Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 19. Mai 2023 zum Aktenzeichen 2 BvR 637/23 entschieden, dass eine Unterbringungsanordnung zur Vorbereitung eines Gutachtens über psychischen Zustand vorerst nicht umgesetzt werden darf.
Gegen die Beschwerdeführerin werden mehrere Strafverfahren wegen Diebstahls und Widerstands gegen beziehungsweise tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte und Beleidigung, wegen Besitzes von Betäubungsmitteln, wegen versuchter Körperverletzung mit Bedrohung und Beleidigung und wegen gefährlicher Körperverletzung geführt, die miteinander verbunden wurden. Sie befinden sich im Stadium des Hauptverfahrens.
Mit Beschluss vom 17. März 2021 ordnete das Amtsgericht Augsburg die Einholung eines Sachverständigengutachtens zu den Fragen der Schuldunfähigkeit (§ 20 StGB) beziehungsweise verminderten Schuldfähigkeit (§ 21 StGB) und der Gefahr für die Allgemeinheit (§ 63 StGB) an. Die Beschwerdeführerin sagte vereinbarte Termine zur Exploration durch den gerichtlich bestellten Sachverständigen zunächst ab beziehungsweise erschien so verspätet, dass der Termin scheiterte. Der Sachverständige legte sodann ein Gutachten nach Aktenlage vor, das er später ergänzte. Im Rahmen des Termins zur Hauptverhandlung am 1. Februar 2023 vereinbarten die Beschwerdeführerin und der Sachverständige einen Termin für ein Explorationsgespräch. Zu diesem erschien die Beschwerdeführerin, verweigerte jedoch nach Belehrung ihre Mitwirkung. Der Sachverständige regte daraufhin eine Unterbringung zur Begutachtung nach § 81 StPO an. Da die Beschwerdeführerin nicht kooperiere, sei die Unterbringung zur Beobachtung in einem öffentlichen psychiatrischen Krankenhaus sinnvoll. Aufgrund des sich abzeichnenden Fehlens der Kooperationsbereitschaft solle diese sechs Wochen dauern. Dieses Vorgehen sei aus forensisch-psychiatrischer Perspektive notwendig.
Der Verteidiger der Beschwerdeführerin nahm mit Schreiben vom 27. Februar 2023 Stellung und erklärte, die Unterbringung zur Beobachtung sei unverhältnismäßig. Die Beschwerdeführerin weigere sich, an einer Exploration mitzuwirken. Die Beobachtung allein habe regelmäßig keine Aussicht auf Erfolg. Eine Beobachtung sei nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in diesen Fällen unzulässig, da sie unter Umgehung der Aussagefreiheit des Beschuldigten den Zweck verfolge, den durch die Unterbringung erzeugten Druck zur Interaktion mit Dritten auszunutzen. Weiterhin sei die Unterbringung nicht angemessen.
Auf Anfrage des Gerichts zu dem beabsichtigten Untersuchungskonzept erklärte der Sachverständige mit Schreiben vom 10. März 2023, es sei ein Explorationsgespräch vorgesehen. Sollte dieses nicht zustande kommen, sei eine mehrwöchige Beobachtung geplant, um bei erneuten Verhaltensauffälligkeiten einen diagnostischen Rückschluss ziehen zu können. Bei gegebenem Einverständnis seien auch laborchemische Untersuchungen sinnvoll.
Mit Beschluss vom 27. März 2023 ordnete das Amtsgericht Augsburg die Unterbringung der Beschwerdeführerin zur Vorbereitung eines Gutachtens über ihren psychischen Zustand für die Dauer von höchstens sechs Wochen an.
Zur Begründung führte das Amtsgericht aus: Die Beschwerdeführerin sei mehrerer Straftaten dringend verdächtig. Die Unterbringung diene der Vorbereitung eines Gutachtens über den psychischen Zustand der Beschwerdeführerin und der Frage, ob der Allgemeinheit Gefahren drohen würden. Die Maßnahme sei verhältnismäßig. Auch dann, wenn die Mitwirkung verweigert werde, sei die Unterbringung zulässig, wenn ein verwertbares Ergebnis zu erwarten sei. Der Sachverständige habe dargelegt, dass er im Rahmen der Unterbringung ein weiteres Explorationsgespräch versuchen und durch Beobachtung der Beschwerdeführerin Verhaltensauffälligkeiten prüfen wolle. Es sei nicht ausgeschlossen, dass die Beschwerdeführerin zur Mitwirkung im Rahmen eines Explorationsgesprächs bereit sei. Darüber hinaus könnten laborchemische Untersuchungen Rückschlüsse auf Suchterkrankungen zulassen.
