Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 18. Juli 2023 zum Aktenzeichen 1 BvR 600/19 über die Verfassungsbeschwerde zu einer klageabweisenden Entscheidung der Zivilgerichte in einem Amtshaftungsverfahren, das der Beschwerdeführer infolge einer vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erachteten Anordnung einer Betreuung angestrengt hatte, entschieden.
Für den volljährigen Beschwerdeführer wurde durch Beschluss des Betreuungsgerichts im Jahr 2013 unter anderem eine Betreuung eingerichtet, deren Rechtmäßigkeit auf die Beschwerde beziehungsweise Rechtsbeschwerde des Beschwerdeführers weder vom Landgericht noch vom Bundesgerichtshof beanstandet wurde. Mit Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 20. Januar 2015 im Verfahren 1 BvR 665/14 stellte das Bundesverfassungsgericht – mit Ausnahme der Ausgangsentscheidung des Betreuungsgerichts – eine Verletzung des Beschwerdeführers in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG durch die betreuungsgerichtlichen Entscheidungen fest und hob diese auf. Der Beschwerdeführer sei zwar zu der gleichzeitig angeordneten Unterbringung, nicht aber zur Betreuung angehört worden. Darüber hinaus sei die Annahme, dass die Voraussetzungen des § 1896 Abs. 1a BGB a.F. vorgelegen hätten, da der Beschwerdeführer aufgrund mangelnder Steuerungsfähigkeit in Bezug auf den Konsum von Alkohol zu einer freien Willensbildung nicht in der Lage gewesen sein soll, nicht nachvollziehbar begründet gewesen. Nach Aufhebung der Betreuung wurde nachträglich die Rechtswidrigkeit der Entscheidungen des Betreuungsgerichts und des Beschwerdegerichts festgestellt.
In dem der Verfassungsbeschwerde zugrundeliegenden Ausgangsverfahren begehrte der Beschwerdeführer Schadensersatz wegen Amtspflichtverletzung durch die vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erachteten Entscheidungen der Betreuungsgerichte. Das Begehren blieb in allen Instanzen erfolglos.
Das Landgericht wies die Klage ab, weil dem Beschwerdeführer wegen des Eingreifens des Richterspruchprivilegs nach § 839 Abs. 2 BGB kein Amtshaftungsanspruch zustehe. Bei den Entscheidungen des Betreuungs- und des Beschwerdegerichts handele es sich jeweils um ein Urteil im Sinne der Norm. Es liege keine Straftat vor, die ausnahmsweise eine Haftung zuließe.
Das Oberlandesgericht wies die Berufung des Beschwerdeführers zurück, weil sie offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg habe. Es könne offenbleiben, ob mangels kontradiktorischer Streitigkeit für die betreuungsgerichtlichen Entscheidungen das Richterspruchprivileg des § 839 Abs. 2 BGB eingreife. Denn auch außerhalb seines Anwendungsbereichs seien nach zutreffender Ansicht des Bundesgerichtshofs richterliche Entscheidungen im Amtshaftungsprozess nur auf ihre Vertretbarkeit zu überprüfen. Die Darlegungs- und Beweislast für die Unvertretbarkeit der Entscheidungen, die einen Anspruch nach § 839 Abs. 1 Satz 1 BGB in Verbindung mit Art. 34 GG begründeten, liege beim jeweiligen Kläger. Eine solche Unvertretbarkeit sei weder dargelegt noch ersichtlich.
Das Betreuungsgericht habe in vertretbarer Weise davon ausgehen können, dass mit der Anhörung des Beschwerdeführers im Unterbringungsverfahren eine ausreichende Anhörung auch für das Betreuungsverfahren erfolgt sei. Auch das Landgericht habe vertretbar begründet, warum es den Beschwerdeführer, der ihm durch eine vorangegangene Anhörung im Rahmen der Unterbringung ebenfalls bekannt gewesen sei, im Rahmen des Beschwerdeverfahrens aufgrund des für eindeutig befundenen Sachverständigengutachtens nicht erneut angehört habe.
Die vom Beschwerdeführer eingelegte Nichtzulassungsbeschwerde wies der Bundesgerichtshof ohne nähere Begründung zurück. Die Sache habe weder grundsätzliche Bedeutung noch erfordere die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts.
Nicht mehr nachvollziehbar ist die Begründung des Oberlandesgerichts, dass es im Regelfall ohne nähere Darlegung zum Verschulden möglich sei, eine vom Bundesverfassungsgericht ex post als verfassungswidrig erachtete richterliche Entscheidung, die nicht unter § 839 Abs. 2 BGB fällt, als vertretbar zu qualifizieren. Nach der verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden Grundentscheidung des Gesetzgebers ist für die Annahme eines Amtshaftungsanspruchs sowohl die (objektive) Rechtswidrigkeit der Amtshandlung erforderlich als auch ein (subjektives) Verschulden des Amtsträgers. Wird die vom Bundesverfassungsgericht bisher nicht in Frage gestellte, wonach auch außerhalb des Anwendungsbereichs von § 839 Abs. 2 BGB bei richterlichen Entscheidungen ein zurückgenommener Prüfungsmaßstab über die sogenannte Vertretbarkeitskontrolle anzuwenden sei, ist diese so zu verstehen, dass sowohl die objektive Rechtswidrigkeit als auch die subjektive Vorwerfbarkeit schwerer wiegen müssen als bei Amtshaftungsansprüchen aufgrund von behördlichen Amtshandlungen. Ferner dürfen die verschiedenen objektiven und subjektiven Tatbestandsmerkmale des Amtshaftungsanspruches auch im Rahmen der Prüfung von § 839 Abs. 1 BGB nicht in einer konturenlosen Vertretbarkeitskontrolle verschwimmen.
