§ 15 Absatz 2 Satz 2 des Conterganstiftungsgesetzes ist mit dem Grundgesetz vereinbar

10. Januar 2024 -

Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 21. November 2023 zum Aktenzeichen 1 BvL 6/21 auf eine Vorlage des Bundesverwaltungsgerichts entschieden, dass § 15 Abs. 2 Satz 2 des Gesetzes über die Conterganstiftung für behinderte Menschen (Conterganstiftungsgesetz – ContStifG) in den Fassungen vom 26. Juni 2013 und vom 21. Februar 2017 mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Nach dieser zum 1. August 2013 in Kraft getretenen Vorschrift werden Zahlungen, die wegen der Einnahme thalidomidhaltiger Präparate von Anderen, insbesondere von ausländischen Staaten, geleistet werden, auf die nach dem Conterganstiftungsgesetz zu zahlende Kapitalentschädigung und Conterganrente angerechnet.

Aus der Pressemitteilung des BVerfG Nr. 4/2024 vom 10. Januar 2024 ergibt sich:

Seit 1972 erbringt die staatliche Conterganstiftung Rentenzahlungen und weitere Leistungen an contergangeschädigte Personen im In- und Ausland. Der Kläger des Ausgangsverfahrens, ein Contergangeschädigter mit Wohnsitz in Irland, bezieht zusätzlich zur deutschen Conterganrente Leistungen des irischen Staates wegen seiner Conterganschädigung. Aufgrund von § 15 Abs. 2 Satz 2 ContStifG wird diese Zahlung seit dem Jahr 2013 auf die Conterganrente des Klägers angerechnet. Hiergegen wandte er sich bislang erfolglos an die Fachgerichte.

§ 15 Abs. 2 Satz 2 ContStifG ist mit dem Grundrecht auf Eigentum (Art. 14 Abs. 1 GG) der von der Anrechnung betroffenen Bezieherinnen und Bezieher von Conterganrenten und mit dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) vereinbar. Die Conterganrente unterfällt in ihrem gesetzlich gewährten Bestand dem Eigentumsschutz. Die Anrechnungsregelung des § 15 Abs. 2 Satz 2 ContStifG greift als Inhalts- und Schrankenbestimmung in die Eigentumsrechte der Conterganrentenbezieher ein. Der Eingriff ist jedoch gerechtfertigt. Die Regelung verhindert Doppelleistungen und vermeidet damit Beeinträchtigungen der Gleichstellung der Leistungsempfänger.

Sachverhalt:

Zwischen 1958 und 1962 kamen weltweit etwa 10.000 Kinder von Müttern, die während der Schwangerschaft thalidomidhaltige Schlaf- und Beruhigungsmittel des Pharmaunternehmens Chemie Grünenthal GmbH (Grünenthal) eingenommen hatten, mit schweren Fehlbildungen ihrer Gliedmaßen und anderen Körperschäden zur Welt. Im Jahr 1970 verpflichtete sich Grünenthal im Wege eines Vergleichs zur Zahlung von 100 Millionen DM an contergangeschädigte Kinder, sofern diese und ihre Eltern auf alle Ansprüche gegen Grünenthal verzichteten. Der Vergleich gelangte nicht zur Durchführung.

Das im Jahr 1972 in Kraft getretene Gesetz über die Errichtung einer Stiftung „Hilfswerk für behinderte Kinder“ (Stiftungsgesetz – StHG) sah die Errichtung einer Stiftung des öffentlichen Rechts vor, deren Zweck es unter anderem war, Leistungen an contergangeschädigte Kinder im In- und Ausland zu erbringen. In die später in Conterganstiftung umbenannte Stiftung flossen 100 Millionen DM aus Bundesmitteln und 100 Millionen DM von Grünenthal. Das Stiftungsgesetz regelte das Erlöschen aller Ansprüche inländischer Betroffener gegen Grünenthal; bei im Ausland wohnhaften Geschädigten war der Anspruch auf Leistungen nach dem Stiftungsgesetz an einen Verzicht auf Ansprüche gegen Grünenthal geknüpft. Seit 1997 werden Conterganrenten vollständig aus Bundeshaushaltsmitteln finanziert. 2005 wurde das Stiftungsgesetz durch das Conterganstiftungsgesetz abgelöst.

