Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 17. Januar 2024 zum Aktenzeichen 2 BvR 1756/23 entschieden, dass das Strafgericht Ausführungen der Verteidigung beachten muss und ein Strafverfahren auch bei der Eröffnung zügig betrieben werden muss.
Der Beschwerdeführer begehrt die Aufhebung des Haftbefehls des Amtsgerichts Itzehoe sowie der Haftfortdauerentscheidung des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts im ersten Haftprüfungstermin.
Der 37-jährige Beschwerdeführer mit Wohnsitz in Spanien befindet sich seit dem 4. Mai 2023 aufgrund des auf Fluchtgefahr gestützten Haftbefehls des Amtsgerichts Itzehoe vom 25. Juni 2021 ununterbrochen in Untersuchungshaft. Nach dem Haftbefehl ist der Beschwerdeführer dringend verdächtig, in 14 tatmehrheitlichen Fällen, davon in vier Fällen gemeinschaftlich handelnd, jeweils unerlaubt mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge Handel getrieben und davon in drei Fällen Betäubungsmittel in nicht geringer Menge eingeführt zu haben. Der dringende Tatverdacht beruht auf der Auswertung von sogenannten „Encro-Chat“-Daten.
Die Staatsanwaltschaft hat wegen des dem Haftbefehl zugrunde liegenden Sachverhalts am 31. Mai 2023 Anklage zum Landgericht Itzehoe erhoben. Mit Verfügung vom 26. Oktober 2023 legte der Vorsitzende der zuständigen großen Strafkammer die Akten dem Oberlandesgericht zur Entscheidung über die Fortdauer der Untersuchungshaft nach § 121, § 122 Abs. 1 StPO vor. Zur Begründung führte der Vorsitzende aus, die Kammer sei aufgrund einer vorübergehenden Überlastung durch andere Haftsachen, insbesondere vier bereits vor der Anklage in dieser Sache eingegangene umfangreiche Schwurgerichtsverfahren, bereits rein terminlich an der Durchführung einer Hauptverhandlung vor Fristablauf gehindert. Eine Eröffnungsentscheidung sei insbesondere auch deshalb zurückgestellt worden, weil eine Terminierung der Hauptverhandlung in diesem Jahr nicht durchführbar erschienen sei. Der Beginn der Hauptverhandlung sei ab dem 23. Januar 2024 vorgesehen.
Im Haftprüfungsverfahren beantragte der Verteidiger des Beschwerdeführers mit Schriftsatz vom 9. November 2023 die Aufhebung des Haftbefehls, da der Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen verletzt sei. Aus anderen Verfahren sei bekannt, dass die Strafkammer bereits seit 2022 dauerhaft mit Haftsachen ausgelastet sei. Die in seinem Schriftsatz dargestellte Rechtsprechung der Obergerichte und des Bundesverfassungsgerichts zugrunde gelegt, sei hier kein anderer wichtiger Grund im Sinne des § 121 Abs. 1 StPO gegeben. Die dauerhaft anhaltende vollständige Auslastung der Kammer sei jedenfalls kein kurzfristig unvorhersehbarer Umstand. Eine ernsthafte Einarbeitung des Gerichts in die Sache habe auch knapp sechs Monate nach Anklageerhebung noch nicht begonnen, eine Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens sei noch nicht getroffen.
Mit Beschluss vom 10. November 2023 ordnete das Schleswig-Holsteinische Oberlandesgericht auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft die Fortdauer der Untersuchungshaft an. Die Haftfortdauer über sechs Monate hinaus sei aus wichtigem Grund gerechtfertigt und auch nicht unverhältnismäßig. Zur Begründung schloss sich das Oberlandesgericht den Ausführungen der Generalstaatsanwaltschaft an: Es sei der bei der Jahresgeschäftsverteilung 2023 nicht vorhersehbaren ungewöhnlich hohen Belastung der Kammer geschuldet, dass der Beginn der Hauptverhandlung erst ab dem 23. Januar 2024 vorgesehen sei. Die Kammer verhandele derzeit zwei umfangreiche Schwurgerichtsverfahren mit 77 beziehungsweise 127 in den Anklagen benannten Zeugen, weshalb Hauptverhandlungstermine nicht mehr zur Verfügung stünden. Bis Jahresende müsse die Kammer eine weitere, bereits länger eingegangene Haftsache gegen einen minderjährigen Angeklagten verhandeln. Die kurzfristige Überlastung der Kammer beruhe nicht auf gerichtsorganisatorischen Gründen, so dass die Verfahrensverzögerung insbesondere angesichts der Schwere der dem Angeschuldigten vorgeworfenen Straftaten keinen durchgreifenden Bedenken begegne.
