Umgangs- und Sorgerechtsentscheidung darf vorläufig nicht umgesetzt werden

14. Juli 2023 -

Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 15. Juni 2023 zum Aktenzeichen 1 BvR 1076/23 entschieden, dass familienrechtliche Gerichtsentscheidungen vorläufig nicht umgesetzt werden dürfen.

Die Beschwerdeführerin ist die Mutter von zwei 2012 und 2016 geborenen Kindern, die aus der Ehe mit dem Vater hervorgegangen sind. Seit der Trennung der Eltern Anfang 2020 gab und gibt es eine Vielzahl von umgangs- und sorgerechtlichen Verfahren.

In früheren familiengerichtlichen Verfahren waren zum Sorgerecht, insbesondere zum Teilbereich der Aufenthaltsbestimmung, unterschiedliche gerichtliche Entscheidungen ergangen, die zu mehrfachen Aufenthaltswechseln der Kinder führten. So wurde im Juni 2020 zunächst in einem einstweiligen Anordnungsverfahren dem Vater vorläufig das Aufenthaltsbestimmungsrecht allein übertragen und die zugleich angeordnete Herausgabe der Kinder an ihn unter Hinzuziehung von Jugendamt, Gerichtsvollzieher und Polizeikräften vollstreckt. Nachdem die im zugehörigen Hauptsacheverfahren beauftragte Gutachterin empfohlen hatte, den Lebensmittelpunkt der Kinder (wieder) bei der Beschwerdeführerin zu begründen und dem Vater einen umfänglichen Umgang einzuräumen, übertrug das Familiengericht das Aufenthaltsbestimmungsrecht wiederum auf die Beschwerdeführerin und traf eine weitgehend einem paritätischen Wechselmodell entsprechende Umgangsregelung. Seit dem September 2022 ließ die Beschwerdeführerin allerdings keine Umgangskontakte mit dem Vater mehr zu und berief sich dafür auf die entsprechende Ablehnung durch die Kinder.

Daraufhin regte der Vater das Ausgangsverfahren zur (erneuten) vorläufigen Regelung des Sorgerechts an. Das Familiengericht übertrug ohne vorherige mündliche Verhandlung in diesem Verfahren im November 2022 das Aufenthaltsbestimmungsrecht vorläufig auf den Vater und ordnete im Dezember 2022 die unverzügliche Herausgabe der Kinder an ihn an. Diese Herausgabeanordnung wurde erneut durch den Gerichtsvollzieher unter Hinzuziehung von Jugendamt und Polizeivollzugskräften vollstreckt. Das Familiengericht bestellte den Kindern anschließend einen Verfahrensbeistand. Dieser empfahl nach Gesprächen mit den Kindern, das Aufenthaltsbestimmungsrecht wiederum der Beschwerdeführerin zurück zu übertragen. Nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung (vgl. § 54 Abs. 2 FamFG) und Anhörung der Beteiligten sowie beider Kinder hob das Familiengericht mit Beschluss vom 31. Januar 2023 seine Entscheidung aus dem November 2022 auf, so dass erneut die Beschwerdeführerin das Aufenthaltsbestimmungsrecht innehatte und die Kinder deshalb bei ihr leben. Auf die Beschwerde des Vaters hin änderte das Oberlandesgericht durch den mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Beschluss vom 8. Mai 2023 die Entscheidung des Familiengerichts vom 31. Januar 2023 ab und übertrug dem Vater das Aufenthaltsbestimmungsrecht vorläufig zur alleinigen Ausübung. Eine dagegen gerichtete Anhörungsrüge der Beschwerdeführerin wies das Oberlandesgericht als unbegründet zurück.

Mittlerweile hat das Familiengericht in Umsetzung der vorläufigen Sorgerechtsentscheidung des Oberlandesgerichts mit Beschluss vom 12. Juni 2023 die Herausgabe der Kinder an ihren Vater angeordnet. Diese Entscheidung hat die Beschwerdeführerin im Verfassungsbeschwerdeverfahren nachgereicht.

Im Eilverfahren führte die vom Bundesverfassungsgericht vorzunehmende Folgenabwägung unter Berücksichtigung des Wohls der Kinder, die von der mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen vorläufigen Sorgerechtsentscheidung und der darauf bezogenen Herausgabeanordnung betroffen sind, zum Erlass der einstweiligen Anordnung.