Nach § 13 Abs. 1 Satz 1 ContStifG stehen contergangeschädigten Personen unter anderem eine einmalige Kapitalentschädigung und eine lebenslängliche Conterganrente zu. Die Höhe der Leistungen richtet sich nach der Schwere des Körperschadens und der hierdurch hervorgerufenen Körperfunktionsstörungen. Mit dem am 1. August 2013 in Kraft getretenen Dritten Gesetz zur Änderung des Conterganstiftungsgesetzes (3. Änderungsgesetz) wurden die Leistungen mit Blick auf die veränderte Bedarfssituation der älter werdenden Leistungsberechtigten erheblich ausgeweitet. So wurden das maximale Rentenniveau auf das 6,3-Fache angehoben und ein zusätzlicher Anspruch auf Leistungen zur Deckung spezifischer Bedarfe geschaffen. 2013 betrug die monatliche Conterganrente zwischen 612 Euro und 6.912 Euro. Mit dem 3. Änderungsgesetz wurde auch die hier zur Überprüfung gestellte Vorschrift des § 15 Abs. 2 Satz 2 ContStifG eingeführt. Hiernach werden auf die Kapitalentschädigung und die Conterganrente Zahlungen angerechnet, die wegen der Einnahme thalidomidhaltiger Präparate von Anderen, insbesondere von ausländischen Staaten, geleistet werden. Mit der Anrechnungsvorschrift reagierte der Gesetzgeber auf staatliche Doppelleistungen an Geschädigte, die eine im Auftrag der Conterganstiftung erstellte internationale Vergleichsstudie ermittelt hatte. Mit dem Vierten Gesetz zur Änderung des Conterganstiftungsgesetzes wurde die monatliche Conterganrente im Jahr 2017 auf mindestens 662 Euro und höchstens 7.480 Euro erhöht.

Der Kläger des Ausgangsverfahrens, ein thalidomidgeschädigter irischer Staatsbürger mit Wohnsitz in Irland, erhält als Leistungen der Conterganstiftung unter anderem eine Conterganrente. Zusätzlich erhält er nach dem Irish Thalidomide Compensation Scheme, einem Entschädigungsprogramm des irischen Staates für irische Contergangeschädigte, eine monatliche Zahlung. Mit im Juli 2013 ergangenem Bescheid rechnete die Conterganstiftung nach § 15 Abs. 2 Satz 2 ContStifG die monatliche Zahlung des irischen Staates in Höhe von 1.109 Euro auf die monatliche Conterganrente des Klägers in Höhe von 3.686 Euro ab August 2013 an. Der Kläger wandte sich hiergegen bislang erfolglos an die Fachgerichte. Das im Rahmen der Revision vom Kläger angerufene Bundesverwaltungsgericht hat das Verfahren ausgesetzt und dem Bundesverfassungsgericht die Frage zur Entscheidung vorgelegt, ob § 15 Abs. 2 Satz 2 ContStifG mit dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) und dem Grundrecht auf Eigentum (Art. 14 Abs. 1 GG) vereinbar ist.

Wesentliche Erwägungen des Senats:

§ 15 Abs. 2 Satz 2 ContStifG ist mit Art. 14 Abs. 1 GG und mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar.

Die Conterganrente unterfällt dem Eigentumsschutz des Art. 14 Abs. 1 GG.

Sozialrechtliche Ansprüche genießen nur dann grundrechtlichen Eigentumsschutz, wenn es sich um vermögenswerte Rechtspositionen handelt, die dem Rechtsträger nach Art eines Ausschließlichkeitsrechts privatnützig zugeordnet sind, auf nicht unerheblichen Eigenleistungen beruhen und seiner Existenzsicherung dienen.

Die konkrete Reichweite des Schutzes durch die Eigentumsgarantie ergibt sich aus der Bestimmung von Inhalt und Schranken des Eigentums. Wird durch dieselbe Maßnahme des Gesetzgebers eine von Art. 14 Abs. 1 GG geschützte Rechtsposition einerseits erweitert, andererseits eingeschränkt (gemischte Umgestaltung), bestimmt sich die Reichweite des Eigentumsschutzes nach dem Verhältnis von Zuteilungs- und Entziehungsakt. Maßgeblich ist, ob der Zuteilungsakt eine von Art. 14 Abs. 1 GG geschützte erweiterte Rechtsposition schafft, in die der Entziehungsakt eingreift, oder ob eine einheitliche Inhalts- und Schrankenbestimmung getroffen wird, nach der die Zuteilung von vornherein im Umfang des Entziehungsakts begrenzt wird. Das Verhältnis von Zuteilungs- und Entziehungsakt ist anhand der gesetzgeberischen Gesamtkonzeption zu bestimmen.

