Das Landesarbeitsgericht Köln hat mit Urteil vom 20.10.2022 zum Aktenzeichen 8 Sa 465/22 entschieden, dass eine wiederholt verspätete Arbeitsaufnahme trotz einschlägiger Abmahnungen geeignet sein kann, eine verhaltensbedingte Kündigung zu rechtfertigen
Nach den Umständen des Einzelfalls kann, um dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu genügen, der Ausspruch einer weiteren Abmahnung vor Ausspruch einer Kündigung auch dann erforderlich sein, wenn bereits mehrere Abmahnungen zu mehreren Pflichtverletzungen erteilt worden sind, diese dem Kläger aber zeitgleich übergeben worden sind. Hinsichtlich ihrer Warnfunktion sind die Abmahnungen in diesem Fall einer einheitlichen Abmahnung, in der mehrere Pflichtverletzungen abgemahnt werden, vergleichbar.
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer verhaltensbedingten Kündigung.
Der am 1986 geborene Kläger ist bei der Beklagten seit dem 01.09.2017 als Anlagenbediener in der Produktion zu einer durchschnittlichen monatlichen Bruttovergütung in Höhe von 3.000,00 Euro beschäftigt. Bei der Beklagten, die regelmäßig mehr als zehn Arbeitnehmer beschäftigt, ist ein Betriebsrat gebildet.
Am 24.03.2021 erteilte die Beklagte dem Kläger drei Abmahnungen, die jeweils den Vorwurf einer verspäteten Arbeitsaufnahme zum Gegenstand hatten. Konkret wurde dem Kläger vorgeworfen, am 06.01.2021 um 6:32 Uhr statt um 6:00 Uhr, am 09.02.2021 um 22:29 Uhr statt um 22:00 Uhr und am 14.03.2021 um 7:17 Uhr statt um 6:00 Uhr zur Arbeit erschienen zu sein. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Abmahnungsschreiben (Bl. 53 ff. d.A.) Bezug genommen.
Am 15.07.2021 nahm der Kläger seine Arbeitstätigkeit erneut 40 Minuten zu spät auf. Aus diesem Anlass fand am 16.08.2021 ein Personalgespräch mit dem Kläger statt, an dem für die Beklagte Frau S (Produktionsleitung) und Frau V (HR Business Partnerin) teilnahmen, und in dem der Kläger zu den Hintergründen seiner Verspätung befragt wurde. Im Nachgang zu diesem Gespräch hörte die Beklagte mit Schreiben vom 16.08.2021 den bei ihr bestehenden Betriebsrat zur beabsichtigten ordentlichen verhaltensbedingten Kündigung des Klägers an. Am 20.08.2021 erklärte der Betriebsrat, der beabsichtigten Kündigung zu widersprechen. Wegen der Einzelheiten des Widerspruchs wird auf Bl. 56 d.A. Bezug genommen.
Mit Schreiben vom 25.08.2021 kündigte die Beklagte das mit dem Kläger bestehende Arbeitsverhältnis fristgerecht zum 30.09.2021. Gegen diese Kündigung hat sich der Kläger mit seiner am 10.09.2021 beim Arbeitsgericht Aachen eingegangenen Klage gewandt, mit der er zugleich seine Weiterbeschäftigung begehrt hat. Er hat die Auffassung vertreten, die Kündigung sei jedenfalls unverhältnismäßig. Denn zu berücksichtigen sei, dass er am 06.01.2021 unverschuldet zu spät gekommen sei, weil auf dem Weg zur Arbeit sein Auto liegen geblieben sei. Am 09.02.2021 und 15.07.2021 habe er zunächst seine Stempelkarte vergessen und habe zurück nach Hause fahren müssen, um sie zu holen, da er ansonsten keinen Zutritt zum Betrieb erhalten habe. Zu der Verspätung am 14.03.2021 hat der Kläger behauptet, er habe Urlaub gehabt. Zudem habe er sich in allen Verspätungsfällen jeweils 15-20 Minuten vor Schichtbeginn beim jeweiligen Schichtführer telefonisch gemeldet, um seine Verspätung mitzuteilen.
Das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis ist durch die Kündigung der Beklagten vom 25.08.2021 nicht aufgelöst worden. Die Kündigung ist gem. § 1 Abs. 1 KSchG unwirksam, da sie sozial nicht gerechtfertigt ist. Sie ist insbesondere nicht durch verhaltensbedingte Gründe im Sinne des § 1 Abs. 2 KSchG bedingt.
Eine Kündigung ist iSv. § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG durch Gründe im Verhalten des Arbeitnehmers bedingt und damit nicht sozial ungerechtfertigt, wenn dieser seine vertraglichen Haupt- oder Nebenpflichten erheblich und in der Regel schuldhaft verletzt hat, eine dauerhaft störungsfreie Vertragserfüllung in Zukunft nicht mehr zu erwarten steht und dem Arbeitgeber eine Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers über die Kündigungsfrist hinaus in Abwägung der Interessen beider Vertragsteile nicht zumutbar ist (BAG, Urteil vom 7. Mai 2020 – 2 AZR 619/19 –, juris; BAG, Urteil vom 16. Dezember 2021 – 2 AZR 356/21 –, Rn. 12, juris).
Ein wiederholt verspätetes Erscheinen im Betrieb trotz einschlägiger Abmahnungen kann als Verletzung der Arbeitspflicht – je nach den Umständen des Einzelfalls°- einen zur Kündigung berechtigenden Grund im Verhalten des Arbeitnehmers im Sinn von § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG darstellen (vgl. v. BAG 16. September 2004 – 2 AZR 406/03 – Rn. 28; v. 15. November 2001 – 2 AZR 609/00 – Rn. 36 mwN., jeweils juris; Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz, Urteil vom 12. Januar 2022 – 7 Sa 228/20 –, Rn. 111, juris).