Erginge die einstweilige Anordnung nicht, wäre die Verfassungsbeschwerde aber später erfolgreich, so würden die Kinder zunächst erneut in den Haushalt des Vaters wechseln. Angesichts der Erkenntnisse zu den Abläufen der Vollstreckung von Herausgabeanordnungen in früheren Sorgerechtsverfahren und des Umstandes, dass es die dritte Vollstreckung in der Sache wäre, ist von erheblichen Belastungen für die Kinder im Falle der Umsetzung der Herausgabeanordnung auszugehen, die über diejenigen hinausgehen, die mit einem Wechsel des Lebensmittelpunktes für sie ohnehin einhergehen. Die mit den zu erwartenden Modalitäten des Vollzugs der auf der angegriffenen Sorgerechtsentscheidung beruhenden Herausgabeanordnung verbundenen Belastungen dürfte noch über diejenigen bei den ersten beiden Vollstreckungen (und den weiteren gescheiterten Vollstreckungsversuchen) hinausgehen. Bei der hier gebotenen Ausrichtung der Folgenabwägung am Kindeswohl (Rn. 8) ist auch in den Blick zu nehmen, dass Kinder mit der Kundgabe ihres Willens von ihrem Recht auf Selbstbestimmung Gebrauch machen und ihrem Wille mit zunehmendem Alter größere Bedeutung zukommt; die Erfahrung von Missachtung der eigenen Persönlichkeit kann sich schädlich auswirken (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 25. April 2015 – 1 BvR 3326/14 -, Rn. 17 m.w.N.). Nach der von dem Oberlandesgericht selbst zugrunde gelegten Haltung der Kinder lehnen diese mittlerweile Kontakte zum Vater ab. Zu berücksichtigen ist zudem, dass im Falle des Erfolgs der Verfassungsbeschwerde ‒ ohne dass zuvor eine einstweilige Anordnung erlassen würde ‒ eine abweichende Entscheidung zum Aufenthaltsbestimmungsrecht durch das Oberlandesgericht möglich ist. Damit wäre wiederum ein Wechsel des Lebensmittelpunktes der Kinder verbunden, auch wenn dieser bei anhaltender Willenslage der Kinder bei der Rückkehr zur Mutter möglicherweise mit weniger Belastungen verbunden sein würde.

Erginge die einstweilige Anordnung und wäre die Verfassungsbeschwerde nachfolgend erfolglos, verblieben die Kinder für den Zeitraum bis zur Entscheidung darüber noch im Haushalt der Beschwerdeführerin. Das ginge auf der Grundlage der von dem Oberlandesgericht getroffenen Feststellungen wegen der von diesem – wohl abweichend von der aktuellen Einschätzung des Verfahrensbeistandes und derjenigen der im Jahr 2020 in einem früheren Verfahren beauftragten Sachverständigen – in Zweifel gezogenen Erziehungsfähigkeit der Beschwerdeführerin möglicherweise mit einer Beeinträchtigung des Kindeswohls sowie einer weiteren Entfremdung vom Vater einher.

In der Abwägung dieser Folgen wiegen die Nachteile, die bei Erlass der einstweiligen Anordnung eintreten, dennoch weniger schwer als die bei Ausbleiben der einstweiligen Anordnung zu erwartenden. Die Folgen mehrfacher Wechsel des Lebensmittelpunktes bei zwei Kindern innerhalb eines erwartbar überschaubaren Zeitraums wiegen schon für sich genommen schwer. Ihr Gewicht wird noch dadurch erhöht, dass die Kinder der Beschwerdeführerin in den vergangenen rund drei Jahren mehrfach solche Wechsel erleben mussten. Dabei waren die Umstände der beiden Wechsel in den väterlichen Haushalt besonders belastend. Dass dies durch das Verhalten der Beschwerdeführerin mit verursacht sein mag, ändert an der Belastung für die Kinder und die damit einhergehende Beeinträchtigung des Kindeswohls nichts. Demgegenüber wiegen die möglichen Nachteile für das Kindeswohl bei einem weiteren zeitweiligen Verbleib der Kinder im Haushalt der Beschwerdeführerin weniger schwer. Ungeachtet der geäußerten Zweifel an der Erziehungsfähigkeit der Beschwerdeführerin legt auch das Oberlandesgericht keine Kindeswohlgefährdung zugrunde, sondern hält die Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts auf den Vater deshalb für kindeswohldienlicher, um einer (weiteren) Entfremdung zwischen ihm und den Kindern entgegenzuwirken.