Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 5. Juli 2023 zum Aktenzeichen 2 BvE 4/23 dem Deutschen Bundestag aufgegeben, die zweite und dritte Lesung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung zur „Änderung des Gebäudeenergiegesetzes und zur Änderung der Kehr- und Überprüfungsordnung“ (im Folgenden: Gebäudeenergiegesetz) nicht innerhalb der laufenden Sitzungswoche durchzuführen. Der Antragsteller, ein Mitglied der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag, sieht sich durch das Gesetzgebungsverfahren in seinen Rechten als Mitglied des Deutschen Bundestages verletzt.
Aus der Pressemitteilung des BVerfG Nr. 63/2023 vom 5. Juli 2023 ergibt sich:
Sein Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat in der Sache Erfolg. Der Hauptsacheantrag im Organstreitverfahren erscheint jedenfalls mit Blick auf das Recht des Antragstellers auf gleichberechtigte Teilhabe an der parlamentarischen Willensbildung aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes (GG) weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Die demgemäß vom Bundesverfassungsgericht vorzunehmende Folgenabwägung führt zu dem Ergebnis, dass die für den Erlass einer einstweiligen Anordnung sprechenden Gründe überwiegen. Unter den besonderen Umständen des Einzelfalls überwiegt das Interesse an der Vermeidung einer irreversiblen Verletzung der Beteiligungsrechte des Antragstellers aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG gegenüber dem Eingriff in die Verfahrensautonomie des Deutschen Bundestages, der die Umsetzung des Gesetzgebungsverfahrens lediglich verzögert.
Die Entscheidung ist mit 5:2 Stimmen ergangen.
Der Beschluss wird gesondert auf der Homepage des Bundesverfassungsgerichts veröffentlicht werden.
Sachverhalt:
Das Bundeskabinett beschloss am 19. April 2023 die Einbringung des Entwurfs zur Änderung des Gebäudeenergiegesetzes. Der Bundesminister der Finanzen erklärte dabei zu Protokoll, dem Gesetzentwurf in dem Bewusstsein zuzustimmen, dass die Fraktionen des Deutschen Bundestages diesen im parlamentarischen Verfahren intensiv beraten und auch weitere Änderungen vornehmen würden. Der Gesetzentwurf wurde am 17. Mai 2023 in den Bundestag eingebracht (BTDrucks 20/6875).
Am 13. Juni 2023 veröffentlichten die Koalitionsfraktionen ein zweiseitiges Papier mit dem Titel „Leitplanken […] zur weiteren Beratung des Gebäudeenergiegesetzes“. Dieses enthält eine Aufzählung von den Gesetzentwurf modifizierenden und im weiteren Verfahren zu beratenden „Gesichtspunkten“.
Der Gesetzentwurf wurde am 15. Juni 2023 in erster Lesung im Plenum des Deutschen Bundestages beraten und an den Ausschuss für Klimaschutz und Energie überwiesen.
Der Ausschuss führte am 21. Juni 2023 eine Sachverständigenanhörung zum ursprünglichen Gesetzentwurf durch, wobei die sogenannten Leitplanken berücksichtigt wurden. Auf Antrag der Koalitionsfraktionen fand am 27. Juni 2023 eine Sondersitzung des Ausschusses statt. In deren Verlauf wurde der Termin für eine zweite Anhörung mehrheitlich auf den 3. Juli 2023 festgelegt unter der Voraussetzung, dass die Änderungsanträge bis Freitag, den 30. Juni 2023, vorlägen.
Am 27. Juni 2023 stellten Vertreter der Koalitionsfraktionen die Ergebnisse ihrer Verhandlungen zu noch offenen Punkten des Gebäudeenergiegesetzes vor.
Am 30. Juni 2023 wurde dem Ausschuss für Klimaschutz und Energie die „Formulierungshilfe des BMWK [Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz] für einen Änderungsantrag“ der Koalitionsfraktionen vorgelegt. Sie enthält eine 94-seitige Synopse des Gesetzentwurfs der Bundesregierung und der Änderungsvorschläge sowie einen 14-seitigen Begründungsteil.
Die zweite öffentliche Anhörung des Ausschusses für Klimaschutz und Energie fand am Montag, dem 3. Juli 2023, statt. Am Nachmittag des 4. Juli 2023 legten die Koalitionsfraktionen einen Änderungsantrag zum Entwurf des Gebäudeenergiegesetzes vor. Am Morgen des 5. Juli 2023 beriet der Ausschuss erneut. Nach den Angaben des Antragsgegners sollen am 7. Juli 2023 die zweite und dritte Lesung mit der Schlussabstimmung im Deutschen Bundestag stattfinden.
