Das Bundessozialgericht hat mit Urteil vom 26.10.2023 zum Aktenzeichen B 10 ÜG 1/22 R entschieden, dass auch Vielkläger einen Anspruch auf Entschädigung für lange Prozessdauer haben können.
Die Kläger – eine Mutter und ihre zwei Kinder – begehren eine Entschädigungszahlung wegen unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens vor dem Sozialgericht.
Dem Entschädigungsverfahren liegt ein Streit über die Aufhebung von Leistungen nach dem SGB II für Februar 2014 zugrunde, die der Mutter und dem älteren Kind zuvor bewilligt worden waren. Die Kläger – einschließlich des im Januar 2014 geborenen jüngeren Kindes – erhielten ab diesem Monat niedrigere Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Die am 17. April 2014 erhobene Klage wurde mit Gerichtsbescheid des Sozialgerichts vom 19. Oktober 2018 abgewiesen. Die Berufung war hinsichtlich der Mutter und des älteren Kindes erfolgreich (Urteil vom 14. April 2021).
Am 16. April 2021 haben die Kläger eine auf das erstinstanzliche Verfahren beschränkte Entschädigungsklage erhoben. Über diese hat der bereits im Ausgangsverfahren mit der Berufung befasste 6. Senat des Landessozialgerichts als Entschädigungsgericht entschieden. Auf die Entschädigungsklage hat er die unangemessene Dauer des Verfahrens vor dem Sozialgericht festgestellt, jedoch die Klage abgewiesen, soweit sie auf eine Geldentschädigung gerichtet war. Eine Wiedergutmachung auf andere Weise – namentlich eine gerichtliche Feststellung der Unangemessenheit der Verfahrensdauer – sei ausreichend. Denn das Verfahren sei für die Kläger nur von geringer Bedeutung gewesen. Ferner hätten sie eine Haltung des “Dulde und Liquidiere“ eingenommen und kein Interesse an einer zügigen Entscheidung gezeigt. Zudem sei zu berücksichtigen, dass die Kläger sowie ihre Prozessbevollmächtigte die Arbeitskraft des Sozialgerichts aufgrund einer Vielzahl erhobener Klagen und eines aus dem Rahmen fallenden Prozessverhaltens in erheblichem Maße gebunden hätten.
Mit ihrer Revision rügen die Kläger die Verletzung von § 198 Absatz 1 Satz 1 und Absatz 2 GVG. Zu Unrecht habe das Entschädigungsgericht die Anspruchsvoraussetzungen für eine Entschädigungszahlung verneint. Die Aufhebung existenzsichernder Leistungen sei für sie keineswegs von geringer Bedeutung gewesen. Ihre zwischenzeitliche Untätigkeit dürfe ihnen nicht zum Nachteil gereichen, weil sie nicht zur aktiven Prozessförderung verpflichtet seien. Die Anzahl ihrer Verfahren sei der Bescheidungspraxis der SGB II-Leistungsträger geschuldet. Die Zahl der von ihrer Prozessbevollmächtigten geführten Verfahren sei irrelevant.
Die Revision der Klägerinnen war im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache an das Landessozialgericht als Entschädigungsgericht erfolgreich. Die gleichzeitige Revision des Klägers war erfolglos. Ihm steht über die insgesamt rechtskräftig festgestellte unangemessene Verfahrensdauer des Gerichtsverfahrens vor dem Sozialgericht hinaus keine Geldentschädigung zu, weil er im Ausgangsverfahren von dem vor seiner Geburt ergangenen SGB II-Aufhebungsbescheid nicht betroffen war. Um über den geltend gemachten Anspruch der Klägerinnen auf eine Entschädigungszahlung abschließend entscheiden zu können, fehlen insbesondere Feststellungen des Entschädigungsgerichts zum Ablauf des Berufungsverfahrens sowie zur Bedeutung und Schwierigkeit des Ausgangsverfahrens.
Der Senat kann deshalb nicht beurteilen, ob der vom Entschädigungsgericht angenommene Umfang der Verzögerung zutrifft. Dieser ist jedoch ein gewichtiger Umstand für die Prüfung des Anspruchs auf eine Geldentschädigung. Auf eine rechtsfehlerfreie Feststellung des Verzögerungsumfangs kann vorliegend nicht deshalb verzichtet werden, weil die Klägerinnen aus anderen Gründen bereits keinen Anspruch auf eine Geldentschädigung hätten. Denn sie haben sich im Ausgangsverfahren gegen die Aufhebung existenzsichernder Leistungen gewandt, die regelmäßig eine überdurchschnittliche Bedeutung für die Betroffenen haben. Ob dies auch für die Klägerinnen zutrifft, kann nach den bisherigen Feststellungen der Vorinstanz allerdings nicht beurteilt werden. Tatsächliche Anhaltspunkte für eine Haltung des „Dulde und Liquidiere“ der Klägerinnen hat das Entschädigungsgericht nicht festgestellt. Diese haben vielmehr eine wirksame Verzögerungsrüge erhoben und auch wiederholt um eine Terminierung des Ausgangsverfahrens gebeten. Im Übrigen waren sie nicht verpflichtet aktiv darauf hinzuwirken, dass das Sozialgericht das Verfahren in angemessener Zeit zum Abschluss bringt.
Soweit die Klägerinnen eine Vielzahl von Klagen am Gericht anhängig gemacht haben, kann daraus – isoliert betrachtet – lediglich eine erschwerte Verfahrensführung und gesteigerte Komplexität des Verfahrens resultieren. Diese Kriterien können bei der Beurteilung der Schwierigkeit des Ausgangsverfahrens Berücksichtigung finden. Das Prozessverhalten ihrer Prozessbevollmächtigten in sie nicht betreffenden anderen Verfahren müssen sich die Klägerinnen nicht zurechnen lassen.