Das Oberverwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen hat mit Urteil vom 13.12.2022 zum Aktenzeichen 1 LC 64/22 die Straßenverkehrsbehörde verpflichtet, unter Beachtung der Rechtsauffassung des Oberverwaltungsgerichts erneut über den Antrag von Anwohnern zu entscheiden, die ein straßenverkehrsbehördliches Einschreiten gegen die in den von ihnen bewohnten Straßen bestehende Praxis des aufgesetzten Gehwegparkens begehren. Die Anwohner haben einen Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung, wenn der Gehweg in seiner Funktion beeinträchtigt wird. Eine solche Funktionsbeeinträchtigung liegt vor, wenn durch das aufgesetzte Parken auf den Gehwegen nicht mehr genügend Platz für einen ungehinderten Verkehr von Fußgängern gegebenenfalls mit Kinderwagen oder Rollstuhlfahrern auch im Begegnungsverkehr verbleibt.
Aus der Pressemitteilung des OVG Bremen vom 03.03.2023 ergibt sich:
Die Kläger waren bzw. sind Eigentümer und Bewohner von Wohnhäusern in den bremischen Stadtteilen Östliche Vorstadt, Neustadt und Findorff. In den von den Klägern bewohnten Straßen wird seit Jahren auf beiden Straßenseiten aufgesetzt auf den Gehwegen geparkt, obwohl dies nicht durch Verkehrszeichen erlaubt wurde. Der Antrag der Kläger auf Einschreiten gegen diesen verkehrsordnungswidrigen Zustand wurde von der Straßenverkehrsbehörde abgelehnt. Mit ihrer Klage machten die Kläger geltend, dass die Straßenverkehrsbehörde geeignete Maßnahmen gegen das aufgesetzte Gehwegparken ergreifen und diese anschließend evaluieren müsse.
Dem ist das Verwaltungsgericht in der ersten Instanz (5 K 1968/19) im Wesentlichen gefolgt und hat festgestellt, dass die Kläger als Anwohner von Straßen, in denen nicht nur vereinzelt, sondern dauerhaft verkehrsordnungswidrig auf den Gehwegen geparkt werde, berechtigt seien, von der Straßenverkehrsbehörde ein Einschreiten zu verlangen. Das Oberverwaltungsgericht hat diese Entscheidung im Kern bestätigt, der Straßenverkehrsbehörde aber ein größeres Ermessen bei der Umsetzung ihrer Maßnahmen eingeräumt. Dabei hat es sich von folgenden Erwägungen leiten lassen:
Das aufgesetzte Parken verstößt gegen das aus § 12 Abs. 4 und 4a StVO abzuleitende Verbot, Gehwege ohne spezielle Erlaubnis zum Abstellen von Kraftfahrzeugen zu nutzen. Dieses allgemeine Verbot des Gehwegparkens wird in den Wohnstraßen der Kläger offensichtlich nicht beachtet.
Hiergegen kann die Straßenverkehrsbehörde unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes straßenverkehrsrechtliche Anordnungen treffen. Grundsätzlich liegen auch die Voraussetzungen für die Durchführung von Abschleppmaßnahmen vor.
Die Parkvorschriften in § 12 Abs. 4 und 4a StVO dienen in erster Linie der Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs und damit grundsätzlich dem Interesse der Allgemeinheit. Das Oberverwaltungsgericht geht jedoch davon aus, dass dem Verbot des Gehwegparkens auch eine individualschützende Funktion zukommt, da es erkennbar den Interessen derjenigen dient, die den Gehweg zulässigerweise benutzen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass dieser Individualschutz in jedem Fall, d.h. unabhängig vom Grad der Beeinträchtigung, gewährt werden müsste. Vielmehr besteht ein solcher Schutz nur, wenn die Belange dieser Nutzer in einer qualifizierten und individualisierten Weise betroffen sind. Dies ist dann der Fall, wenn eine für die Betroffenen unzumutbare Funktionsbeeinträchtigung des Gehweges eintritt.
Das Oberverwaltungsgericht hat festgestellt, dass die Funktion eines Gehwegs nicht erst dann beeinträchtigt ist, wenn Fußgänger nicht mehr oder nur mit Mühe an parkenden Fahrzeugen vorbeikommen oder ein Fußgängergegenverkehr erschwert wird. Es genügt nicht, wenn nur ein schmaler Engpass verbleibt, den Rollstuhlfahrer oder Personen mit Kinderwagen „mit Mühe undNot“ passieren können. Vielmehr muss auch ein Begegnungsverkehr unter ihnen und mit Fußgängern möglich bleiben.
Hiervon ausgehend hat das Gericht für die Kläger eine unzumutbare Funktionsbeeinträchtigung der Gehwege bejaht, weil in ihren Straßen durch das aufgesetzte Parken Restgehwegbreiten von weniger als 1,50 m auf annähend der gesamten Länge der vorhandenen Gehwege verbleiben. Ein Begegnungsverkehr ist hier nicht mehr möglich. Die Kläger des vorliegenden Verfahrens haben folglich einen Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung über ein behördliches Einschreiten. Eine Pflicht der Straßenverkehrsbehörde, unmittelbar gegen die verkehrsordnungswidrig parkenden Fahrzeuge einzuschreiten, besteht nach Auffassung des Gerichts jedoch nicht. Dies begründet es damit, dass die betroffenen Gehwege in den Straßen der Kläger noch immer – wenn auch eingeschränkt – nutzbar sind und Rechtsgüter von überragender Bedeutung, wie etwa die Gesundheit, nicht konkret gefährdet sind. So müssen Gehwegnutzer in den betroffenen Straßen nicht auf die Straße ausweichen. Der Ermessenspielraum der Behörde bleibt auch in Anbetracht der Dauer und Häufigkeit der Verstöße bestehen. Diesen Punkt hatte die Vorinstanz noch anders gesehen. Nach Auffassung des Oberverwaltungsgerichts ist die Behörde vielmehr gehalten, bei ihren Entscheidungen zu berücksichtigen, dass es sich bei dem Problem des unerlaubten Gehwegparkens um eine Praxis handelt, die in den innerstädtischen Lagen weit verbreitet und über Jahrzehnte weitestgehend geduldet worden ist. Vor diesem Hintergrund ist es nach Auffassung des Gerichts sachgerecht, wenn die Behörde innerhalb eines Konzepts für ein stadtweites Vorgehen zunächst den Problemdruck in den am stärksten betroffenen Quartieren ermittelt. Soweit dabei geplant ist, die Straßen mit besonders geringen verbleibenden Restgehwegbreiten priorisiert zu behandeln, ist dagegen nichts einzuwenden. Der Verweis auf ein Konzept wird aber die Ermessensentscheidung nur solange tragen, wie dieses auch tatsächlich und nachvollziehbar umgesetzt wird.
Das Oberverwaltungsgericht hat wegen grundsätzlicher Bedeutung die Revision gegen das Urteil zugelassen.