Der Antragsteller begehrt in der Hauptsache im Wege eines Organstreitverfahrens die Feststellung der Verletzung seiner Rechte als Mitglied des Deutschen Bundestages durch das Gesetzgebungsverfahren zum Gebäudeenergiegesetz. Der damit verbundene Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zielt darauf ab, dem Deutschen Bundestag die zweite und dritte Lesung des vorgenannten Gesetzentwurfs vorläufig zu untersagen, solange nicht allen Abgeordneten die wesentlichen Textpassagen des für die zweite Lesung maßgeblichen Gesetzentwurfs mindestens 14 Tage vorher zugegangen sind.
Wesentliche Erwägungen des Senats:
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 32 BVerfGG hat überwiegend Erfolg.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig.
Durch eine einstweilige Anordnung darf die Hauptsache grundsätzlich nicht vorweggenommen werden. Eine unzulässige Vorwegnahme der Hauptsache ist anzunehmen, wenn der beantragte Inhalt der einstweiligen Anordnung und das Rechtsschutzziel in der Hauptsache, wenn nicht deckungsgleich, so doch zumindest vergleichbar sind. Hieran gemessen begehrt der Antragsteller mit dem Eilantrag keine unzulässige Vorwegnahme der Hauptsache.
Der Erlass der einstweiligen Anordnung hat zwar zur Folge, dass der Entwurf des Gebäudeenergiegesetzes in der laufenden Sitzungswoche nicht in zweiter und dritter Lesung beraten und beschlossen werden kann. Damit wird aber nicht zugleich über den weitergehenden Feststellungsantrag in der Hauptsache entschieden und insbesondere keine erst dort zu prüfende Verletzung der Abgeordnetenrechte des Antragstellers festgestellt.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist auch begründet.
Der Antrag im Organstreit erscheint zum derzeitigen Zeitpunkt jedenfalls mit Blick auf das Recht des Antragstellers auf gleichberechtigte Teilhabe an der parlamentarischen Willensbildung aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet.
Insbesondere kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Ausgestaltung des Gesetzgebungsverfahrens einschließlich der Terminierung der zweiten und dritten Lesung des Gesetzentwurfs im Deutschen Bundestag einen statthaften Antragsgegenstand bildet. Dass die Ausgestaltung eines Gesetzgebungsverfahrens in seiner Gesamtheit möglicherweise die Beteiligungsrechte des einzelnen Abgeordneten aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG verletzen und damit tauglicher Gegenstand eines Organstreits sein kann, liegt ungeachtet der Frage, ob einzelne Akte in diesem Verfahren nur vorbereitenden Charakter haben, auf der Hand.
Der Antrag im Organstreit ist zum derzeitigen Zeitpunkt nicht offensichtlich unbegründet.
Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG garantiert den Status der Gleichheit der Abgeordneten in einem formellen und umfassenden Sinn. Danach sind alle Abgeordneten berufen, gleichermaßen an der parlamentarischen Willensbildung mitzuwirken. Den Abgeordneten steht nicht nur das Recht zu, im Deutschen Bundestag abzustimmen, sondern auch das Recht zu beraten. Dies setzt eine hinreichende Information über den Beratungsgegenstand voraus. Die Abgeordneten müssen dabei Informationen nicht nur erlangen, sondern diese auch verarbeiten können. Welche Bindungen sich aus dem Grundsatz der gleichberechtigten Teilhabe der Abgeordneten an der parlamentarischen Willensbildung für die Ausgestaltung von Gesetzgebungsverfahren ergeben, hat der Senat bisher nicht entschieden. Zwar ist es der Parlamentsmehrheit (Art. 42 Abs. 2 Satz 1 GG) grundsätzlich vorbehalten, die Prioritäten und Abläufe bei der Bearbeitung von Gesetzgebungsverfahren zu bestimmen. Auch wenn ihr dabei ein weiter Gestaltungsspielraum zusteht, spricht einiges dafür, dass die Verfahrensautonomie die Parlamentsmehrheit nicht von der Beachtung des durch Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG garantierten Status der Gleichheit der Abgeordneten entbindet und das Abgeordnetenrecht verletzt wird, wenn es bei der Gestaltung von Gesetzgebungsverfahren ohne sachlichen Grund gänzlich oder in substantiellem Umfang missachtet wird.
Hieran gemessen ist der Antrag auf Feststellung einer Verletzung der Beteiligungsrechte des Antragstellers aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG nicht offensichtlich unbegründet. Der Ausgang des Hauptsacheverfahrens erscheint offen. Aufgrund der besonderen Umstände bei der Durchführung des streitgegenständlichen Gesetzgebungsverfahrens bedarf die Frage, ob die Wahrnehmung der Verfahrensautonomie der Parlamentsmehrheit vorliegend in ausreichendem Umfang den verfassungsrechtlich garantierten Beteiligungsrechten des Antragstellers Rechnung getragen hat, eingehender Prüfung.