Auch angesichts des Umstands, dass das Bundesverfassungsgericht bei Urteilsverfassungsbeschwerden einen zurückgenommenen Prüfungsmaßstab heranzieht, weil es keine Superrevisionsinstanz ist, drängt es sich im Regelfall des zurückgenommen Prüfungsmaßstabes nahezu auf, dass gerichtliche Entscheidungen, die nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts Grundrechte verletzen, zugleich eine objektive Amtspflichtverletzung im Sinne von § 839 BGB darstellen. Dies gilt erst recht, sofern das Bundesverfassungsgericht – wie bei Betreuungsverfahren – an die Feststellung und Schlüssigkeit des Sachverhaltes einen strengen verfassungsrechtlichen Kontrollmaßstab anlegt. Aber auch in diesen Konstellationen kann die objektive Vertretbarkeit einer objektiv verfassungswidrigen Entscheidung nicht ohne eingehende Auseinandersetzung gerade mit der Verletzung des verfassungsrechtlichen Rahmens angenommen werden.
Für diesen grundsätzlichen Gleichklang von für verfassungswidrig erachteten Gerichtsentscheidungen einerseits und ihrer objektiven Unvertretbarkeit im Rahmen der Anspruchsprüfung eines sich gegebenenfalls anschließenden Amtshaftungsprozesses andererseits sprechen die von der Fachrechtsprechung für die Vertretbarkeitskontrolle von richterlichen Entscheidungen außerhalb des Anwendungsbereichs von § 839 Abs. 2 BGB angeführten Gründe. Denn sofern die Anwendung einer zurückgenommenen Vertretbarkeitskontrolle allein auf den Schutz der Rechtskraft gerichtlicher Entscheidungen und den Rechtsfrieden gestützt wird, verliert dieses Argument sein Gewicht, wenn die zu beurteilende Entscheidung vom Bundesverfassungsgericht aufgehoben wurde oder hätte aufgehoben werden können. In diesem Fall wird die Rechtskraft durch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts durchbrochen.
Sofern der Maßstab der Vertretbarkeitskontrolle – wie von der höchstrichterlichen Fachrechtsprechung – argumentativ jedenfalls auch auf die richterliche Unabhängigkeit (Art. 97 Abs. 1 GG) gestützt wird, gilt das Gleiche, weil die Unterworfenheit des Richters ausschließlich unter das Gesetz keine Legitimation dafür bietet, gerichtliche Entscheidungen zu fällen, die verfassungswidrig sind und vom Bundesverfassungsgericht aufgehoben wurden. Das Argument, dass die Qualifizierung einer Gerichtsentscheidung als verfassungswidrig ex post erfolge und damit auf die Beurteilung der vorher erfolgten Amtshandlung nicht zurückwirken könne, geht schon deshalb ins Leere, weil ansonsten Amtshaftungsansprüche nur bei Verstoß gegen eine ständige Rechtsprechung möglich wären. Eine vom Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig erachtete Gerichtsentscheidung dürfte daher zumindest in der Regel zugleich objektiv unvertretbar im Sinne von § 839 Abs. 1 BGB sein.
Davon zu unterscheiden und durch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, mit der Gerichtsentscheidungen wegen einer Grundrechtsverletzung aufgehoben werden, nicht präjudiziert ist dagegen die Prüfung der subjektiven Vorwerfbarkeit im Moment der Vornahme der Amtshandlung (Verschulden). Eine gerichtliche Entscheidung kann verfassungswidrig sein, mithin objektiv eine Amtspflichtverletzung darstellen, ohne dass dies dem zur Entscheidung berufenen Richter vorwerfbar wäre. Die subjektive Vorwerfbarkeit ist vielmehr im Rahmen des Tatbestandsmerkmals des Verschuldens nach dem jeweils einschlägigen Maßstab von § 839 Abs. 2 beziehungsweise § 839 Abs. 1 BGB in jedem Einzelfall zu prüfen.
Nach der vom Oberlandesgericht selbst zugrunde gelegten verfassungsrechtlichen Implikation der Auslegung von § 839 BGB, mit der es den Maßstab der Vertretbarkeit begründet, hätte es daher nicht undifferenziert die Vertretbarkeit der Entscheidung annehmen dürfen, sondern das Vorliegen des Verschuldens umfassend prüfen müssen.
Diese fehlerhafte Auslegung und Anwendung des § 839 BGB ist aber nicht willkürlich, weil die Entscheidung im Ergebnis nicht unhaltbar ist. So ist die Annahme, dass die fehlerhafte Rechtsanwendung nicht so schwer wiege, weil die vor Einrichtung einer Betreuung verfassungsrechtlich geforderte Anhörung des Betroffenen durch die Anhörung im parallelen Unterbringungsverfahren gewissermaßen mit vorgenommen worden sei, zumindest nicht als sachlich schlechthin unhaltbar zu qualifizieren. Schließlich wurde die im vorliegenden Fall relevante Frage, inwieweit die Verfassungswidrigkeit einer gerichtlichen Entscheidung im Rahmen eines sich anschließenden Amtshaftungsprozesses zugleich als eine objektiv unvertretbare Amtspflichtverletzung zu verstehen ist, weder in der verfassungsgerichtlichen Judikatur noch in der Literatur ausdrücklich behandelt. Künftig dürfte dies in der Regel anders zu beurteilen sein.