Die Conterganrente unterfällt als sozialrechtliche Position in ihrem gesetzlich gewährten Bestand dem Eigentumsschutz.

Der Rentenanspruch weist die für sozialrechtliche Positionen eigentumskonstituierenden Merkmale der privatnützigen Zuordnung und der grundsätzlichen Verfügungsbefugnis, des Beruhens auf nicht unerheblichen Eigenleistungen und der Bestimmung zur Existenzsicherung auf. Insbesondere beruht er auf nicht unerheblichen Eigenleistungen der Berechtigten. Das Erlöschen der Ansprüche gegen Grünenthal und die staatliche Einvernahme der Vergleichszahlung von 100 Millionen DM bewirkten auf Kosten und zu Gunsten der Geschädigten eine gesetzliche Neuordnung, nämlich die Entstehung der sozialrechtlichen Position des § 14 StHG.

Der dem Rentenanspruch zukommende Eigentumsschutz schützt diesen auch vor einer Anrechnung nach § 15 Abs. 2 Satz 2 ContStifG. Der Umstand, dass die substanzielle Erhöhung des Rentenanspruchs und die Einführung der Anrechnungsvorschrift im 3. Änderungsgesetz zusammenfielen, gebietet keine andere Bewertung. Diese gemischte Umgestaltung stellt keine einheitliche Inhalts- und Schrankenbestimmung dar, weil die Rentenerhöhung und die gleichzeitig verabschiedete Anrechnung nach der gesetzgeberischen Konzeption nicht untrennbar zusammengehören.

§ 15 Abs. 2 Satz 2 ContStifG, der keine Enteignung darstellt, genügt den verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine Inhalts- und Schrankenbestimmung des Eigentums nach Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG.

Die Anrechnungsvorschrift erweist sich nicht schon deshalb als verfassungswidrig, weil der Gesetzgeber gegen an die Gesetzgebung zu stellende Rationalisierungsanforderungen verstoßen hätte. Eine allgemeine selbständige, von den Anforderungen an die materielle Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes unabhängige Sachaufklärungspflicht folgt aus dem Grundgesetz nicht. Es liegt auch kein Verstoß gegen eine verfassungsrechtliche Pflicht zur Gesetzesbegründung vor. Eine solche besteht nicht.

Die in § 15 Abs. 2 Satz 2 ContStifG angeordnete Anrechnung verfolgt legitime Zwecke.

Der gesetzgeberische Zweck, den Empfang von Doppelleistungen zu verhindern, ist verfassungsrechtlich legitim. Denn eine gesetzliche Regelung darf sicherstellen, dass vergleichbare deutsche und ausländische Leistungen nur einmal gewährt werden. Ausreichend ist, dass beide Leistungen in ihrer Funktion tatsächlich vergleichbar sind. Auch die darüber hinaus vom Gesetzgeber verfolgten Ziele, Ungleichheit zwischen den Geschädigten zu vermeiden, die Leistungsfähigkeit der Solidargemeinschaft zu sichern und öffentliche Mittel sparsam einzusetzen, sind verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

§ 15 Abs. 2 Satz 2 ContStifG ist zur Verfolgung dieser Gemeinwohlziele geeignet.

Insbesondere stellen die von der Anrechnung erfassten Leistungen eine zu verhindernde Doppelleistung dar, weil sie – wie die deutsche Conterganrente – spezifisch und ausschließlich einen Ausgleich für die Conterganschädigung gewähren. Der Entstehungsgrund der Rentenansprüche schließt verfassungsrechtlich die Vergleichbarkeit beider Ansprüche nicht aus; der Anrechnung steht weder ein Verbot der Anrechnung von allgemeinen Sozialleistungen auf Ansprüche mit Entschädigungsfunktion noch ein aus dem haftungsrechtlichen Hintergrund des Anspruchs folgendes Verbot des Vorteilsausgleichs entgegen. Eine verfassungsrechtliche Anforderung an den Gesetzgeber, bei der Identifikation sozialer Doppelleistungen eine wertende Gesamtbetrachtung unter Einbeziehung des allgemeinen Niveaus aller staatlichen Sozialleistungen und aller sonstigen Vergünstigungen anzustellen, besteht nicht.

