Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 08.02.2023 zum Aktenzeichen 1 BvR 311/22 entschieden, dass die Kostengrundentscheidung eines Sozialgerichts die Beschwerdeführerin in ihrem Recht aus Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG) in seiner Ausprägung als Willkürverbot verletzt.
Das Sozialgericht hat § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG) in nicht mehr nachvollziehbarer Weise angewendet.
Die im Bezug von Arbeitslosengeld II stehende Beschwerdeführerin erhob – nachdem das Jobcenter einen Kostenerstattungsantrag nicht beschieden hatte – nach Ablauf der gesetzlichen Wartefrist des § 88 Abs. 1 Satz 1 SGG Untätigkeitsklage zum Sozialgericht.
Nach Erledigung des Rechtsstreits lehnte das Sozialgericht ihren auf Erstattung außergerichtlicher Kosten gerichteten Antrag, ohne dass ein zureichender Grund für die verspätete Bescheidung bestanden hätte, ab und begründete dies im Wesentlichen damit, die Beschwerdeführerin habe es pflichtwidrig versäumt, sich vor Einreichung der Klage nochmals an das Jobcenter zu wenden.
Sachverhalt:
Mit Bescheid vom 2. Oktober 2020 wurden der Beschwerdeführerin Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Sozialgesetzbuch (SGB II) bewilligt. Gegen diesen Bescheid legte sie erfolgreich Widerspruch ein, weil bei der Leistungsberechnung ein zu hohes Einkommen berücksichtigt worden war. Im Abhilfebescheid vom 29. Oktober 2020 traf das Jobcenter eine Kostenentscheidung, wonach der Beschwerdeführerin auf Antrag die Kosten für das Widerspruchsverfahren zu erstatten waren. Am 5. November 2020 stellte der Bevollmächtigte der Beschwerdeführerin beim Jobcenter einen Kostenfestsetzungsantrag.
Als das Jobcenter nach sechs Monaten noch keine Kostenfestsetzungsentscheidung getroffen hatte, erhob die Beschwerdeführerin am 7. Mai 2021 durch ihren Bevollmächtigten Untätigkeitsklage beim Sozialgericht mit dem Antrag, das Jobcenter zu verurteilen, über ihren Kostenfestsetzungsantrag zu entscheiden. Nachdem das Jobcenter dem nachgekommen war, erklärten die Beschwerdeführerin und das Jobcenter den Rechtsstreit für erledigt. Die Beschwerdeführerin beantragte die Erstattung ihrer außergerichtlichen Kosten.
Mit angegriffenem Beschluss vom 29. Dezember 2021 lehnte das Sozialgericht den Antrag ab. Das Gericht habe nach billigem Ermessen durch Beschluss über die Kosten zu entscheiden. Da hierbei alle Umstände des Einzelfalls in die Entscheidungsfindung einbezogen werden könnten, sei nicht vornehmlich auf den Erfolg der Klage abzustellen. Eine Kostenerstattung entspreche hiernach nicht der Billigkeit. Weil die formalen Voraussetzungen der Zulässigkeit und Begründetheit der Untätigkeitsklage bei deren Erhebung regelmäßig vorlägen, führe eine Berücksichtigung der Erfolgsaussichten in der Regel zu einer nicht ohne Weiteres hinzunehmenden Benachteiligung der Beklagtenseite, was dem Grundsatz des fairen Verfahrens evident widerspreche. Deshalb sei es von überwiegender Bedeutung, ob die Beklagtenseite durch ihr Verhalten unter Beachtung der die Klägerseite treffenden Schadensminderungsobliegenheit sowie einer eventuellen Mutwilligkeit Veranlassung zur Klage gegeben habe. Die Beschwerdeführerin habe sich vor Erhebung der Untätigkeitsklage nicht mehr an die Beklagte gewandt und sei damit ihrer Obliegenheit zur Schadensminderung nicht nachgekommen. Dies sei durch einfaches Anwaltsschreiben unter Setzung einer angemessenen Frist und Hinweis auf die dann ins Auge gefasste Rechtsfolge problemlos möglich gewesen. Die Klage erscheine auch mutwillig. Mutwillig handele derjenige, der von vornherein den kostspieligeren Weg wähle und sich nicht so verhalte, wie dies eine bemittelte Partei getan hätte. Ein verständiger Beteiligter wähle insbesondere den kostengünstigeren und im Regelfall schnelleren Weg der Nachfrage bei der Beklagten. Auch stehe das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes zur Verfügung.
Hiergegen wendet sich die Beschwerdeführerin mit ihrer Verfassungsbeschwerde und rügt unter anderem die Verletzung des Willkürverbots aus Art. 3 Abs. 1 GG.
