Das Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz hat mit Urteil vom 27. März 2023 zum Aktenzeichen 13 A 10948/22.OVG entschieden, dass alleinstehenden Erwachsenen ohne individuelle Risikofaktoren, die in Italien als Schutzberechtigte anerkannt wurden, bei einer Rückkehr dorthin keine mit Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – GRC – unvereinbare Aufnahmesituation droht.
Aus der Pressemitteilung des OVG Rheinland-Pfalz Nr. 3/2023 vom 25.04.2023 ergibt sich:
Die Klägerin, eine junge Frau somalischer Staatsangehörigkeit, reiste Ende 2017 u. a. über Italien nach Deutschland ein und stellte einen Asylantrag. Nach erfolglosem Abschluss des Verfahrens wurde die Klägerin nach Italien überstellt, reiste nur wenige Wochen später erneut nach Deutschland ein und stellte einen weiteren Asylantrag. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge lehnte ihren Antrag als unzulässig ab und drohte ihr die Abschiebung nach Italien an, nachdem die italienischen Behörden mitgeteilt hatten, dass der Klägerin bereits in Italien der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt worden ist. Ihre hiergegen erhobene Klage blieb vor dem Verwaltungsgericht Trier ohne Erfolg. Zur Begründung ihrer Berufung machte sie im Wesentlichen geltend, dass ihr im Falle der Rückkehr nach Italien die ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung drohe. Das Oberverwaltungsgericht wies die Berufung zurück.
Ein Asylantrag sei unzulässig, wenn ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union – wie hier Italien – dem Ausländer bereits internationalen Schutz gewährt habe. Die Unzulässigkeitsentscheidung stehe auch im Einklang mit höherrangigem Unionsrecht, insbesondere mit Art. 4 GRC, wonach niemand einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung unterworfen werden dürfe. Die Klägerin sei als in Italien anerkannt subsidiäre Schutzberechtigte bei Zugrundelegung der von der Rechtsprechung geforderten besonders hohen Schwelle der Erheblichkeit nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit der Gefahr einer solchen Behandlung ausgesetzt. Anerkannt Schutzberechtigten drohe bei einer Rückkehr nach Italien zwar die Obdachlosigkeit. Obdachlosigkeit im Sinne einer (dauerhaften) Wohnungslosigkeit sei jedoch nach den insoweit geltenden strengen Maßstäben des Europäischen Gerichtshofs und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nicht hinlänglich für die Annahme einer chartawidrigen Aufnahmesituation. In Italien erhielten anerkannt Schutzberechtigte – jedenfalls soweit alleinstehende Erwachsene ohne individuelle besondere Risikofaktoren betroffen seien – nämlich eine noch hinreichende Unterstützung zur Befriedigung ihrer elementarsten Grundbedürfnisse. Hierzu zähle neben einer grundlegenden medizinischen Versorgung und der Bereitstellung von Nahrung für Bedürftige auch die Bereithaltung von (Not-)Unterkünften, also von – kurzzeitigen – Schlafstellen und/oder Schutzräumen, die insbesondere einen ausreichenden Schutz vor extremen Witterungsverhältnissen und grundlegende sanitäre Einrichtungen böten. Nach Auswertung der aktuellen Erkenntnismittellage gelange das Gericht zum Ergebnis, dass anerkannt Schutzberechtigten, die keine besonderen Vulnerabilitäten aufwiesen, trotz einer drohenden Obdachlosigkeit die dann notwendigen Hilfsangebote durch staatliche und vor allem nichtstaatliche Stellen noch in hinreichenden Maße zur Verfügung stünden. Insbesondere existierten auch außerhalb der staatlichen Strukturen zahlreiche private Unterbringungsmöglichkeiten – namentlich Schlafplätze und Notunterkünfte –, betrieben etwa von Kirchen und Freiwilligenorganisationen sowie zahlreiche regionale und kommunale Angebote einer temporären Unterkunft. Ungeachtet all dessen stehe ihnen auch die zumutbare Möglichkeit offen, ihre eigene Situation – etwa durch die Aufnahme einer Beschäftigung – aktiv zu verbessern.
Das Oberverwaltungsgericht hat von der seit 1. Januar 2023 in Asylverfahren eröffneten Möglichkeit Gebrauch gemacht, die sogenannte „Tatsachenrevision“ zum Bundesverwaltungsgericht zuzulassen, weil es in der vorstehenden Lagebeurteilung von der Auffassung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen abgewichen ist.