Die in § 15 Abs. 2 Satz 2 ContStifG angeordnete Anrechnung ist zur Erreichung der genannten Zwecke erforderlich. Der Eingriff in das Eigentumsgrundrecht der Rentenbezieherinnen und Rentenbezieher ist auch angemessen.

Die Conterganrente genießt eine besondere, nicht aber eine unbeschränkte Schutzwürdigkeit. Denn die Schutzwürdigkeit des Eigentums in seiner Bedeutung als individuelles Freiheitsgrundrecht ist bei der Conterganrente zwar stark ausgeprägt; gleichzeitig hat die Conterganrente aber auch einen ausgeprägten sozialen Bezug, weil sie in einen auf die Gemeinschaft der Contergangeschädigten bezogenen Gesamtzusammenhang eingefügt ist.

Die Anrechnungsvorschrift ist von moderatem Eingriffsgewicht; denn der mit der Kürzung des Auszahlungsanspruchs verbundene Eigentumseingriff wird dadurch gemildert, dass die Conterganrenten mit dem 3. Änderungsgesetz bedeutend angehoben wurden und zusätzlich ein Anspruch auf eine jährliche Leistung zur Deckung spezifischer Bedarfe geschaffen wurde.

Die mit der Anrechnungsregelung des § 15 Abs. 2 Satz 2 ContStifG verfolgten legitimen Ziele dienen gewichtigen öffentlichen Interessen. Die Abschöpfung von Doppelleistungen und die hiermit verbundene Gleichstellung aller Rentenbezieherinnen und Rentenbezieher verfolgt das bedeutsame Interesse, innerhalb der Schicksalsgemeinschaft der Geschädigten ein gleiches Leistungsniveau zu sichern. Dahinter stehen sowohl das öffentliche Interesse an Verteilungsgerechtigkeit innerhalb der Gemeinschaft der Leistungsempfänger als auch das staatliche Interesse, die begrenzten öffentlichen Mittel in einem stimmigen Leistungsgefüge möglichst optimal zur Abdeckung der verschiedenen sozialen Bedarfe zu verwenden. In der Gesamtabwägung erweist sich der Eigentumseingriff als verhältnismäßig. Die Belange des öffentlichen Interesses überwiegen das Interesse der Berechtigten, die substanziell erhöhte Conterganrente unbeschadet der Anrechnung zu erhalten. Der mit der Anrechnung verbundene moderate Eigentumseingriff ist auch angesichts der Schutzwürdigkeit, die der Conterganrente im Hinblick auf ihren Charakter eines Äquivalents für Einbußen an Lebenstüchtigkeit zukommt, nicht unangemessen. Die Stiftungslösung, der sich die nicht in Deutschland ansässigen Berechtigten unterstellt haben, verfolgt den Zweck, wegen der Conterganschädigung an alle gleich Geschädigten die gleiche Leistung zu erbringen, nicht hingegen, zu einer gleichwertigen allgemeinen sozialen Absicherung aller Mitglieder der Solidargemeinschaft beizutragen. Ausgehend von dieser auf den Schadensfall fokussierten Zielsetzung richtet sich die Höhe der Leistungen allein nach der Schwere des Körperschadens und der hierdurch hervorgerufenen Körperfunktionsstörungen, während schädigungsunabhängige Kriterien ausgeblendet werden. Der Gesetzgeber, der die Eigentumsposition des Conterganrentenanspruchs losgelöst von schadensunabhängigen allgemeinen Kriterien ausgestaltet hat, war verfassungsrechtlich nicht gehalten, diese Kriterien bei der Begrenzung des Auszahlungsanspruchs nach § 15 Abs. 2 Satz 2 ContStifG zu berücksichtigen.

§ 15 Abs. 2 Satz 2 ContStifG wird auch den Anforderungen des Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) gerecht.

Eine Ungleichbehandlung von Empfängerinnen und Empfängern ausländischer staatlicher gegenüber solchen nichtstaatlicher Leistungen oder von Empfängerinnen und Empfängern laufender gegenüber solchen einmaliger Zahlungen liegt nicht vor. Die durch § 15 Abs. 2 Satz 2 ContStifG ausgelöste faktische Ungleichbehandlung von Empfängerinnen und Empfängern, deren Auszahlungsanspruch gekürzt wird, gegenüber solchen, die die Conterganrente ungekürzt erhalten, ist gerechtfertigt.