Der Kläger hat am 15.07.2021zum wiederholten Male und trotz vorheriger einschlägiger Abmahnungen seine Arbeitspflicht verletzt, indem er 40 Minuten zu spät zur Arbeit erschienen ist.
Dabei mag dahinstehen, ob die Verspätung des Klägers vom 06.01.2021 auf schuldhaftes Verhalten des Klägers zurückzuführen war oder auf einem Defekt seines Fahrzeugs beruhte, der trotz Anwendung der erforderlichen Sorgfalt von ihm nicht vorhersehbar bzw. nicht vermeidbar war. Denn auch wenn die Verspätung vom 06.01.2021 vom Kläger nicht zu vertreten gewesen sein sollte, lagen jedenfalls am 09.02.2021, 14.03.2021 und 15.07.2021 dem Kläger vorwerfbare Pflichtverletzungen vor. Für den 09.02.2021 und 15.07.2021 ist unstreitig, dass das Zuspätkommen des Klägers darauf zurückzuführen war, dass dieser zunächst seine Stempelkarte vergessen hatte. Auch für die Verspätung des Klägers am 14.03.2021 ist kein rechtfertigender Grund feststellbar. Soweit der Kläger zunächst vorgetragen hatte, er habe am 14.03.2021 Urlaub gehabt, hat die Beklagte im Einzelnen und unter Vorlage entsprechender Unterlagen dargelegt, dass der Kläger für den Zeitraum vom 13. – 16.03.2021 zwar Urlaub beantragt hatte, dieser ihm aber nicht genehmigt worden ist. Dieses sei dem Kläger am 09.03.2021 durch den Schichtleiter Herrn A mitgeteilt worden; folgerichtig sei der Kläger am 13.03.2021 auch zur Arbeit erschienen, wie auch (verspätet) am 14.03.2021. Diesem Vortrag ist der Kläger nicht mehr substantiiert entgegengetreten (§ 138 Abs. 3 ZPO) und hat auch keine anderweitigen Tatsachen, die sein Zuspätkommen am 14.03.2021 rechtfertigen könnten, dargelegt. Es handelt sich auch nicht um nur geringfüge Verspätungen, vielmehr beliefen sich diese auf Zeiträume von 29 bis 77 Minuten.
Dennoch verstößt die Kündigung, wie das Arbeitsgericht zutreffend ausgeführt hat, unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz; es hätte vor ihrem Ausspruch einer weiteren (einschlägigen) Abmahnung bedurft.
Auch wenn jede einzelne Verspätung des Klägers im Schichtbetrieb in der Produktion zu Störungen im Betriebsablauf und einer Mehrbelastung der anwesenden Kollegen führt, die für den Zeitraum der Verspätung Aufgaben des Klägers zusätzlich übernehmen müssen, war angesichts der eher geringen Schwere der Pflichtverletzung nach Auffassung der Kammer vor Ausspruch der Kündigung eine Abmahnung nicht ausreichend, um einem wiederholten Fehlverhalten des Klägers entgegenzuwirken und ihm die Bedrohung des Arbeitsplatzes zu verdeutlichen. Der Ausspruch jedenfalls einer weiteren Abmahnung war der Beklagten auch zumutbar. Dementsprechend hat auch die Beklagte selbst erst die vierte Verspätung des Klägers zum Anlass für den Ausspruch der streitgegenständlichen Kündigung genommen.
Soweit sie zuvor – betreffend die Verspätungen vom 06.01.2021, 09.02.2021 und 14.03.2021 – drei Abmahnungen ausgesprochen hatte, ist indes zu beachten, dass diese nicht im unmittelbaren Nachgang zu der jeweiligen Pflichtverletzung erfolgten und der Kläger hiernach dennoch mehrfach wieder gegen seine Verpflichtung zur pünktlichen Arbeitsaufnahme verstoßen hätte. Vielmehr bleiben die Verspätungen vom 06.01.2021 und 09.02.2021 zunächst ohne Reaktionen, erst nach der Verspätung vom 14.03.2021 wurden dem Kläger am 24.03.2021 wurden dem Kläger drei Abmahnungen zeitgleich übergeben und die Kündigung auf Grund des nächsten Verspätungsfalls am 15.07.2021 ausgesprochen. Im Unterschied zu der Konstellation, in der der Arbeitnehmer jeweils nach einem (erneuten) Pflichtverstoß abgemahnt wird, hat der Kläger in zeitlicher Hinsicht lediglich eine „Warnung“ erhalten. Diese mag zwar auf Grund der mehrfach abgemahnten Pflichtverletzungen von größerem Gewicht sein als in dem Fall, in dem lediglich ein einzelner Pflichtverstoß abgemahnt wird. Die Situation ist insoweit vergleichbar mit derjenigen, in der der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer eine einheitliche Abmahnung für mehrere Pflichtverstöße erteilt und bei der nächsten gleichgelagerten Pflichtverletzung kündigt. In beiden Fällen wird dem Arbeitnehmer nach der erteilten Warnung keine „zweite Chance“ eingeräumt. Einer solchen hätte es, um dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu genügen, nach Auffassung der Kammer in Anbetracht der verhältnismäßig geringen Schwere der Pflichtverletzung aber bedurft, um dem Kläger eine wohlmöglich letzte Gelegenheit zu geben, geeignete Vorkehrungen gegen ein erneutes Vergessen seiner Stempelkarte zu treffen bzw. eine weitere verspätete Arbeitsaufnahme zu vermeiden.