Das Oberlandesgericht führte am Ende seines Beschlusses aus, der Schriftsatz der Verteidigung vom 9. November 2023 habe dem Senat vorgelegen.
Das Oberlandesgericht wäre zu Ausführungen dazu verpflichtet gewesen, weshalb es das substantiierte Kernvorbringen des Verteidigers in dessen Schriftsatz vom 9. November 2023 gegen die Fortdauer der Untersuchungshaft für nicht relevant oder überzeugend hielt. Ein Gehörsverstoß scheidet nicht deshalb aus, weil das Oberlandesgericht am Ende seiner Entscheidung die Bemerkung anfügte, der Schriftsatz der Verteidigung habe dem Senat vorgelegen. Die Bemerkung ändert am Schweigen des Oberlandesgerichts zu den vorgetragenen Argumenten des Verteidigers nichts. Sie widerspricht auch in diesem Fall nicht der Folgerung, das Oberlandesgericht habe die vorgetragenen, entscheidungserheblichen Gründe nicht hinreichend erwogen. Eine Positionierung des Oberlandesgerichts zu den vorgebrachten Argumenten ergibt sich aus dieser Bemerkung nicht. Mit der Anhörungsrüge hätte der Beschwerdeführer die Möglichkeit gewahrt, dass eine Grundrechtsverletzung durch das Oberlandesgericht selbst beseitigt wird.
Der Beschluss des Oberlandesgerichts wird den verfassungsrechtlichen Maßstäben nicht gerecht. Das Verfahren wurde nach Eingang der Anklageschrift beim Landgericht nicht in der durch das Gewicht des Freiheitseingriffs gebotenen Zügigkeit gefördert.
Es handelt sich bei der hier eingetretenen Verzögerung nicht um eine nur kleinere Verfahrensverzögerung, die entsprechend dem Gewicht der zu ahndenden Straftat die Fortdauer der Untersuchungshaft rechtfertigen könnte. Das Landgericht hatte trotz Ablaufs von mehr als fünf Monaten seit dem Eingang der Anklage am 31. Mai 2023 noch nicht über die Zulassung der Anklage und die Eröffnung des Hauptverfahrens (§§ 199 ff. StPO) entschieden. Anhaltspunkte dafür, dass jedenfalls nach Ablauf der Frist zur Stellungnahme des Beschwerdeführers am 4. Juli 2023 noch keine Eröffnungsreife vorgelegen haben könnte, sind nicht ersichtlich. Noch ausstehende Ermittlungen sind nicht genannt. Die Bezeichnung dieser Verzögerung im angefochtenen Beschluss als „kurzfristig“ ist nicht nachvollziehbar.
Die vom Oberlandesgericht für die Verzögerung im Zwischenverfahren angeführten Gründe rechtfertigen den Eingriff in das Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 GG nicht.
Die „ungewöhnlich hohe Belastung der Kammer“ durch bereits vor der Anklage des Beschwerdeführers eingegangene Schwurgerichtsverfahren stellen vom Beschwerdeführer nicht zu vertretende, sachlich nicht gerechtfertigte Umstände dar. Diesen Umständen kann zur Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft nicht allein die Schwere der Tat und die sich daraus ergebende Straferwartung entgegengehalten werden. Da die Überlastung eines Gerichts in den Verantwortungsbereich der staatlich verfassten Gemeinschaft fällt, kommt es jedenfalls angesichts der hier gegebenen, nicht nur kurzfristigen Überlastung auf deren Vorhersehbarkeit nicht an.
Der vom Oberlandesgericht für die Verzögerung zusätzlich angeführte Umstand, der Kammer stünden vor dem Sechsmonatstermin keine Hauptverhandlungstermine mehr zur Verfügung, stellt bereits keine schlüssige Begründung dafür dar, weshalb zumindest eine Eröffnung des Hauptverfahrens noch nicht hatte erfolgen können. Auch im Zwischenverfahren muss das Verfahren mit der gebotenen Zügigkeit gefördert werden, um bei Entscheidungsreife über die Zulassung der Anklage zur Hauptverhandlung zu beschließen. Jedenfalls kann allein die Üblichkeit, die Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens mit der Verfügung des Vorsitzenden über die Terminierung der Hauptverhandlung zeitlich zusammen vorzunehmen, keine Verzögerung einer Eröffnungsentscheidung rechtfertigen, sollte eine Terminierung der Hauptverhandlung noch nicht möglich sein.