Der Antragsgegner selbst räumt eine erhebliche Verdichtung der zeitlichen Abläufe und eine „nicht geringe Komplexität“ des Beratungsgegenstandes ein. Auch wenn der Parlamentsmehrheit bei der Gestaltung der Verfahrungsabläufe ein verfassungsrechtlich garantierter weiter Gestaltungsspielraum zukommt und bei dem dargestellten Geschehensablauf die Fristen, die die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages für die zweite Beratung eines Gesetzentwurfs vorsieht (§ 81 Abs. 1 Satz 2 GO-BT), gewahrt worden sein dürften, bedarf es näherer, im vorläufigen Rechtsschutzverfahren nicht leistbarer Prüfung, ob die Beteiligungsrechte des Antragstellers vorliegend ohne ausreichenden sachlichen Grund in substantiellem Umfang beeinträchtigt wurden und sich die durch die Parlamentsmehrheit gewählte Verfahrensgestaltung als eine rechtsmissbräuchliche Beschleunigung des Gesetzgebungsverfahrens darstellt.
Entgegen der Auffassung des Antragsgegners ist vorliegend für eine summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache kein Raum. Kann nicht festgestellt werden, dass sich der in der Hauptsache gestellte Antrag von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet erweist, oder kann das Bundesverfassungsgericht die Hauptsache nicht so rechtzeitig entscheiden, dass hierdurch die absehbaren schweren Nachteile vermieden werden, kann die einstweilige Anordnung gerade – wie hier – deshalb nötig werden, weil dem Gericht die erforderliche Zeit für eine gewissenhafte (wenn auch nur summarische) Prüfung der Rechtsfragen fehlt, die für die Entscheidung der Hauptsache erheblich sind.
Die demgemäß vom Bundesverfassungsgericht im Rahmen der Entscheidung nach § 32 Abs. 1 BVerfGG vorzunehmende Folgenabwägung führt zu dem Ergebnis, dass die für den Erlass einer einstweiligen Anordnung sprechenden Gründe überwiegen.
Erginge die einstweilige Anordnung und bliebe dem Antrag in der Hauptsache der Erfolg versagt, käme es zu einem erheblichen Eingriff in die Autonomie des Parlaments beziehungsweise der Parlamentsmehrheit und damit in die originäre Zuständigkeit eines anderen obersten Verfassungsorgans. Von einem solchen Eingriff ist im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes grundsätzlich abzusehen. In der vorliegenden Konstellation ist allerdings zu berücksichtigen, dass die Verabschiedung des Gebäudeenergiegesetzes zu einem sein Inkrafttreten ab dem 1. Januar 2024 nicht berührenden Zeitpunkt ohne Weiteres möglich bliebe. Insoweit weist der Antragsteller darauf hin, dass der Antragsgegner noch für den laufenden Kalendermonat eine Sondersitzung des Deutschen Bundestages anberaumen könnte. Soweit der Antragsgegner darauf abstellt, dass bei einer Absetzung der Lesungen von der Tagesordnung in dieser Sitzungswoche eine Verabschiedung durch den Bundesrat und damit ein Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens erst anlässlich der nächsten regulären Sitzung des Bundesrates Ende September möglich sei, übergeht er, dass der Präsident des Bundesrats zu dessen Einberufung verpflichtet ist, wenn die Bundesregierung dies verlangt.
Erginge die einstweilige Anordnung nicht und hätte der Antrag in der Hauptsache (jedenfalls) hinsichtlich des geltend gemachten Rechts auf gleichberechtigte Teilhabe des Antragstellers an der parlamentarischen Willensbildung Erfolg, käme es zu einer irreversiblen, substantiellen Verletzung dieses Rechts. Dem Antragsteller wäre unwiederbringlich die Möglichkeit genommen, bei den Beratungen und der Beschlussfassung über das Gebäudeenergiegesetz seine Mitwirkungsrechte in dem verfassungsrechtlich garantierten Umfang wahrzunehmen. Die irreversible und substantielle Verletzung seiner Beteiligungsrechte wirkt sich im Verhältnis zwischen den Verfassungsorganen zu Lasten des Parlaments und seiner Autonomie aus. Etwas Anderes folgt entgegen der Auffassung des Antragsgegners auch nicht aus dem Umstand, dass ein Erfolg in der Hauptsache möglicherweise positive Auswirkungen auf die Ausgestaltung künftiger Gesetzgebungsverfahren hätte.
Der Senat weicht mit der einstweiligen Anordnung von dem Antrag des Antragstellers ab, um die nach der Folgenabwägung betroffenen Rechte zu einem angemessenen Ausgleich zu bringen. Hierbei berücksichtigt der Senat insbesondere, dass der Eingriff in die Autonomie des Parlaments über die Bestimmung seiner Verfahrensabläufe so gering wie möglich zu halten ist und der Antragsgegner die weitere Terminierung der Verfahrensschritte des vorliegend in Streit stehenden Gesetzgebungsverfahrens unter Beachtung der hier in die Folgenabwägung eingestellten Rechte vornehmen wird.