoßes gegen die Mitteilungspflicht und die Art der in der Hauptverhandlung nicht mitgeteilten Gesprächsinhalte lassen nicht von vornherein ausschließen, dass das Urteil auf dem Verstoß gegen die Mitteilungspflicht beruht.

Es ist bereits nicht ersichtlich, dass das Oberlandesgericht sich mit dem Gesichtspunkt auseinandergesetzt hätte, dass richterliche und nichtrichterliche Mitteilungen nicht von identischer Qualität sein können, sodass auch bei erfolgter Unterrichtung durch den Verteidiger das richterliche Mitteilungsdefizit Auswirkungen auf das Aussageverhalten des Beschwerdeführers gehabt haben könnte.

Es ist zudem zweifelhaft, ob der Beschwerdeführer vor seiner geständigen Einlassung tatsächlich vollumfänglich über den Inhalt des Verständigungsgesprächs unterrichtet worden ist. Das Protokoll zur Hauptverhandlung enthält keine entsprechende Feststellung. Unter Berücksichtigung des Vorbringens des Beschwerdeführers dürfte dieser nicht darüber informiert gewesen sein, von wem die Frage einer Verständigung aufgeworfen worden war, wer den Verständigungsvorschlag unterbreitet hatte und welche konkreten Standpunkte von welchem Gesprächsteilnehmer vertreten worden waren. Diese Informationen geben Aufschluss über die innere Haltung und Einstellung der Vertreter der Strafrechtspflege und können es dem Beschwerdeführer ermöglichen, seine persönliche Situation im Verfahren besser einzuschätzen, verteidigungsrelevante Schlüsse zu ziehen und eine informierte Entscheidung zu treffen.