Wesentliche Erwägungen der Kammer:
Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet. Die Entscheidung des Sozialgerichts verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Recht aus Art. 3 Abs. 1 GG in seiner Ausprägung als Willkürverbot.
Die im Ausgangsverfahren in Streit stehende Frage, wer die Kosten einer zulässigen und begründeten Untätigkeitsklage trägt, die sich nach Klageerhebung erledigt hat, richtet sich nach § 193 SGG. Das Sozialgericht entscheidet dabei nach billigem Ermessen aufgrund allgemeiner Grundsätze. Bei der Entscheidung über die Kosten nach Erledigung der Hauptsache ist grundsätzlich der Ausgang des Verfahrens auf Grundlage des Sach- und Streitstands zum Zeitpunkt der Erledigung maßgeblich.
Ist die Untätigkeitsklage – wie hier – aufgrund Fristablaufs und mangels zureichenden Grundes für die Verspätung zulässig und begründet, ist zwar nicht ausgeschlossen, dass das Gericht in pflichtgemäßer Ausübung seines Ermessens aus Gründen der Billigkeit gleichwohl eine Kostenerstattung ablehnt. Hier hat das Sozialgericht das ihm eingeräumte Ermessen mit der Ablehnung der Kostenerstattung jedoch in nicht mehr nachvollziehbarer Weise gehandhabt. Es hat den seine Ermessensausübung leitenden Grundsatz, ein anwaltlich vertretener Leistungsempfänger sei grundsätzlich verpflichtet, sich vor Erhebung einer Untätigkeitsklage nochmals an den Leistungsträger zu wenden und deutlich zu machen, dass eine Entscheidung über einen Antrag oder Rechtsbehelf noch ausstehe und die Behörde bei weiterem Ausbleiben einer Entscheidung mit einer Untätigkeitsklage rechnen müsse, nicht nachvollziehbar aus dem geltenden Recht abgeleitet.
Eine allgemeine Pflicht, die Behörde nach Ablauf der gesetzlichen Wartefrist zunächst auf die ausstehende Entscheidung über den Antrag oder Widerspruch aufmerksam zu machen, die Klageerhebung anzukündigen und nachzufragen, ob sie bald entscheide, findet keine Stütze im Gesetz und kann im Rahmen pflichtgemäßer Ermessensausübung auch auf keinen der Begründungsansätze des Sozialgerichts gestützt werden. Eine Pflicht, vor der Erhebung einer Untätigkeitsklage den Sachstand zu erfragen, besteht nicht generell, sondern nur unter besonderen Umständen des Einzelfalls.
Wenn nach Ablauf der Wartefrist mit der Erhebung einer zulässigen Untätigkeitsklage eine formale Rechtsposition ausgenutzt wird, verstößt dies grundsätzlich nicht gegen den Grundsatz von Treu und Glauben, weil der Gesetzgeber selbst geregelt hat, wie lange die Betroffenen zuwarten müssen. Wer nach Ablauf dieser Fristen klagt, handelt grundsätzlich nicht treuwidrig.
Die Erhebung der Untätigkeitsklage ohne erneute Fristsetzung durch die Bürgerin oder den Bürger ist auch nicht deshalb generell mutwillig, weil eine bemittelte Partei anders gehandelt hätte. Es ist schon nicht nachvollziehbar, inwiefern der von dem Sozialgericht angestellte Vergleich mit einer bemittelten Partei im vorliegenden Verfahren Bedeutung haben könnte, denn es geht hier nicht um Prozesskostenhilfe.
Auch aus dem angeführten Gebot der Rücksichtnahme mag sich zwar unter besonderen Umständen eine Pflicht ergeben, die Behörde vor Erhebung einer zulässigen und begründeten Untätigkeitsklage an den Fristablauf zu erinnern; hieraus wird jedoch keine generelle Nachfragepflicht abgeleitet. Eine solche hat das Sozialgericht nicht nachvollziehbar begründet.
Die Mutwilligkeit kann auch nicht mit dem Sozialgericht daraus abgeleitet werden, dass mit dem Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nach § 86b SGG ein „besseres Mittel“ zur Verfügung stehe. Dagegen spricht bereits, dass § 86b Abs. 2 SGG weitergehende Voraussetzungen statuiert. Insbesondere muss Eilbedürftigkeit bestehen. Die Untätigkeitsklage setzt hingegen keine Eilbedürftigkeit voraus.
Das Sozialgericht hat ein missbräuchliches Handeln der Beschwerdeführerin nicht dargelegt. Es hat keine Besonderheiten des Falles angeführt, die ihr Verhalten als einen Missbrauch von Rechten oder ein in sonstiger Weise unredliches oder gar sittenwidriges Verhalten erscheinen lassen könnten.