Mit Schreiben ihres Verteidigers vom 31. März 2023 ließ die Beschwerdeführerin sofortige Beschwerde gegen diesen Beschluss erheben.
Mit Beschluss vom 13. April 2023 verwarf das Landgericht Augsburg die sofortige Beschwerde als unbegründet. Die angeordnete Maßnahme sei verhältnismäßig. Der gerichtlich bestellte Sachverständige habe sie aufgrund seines persönlichen Eindrucks von der Beschwerdeführerin befürwortet und sogar selbst angeregt. Er habe die Beobachtung im Rahmen der Unterbringung auch dann für geeignet gehalten, Erkenntnisse zu gewinnen, wenn die Beschwerdeführerin weiterhin nicht zur Mitwirkung an Explorationsgesprächen bereit sei.
Der Beschluss wurde am 14. April 2023 ausgefertigt.
Nach § 81 Abs. 1 StPO kann das zuständige Gericht zur Vorbereitung eines Gutachtens über den psychischen Zustand des Beschuldigten beziehungsweise Angeklagten nach Anhörung eines Sachverständigen und des Verteidigers die Unterbringung und Beobachtung in einem öffentlichen psychiatrischen Krankenhaus anordnen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist die Unterbringung jedoch nicht verhältnismäßig, wenn sich der Betroffene weigert, die erforderlichen Untersuchungen zuzulassen beziehungsweise an ihnen mitzuwirken. Insbesondere dann, wenn eine Exploration erforderlich wäre, die Mitwirkung hieran aber verweigert wird und ein Erkenntnisgewinn daher nur bei Anwendung verbotener Vernehmungsmethoden oder einer anderen Einflussnahme auf die Aussagefreiheit des Betroffenen zu erwarten ist, ist die Anordnung der Unterbringung nicht verhältnismäßig. Zielt das Untersuchungskonzept darauf ab, den Betroffenen in seinem Alltagsverhalten und seiner Interaktion mit anderen Personen zu beobachten, so steht das allgemeine Persönlichkeitsrecht einer derartigen „Totalbeobachtung“ unüberwindbar entgegen. In einem solchen Fall wäre der Betroffene nur noch Objekt staatlicher Erkenntnisgewinnung.
Aufgrund des Vortrags der Beschwerdeführerin und den von ihr vorgelegten Unterlagen steht ernsthaft im Raum, dass die Anordnung der Unterbringung im vorliegenden Fall darauf abzielte, die Beschwerdeführerin in unzulässiger Weise zu veranlassen, einer Exploration und weiteren Untersuchungen entgegen ihrer eindeutigen Weigerung zuzustimmen. Darüber hinaus kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Unterbringung auf eine unzulässige „Totalbeobachtung“ abzielt. Dies abschließend zu klären, ist dem Hauptsacheverfahren vorbehalten.
Die damit eröffnete Folgenabwägung spricht für den Erlass einer einstweiligen Anordnung.
Erginge die einstweilige Anordnung nicht und erwiese sich die Verfassungsbeschwerde später als zulässig und begründet, so wäre mit der Unterbringung ein nicht mehr revidierbarer Verstoß gegen das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Beschwerdeführerin geschehen. Etwaige Erkenntnisse unterlägen dann zwar eventuell einem Verwertungsverbot. Die Einwirkung auf den Willensentschluss der Beschwerdeführerin und die vollständige Beobachtung ihres Verhaltens könnten jedoch nicht mehr rückgängig gemacht werden.
Erginge hingegen die einstweilige Anordnung und erwiese sich die Verfassungsbeschwerde später als erfolglos, so könnte der Beschluss des Amtsgerichts vollzogen werden. Die Aufklärung der offenen Fragen wäre nach wie vor möglich. Es ist nicht ersichtlich, dass eine Unterbringung erst so spät erfolgen könnte, dass Rückschlüsse auf den Gesundheitszustand der Beschwerdeführerin zu den Tatzeitpunkten unmöglich wären.
Die negativen Folgen in erstgenanntem Fall überwiegen insgesamt.