Der Bundesgerichtshof hat mit Beschluss vom 8. August 2023 zum Aktenzeichen VIII ZR 20/23 entschieden, dass die Prüfungskompetenz des Berufungsgerichts hinsichtlich der erstinstanzlichen Tatsachenfeststellung nicht auf den Umfang beschränkt ist, in dem eine zweitinstanzliche Tatsachenfeststellung der Kontrolle durch das Revisionsgericht unterliegt.
Daher hat das Berufungsgericht die erstinstanzliche Überzeugungsbildung nicht nur auf Rechtsfehler zu überprüfen.
Vielmehr können sich Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen im Sinne von § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO auch aus der Möglichkeit unterschiedlicher Bewertungen der erstinstanzlichen Beweisaufnahme ergeben
Denn es hat – ausgehend von einem zu engen rechtlichen Überprüfungsmaßstab des Berufungsgerichts gemäß § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO – die Ausführungen der Beklagten in der Berufungsbegründung zur Beweiswürdigung des Amtsgerichts nicht in dem gebotenen Maße in seine Erwägungen zur Nachprüfung des angefochtenen Urteils gemäß § 513 ZPO einbezogen.
Das Gebot rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) verpflichtet das entscheidende Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Als grundrechtsgleiches Recht soll es sicherstellen, dass die Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, die ihren Grund in der unterlassenen Kenntnisnahme und der Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben. Der Anspruch einer Partei auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) ist deshalb verletzt, wenn das Berufungsgericht den Vortrag einer Partei in der Berufungsbegründung aufgrund von rechtlichen Erwägungen nur eingeschränkt berücksichtigt, die im Prozessrecht keine Stütze finden.
Gemessen hieran ist dem Berufungsgericht eine Verletzung des Anspruchs der Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG anzulasten. Die Nichtzulassungsbeschwerde beanstandet zu Recht, dass das Berufungsgericht den Prüfungsmaßstab der Vorschrift des § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO und seine daraus folgende Prüfungskompetenz und -pflicht grundlegend verkannt und deshalb die nach dem Gesetz erforderliche eigene Beweiswürdigung zum Vorliegen einer Eigennutzungsabsicht der Klägerin und ihrer Söhne hinsichtlich der streitgegenständlichen Immobilie unter Einbeziehung der von den Beklagten in der Berufungsbegründung vorgebrachten Einwendungen unterlassen hat.
Nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO ist das Berufungsgericht zwar grundsätzlich an die Tatsachenfeststellungen des ersten Rechtszugs gebunden. Diese Bindung entfällt aber, wenn konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit entscheidungserheblicher Feststellungen begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten (§ 529 Abs. 1 Nr. 1 Halbs. 2 ZPO). Konkrete Anhaltspunkte in diesem Sinne sind alle objektivierbaren rechtlichen oder tat-sächlichen Einwände gegen die erstinstanzlichen Feststellungen. Derartige konkrete Anhaltspunkte können sich unter anderem aus dem Vortrag der Parteien, vorbehaltlich der Anwendung von Präklusionsvorschriften auch aus dem Vortrag der Parteien in der Berufungsinstanz ergeben.
Die Prüfungskompetenz des Berufungsgerichts hinsichtlich der erstinstanzlichen Tatsachenfeststellung ist dabei nicht – wie die revisionsrechtliche Prüfung – auf eine reine Rechtskontrolle beschränkt. Denn bei der Berufungs-instanz handelt es sich auch nach Inkrafttreten des Zivilprozessreformgesetzes um eine zweite – wenn auch eingeschränkte – Tatsacheninstanz, deren Aufgabe in der Gewinnung einer „fehlerfreien und überzeugenden“ und damit „richtigen“ Entscheidung des Einzelfalles besteht.
Daher hat das Berufungsgericht die erstinstanzliche Überzeugungsbildung nicht nur auf Rechtsfehler zu überprüfen.
Vielmehr sind auch verfahrensfehlerfrei getroffene Tatsachenfeststellungen für das Berufungsgericht nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO nicht bindend, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Feststellungen unvollständig oder unrichtig sind. Dabei können sich Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen auch aus der Möglichkeit unterschiedlicher Wertung ergeben, insbesondere daraus, dass das Berufungsgericht das Ergebnis einer erstinstanzlichen Beweisaufnahme anders würdigt als das Gericht der Vorinstanz. Besteht aus der für das Berufungsgericht gebotenen Sicht eine gewisse – nicht notwendig überwiegende – Wahrscheinlichkeit dafür, dass im Fall der Beweiserhebung die erstinstanzliche Feststellung keinen Be-stand haben wird, ist es zu einer erneuten Tatsachenfeststellung verpflichtet.
Diesen Prüfungsmaßstab hat das Berufungsgericht grundlegend verkannt, denn es hat die mit der Berufungsbegründung vorgebrachten Einwendungen der Beklagten gegen die Beweiswürdigung des Amtsgerichts nur unter dem Ansatz geprüft, ob dem Amtsgericht hierbei Rechtsfehler unterlaufen sind.
Bereits die im Abschnitt des Berufungsurteils zum allgemeinen rechtlichen Maßstab enthaltene Aufzählung von Umständen, die das Berufungsgericht als Anhaltspunkte für eine Unrichtigkeit der erstinstanzlichen Beweiswürdigung an-sieht, legt die Anwendung eines nur eingeschränkten – auf Rechtsfehler beschränkten – Prüfungsmaßstabs nahe. Anhand dieses – unzutreffenden – Maßstabs hat das Berufungsgericht sodann die in der Berufungsbegründung vorgebrachten Einwände der Beklagten gegen die Beweiswürdigung des Amtsgerichts auch beurteilt, wie sich aus der Formulierung ergibt, dass die Berufungsbegründung „derartige“ konkrete Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit nicht aufzeigen könne. Soweit das Berufungsgericht sich mit dem von der Berufung gegen die „Richtigkeit“ der amtsgerichtlichen Beweiswürdigung angeführten – bedeutsamen – Umstand befasst hat, dass die Klägerin zunächst eine Verkaufsabsicht gehabt und erst später den Eigennutzungsentschluss gefasst habe, ist es seiner Prüfungspflicht ebenfalls nicht in dem oben genannten gebotenen Maße nachgekommen, sondern hat die Prüfung ausschließlich auf die Vollständigkeit – nicht hingegen auf die Richtigkeit – der Beweiswürdigung bezogen. Die im vorgenannten Sinne umfassende Prüfung wird nachzuholen sein.
Schließlich hat das Berufungsgericht die in der Berufungsbegründung vor-gebrachten Einwendungen der Beklagten „insgesamt“ mit der Begründung beschieden, die Beklagte setze „lediglich ihre Beweiswürdigung anstelle derjenigen des Amtsgerichts“. Damit hat es deutlich gemacht, dass es die amtsgerichtliche Beweiswürdigung im Ergebnis allein auf Rechtsfehler geprüft hat, ohne auch nur zu erwägen, ob sich unter Berücksichtigung der Einwendungen der Beklagten Zweifel an den erstinstanzlichen Feststellungen zum Vorliegen einer Eigennutzungsabsicht der Klägerin und ihrer Söhne hinsichtlich der streitgegenständlichen Immobilie aus der Möglichkeit einer anderen Würdigung der Angaben der Klägerin und der als Zeugen vernommenen Söhne ergeben könnten. Mit einer solchen Begründung durfte das Berufungsgericht das Vorbringen der Beklagten gegen die erstinstanzliche Überzeugungsbildung nicht als unbeachtlich ansehen.
Die Gehörsverletzung ist auch entscheidungserheblich (§ 544 Abs. 9 ZPO). Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht bei An-wendung des zutreffenden Prüfungsmaßstabs im Sinne des § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO und bei Vornahme einer eigenen Beweiswürdigung unter Einbeziehung der Argumente der Berufungsbegründung zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre.
Denn die Beklagten haben neben dem vorstehend bereits erwähnten Um-stand einer zunächst bestehenden Verkaufsabsicht der Klägerin – wie die Nichtzulassungsbeschwerde unter Verweis auf die betreffenden Aktenstellen auf-zeigt – mit der Berufungsbegründung unter anderem darauf hingewiesen, dass die Angaben der Klägerin zur zeitlichen Einordnung des gemeinsamen Entschlusses über die künftige Eigennutzung des Mietobjekts im Widerspruch zu den Angaben ihres erstinstanzlich als Zeugen vernommenen Sohnes D. stünden und dessen Angaben wiederum nicht dazu passten, dass die Klägerin noch zu einem späteren Zeitpunkt sogar gerichtlich von den Beklagten die Duldung einer Besichtigung des Mietobjekts zum Zwecke des Verkaufs verlangt habe. Ferner haben die Beklagten die einander widersprechenden Angaben der beiden erstinstanzlich als Zeugen vernommenen Söhne der Klägerin über die beabsichtigte räumliche Aufteilung des Mietobjekts angeführt und unter anderem darauf hingewiesen, dass die diesbezügliche Würdigung des Amtsgerichts nicht dazu passe, dass die Klägerin nach den Angaben in der Kündigungserklärung hierüber ausführlich mit ihren Söhnen gesprochen habe.