Das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen hat mit Urteil vom 13.02.2023 zum Aktenzeichen 12 A 117/20 in einem vom Rechtsanwalt Dipl.-Jur. Jens Usebach LL.M. der Kölner Rechtsanwaltskanzlei JURA.CC vertretenen Fall entschieden, dass die Aufnahme eines Studiums im übernächsten Semester und die Ablehnung eines vorherigen Studienplatzes an einem anderen Ort immer noch unverzüglich ist.
Der am 9. Dezember 1982 geborene Kläger begehrt eine Vorabentscheidung betreffend Ausbildungsförderung für das zum Sommersemester 2018 an der Universität zu Köln aufgenommene Studium der Humanmedizin mit dem Studienziel Staatsexamen. Im Dezember 2009 erlangte der Kläger auf dem zweiten Bildungsweg die allgemeine Hochschulreife mit der Durchschnittsnote 2,6 und bewarb sich bis zum Sommersemester 2017 erfolglos um einen Studienplatz für Humanmedizin.
Mit Bescheid der Stiftung für Hochschulzulassung hochschulstart.de vom 10. August 2017 wurde der Kläger für das Wintersemester 2017/2018 zum Studium der Humanmedizin an der Universität des Saarlandes in Saarbrücken zugelassen. Diesen Studienplatz nahm er nicht an.
Am 14. August 2017 stellte der Kläger einen Antrag auf Vorabentscheidung nach § 46 Abs. 5 BAföG für das Studium der Humanmedizin an der Universität zu Köln ab dem Sommersemester 2018 (1. April 2018). Dem Antrag waren Nachweise über erfolglose Bewerbungen um einen Studienplatz Medizin für den Zeitraum vom Wintersemester 2015/2016 bis zum Sommersemester 2017 beigelegt.
Mit Bescheid der Stiftung für Hochschulzulassung hochschulstart.de vom 9. Februar 2018 ist der Kläger für das Sommersemester 2018 zum Studium der Humanmedizin an der Universität zu Köln zugelassen worden. Dort ist er seit diesem Semester in dem besagten Studienfach immatrikuliert.
Der Kläger hat einen Anspruch gegen das beklagte Studierendenwerk auf die begehrte Vorabentscheidung nach § 46 Abs. 5 Satz 1 Nr. 5 BAföG darüber, dass die Förderungsvoraussetzungen für das von ihm ab dem Sommersemester 2018 aufgenommene Studium der Humanmedizin an der Universität zu Köln dem Grunde nach trotz Überschreitens der Altersgrenze des § 10 Abs. 3 Satz 1 BAföG vorliegen.
§ 46 Abs. 5 BAföG räumt in den dort genannten Fällen, in denen einschränkende Voraussetzungen für die Leistungsgewährung gelten, dem Auszubildenden einen Anspruch auf Vorabentscheidung dem Grunde nach ein, wenn er dies besonders beantragt. Solche Vorabentscheidungen dem Grunde nach sind feststellende Verwaltungsakte, die grundlegende Fragen des Ausbildungsförderungsverhältnisses, die für einen Ausbildungsabschnitt nur einheitlich beantwortet werden können, vorab mit Bindungswirkung für in der Regel den gesamten Ausbildungsabschnitt entscheiden (vgl. § 46 Abs. 5 Satz 2 BAföG). Sie dienen sowohl dem berechtigten Interesse des Auszubildenden an der Planbarkeit seines Ausbildungsvorhabens als auch dem Interesse der Förderungsverwaltung, grundlegende Fragen des Förderungsverhältnisses nicht für jeden Bewilligungszeitraum, der in der Regel nur ein Jahr beträgt (§ 50 Abs. 3 BAföG), erneut entscheiden und im Verwaltungsrechtsstreit vertreten zu müssen.
Um dem feststellenden Charakter der Vorabentscheidung nach § 46 Abs. 5 BAföG Rechnung zu tragen, versteht der Senat den schriftsätzlich gestellten Klageantrag im tenorierten Sinne.
Den für eine Vorabentscheidung erforderlichen Antrag hat der Kläger am 14. August 2017 gestellt. Sein Rechtsschutzinteresse für die begehrte Entscheidung folgt aus der erklärten Absicht des Klägers, für das (mit dem Sommersemester 2018 aufgenommene) Studium der Humanmedizin Ausbildungsförderung beantragen zu wollen.
Die Förderungsvoraussetzungen für das vom Kläger ab dem Sommersemester 2018 aufgenommene Studium der Humanmedizin an der Universität zu Köln liegen dem Grunde nach trotz Überschreitens der Altersgrenze des § 10 Abs. 3 Satz 1 BAföG vor.
Nach § 10 Abs. 3 Satz 1 BAföG in der im Zeitpunkt der Aufnahme der Ausbildung (April 2018) geltenden Fassung (im Folgenden nur: a. F.) wird Ausbildungsförderung nicht geleistet, wenn der Auszubildende bei Beginn des Ausbildungsabschnitts, für den er Ausbildungsförderung beantragt, das 30. Lebensjahr, bei Studiengängen nach § 7 Absatz 1a das 35 Lebensjahr vollendet hat. Die Anhebung der Altersgrenze auf das 45. Lebensjahr durch das Siebenundzwanzigste Gesetz zur Änderung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes (27. BAföGÄndG) vom 15. Juli 2022 (BGBl. I S. 1150) kommt im vorliegenden Fall nicht zum Tragen. Eine rückwirkende Anwendbarkeit sieht das Gesetz nicht vor; vielmehr regelt § 66a Abs. 2 BAföG, dass u. a. § 10 des Gesetzes in der geänderten Fassung des 27. BAföGÄndG erst ab dem 1. August 2022 anzuwenden ist, soweit nachstehend wie hier der Fall nichts anderes bestimmt ist.
Der Kläger hatte bei Beginn des Studiums im Sommersemester 2018 die Altersgrenze des § 10 Abs. 3 Satz 1 BAföG a. F. überschritten; seinerzeit war er bereits 35 Jahre alt. Nach den Bestimmungen des Satzes 2 der Vorschrift gilt die Altersgrenze im Fall des Klägers allerdings nicht.
Das folgt allerdings nicht aus einer Anwendung des § 10 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1a BAföG a. F. Denn diese Vorschrift erfasst nur solche Auszubildende, die ausschließlich aufgrund ihrer „materiellen“ beruflichen Qualifikation an einer Hochschule eingeschrieben wurden.
Das war beim Kläger ersichtlich nicht der Fall; er hat den Studienplatz im Fach Humanmedizin in dem von der Stiftung für Hochschulzulassung koordinierten Vergabeverfahren aufgrund der im zweiten Bildungsweg erworbenen Hochschulzugangsberechtigung erhalten.
Mithin greift jedoch § 10 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 BAföG a. F., wonach Satz 1 der Vorschrift also die Altersgrenze von 30 Jahren u. a. dann nicht gilt, wenn der Auszubildende die Hochschulzugangsberechtigung an einer Ausbildungsstätte im Sinne von § 7 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 Buchst. a BAföG erworben hat; zu den dort aufgeführten Ausbildungsstätten des zweiten Bildungsweges gehört auch das Abendgymnasium, an dem der Kläger die allgemeine Hochschulreife im Dezember 2009 erlangt hatte.
Zudem kommt hier § 10 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 Halbs. 1 BAföG a. F. für die Zeit nach Erwerb der Hochschulzugangsberechtigung im zweiten Bildungsweg zum Tragen; danach gilt Satz 1 auch dann nicht, wenn der Auszubildende aus persönlichen oder familiären Gründen gehindert war, den Ausbildungsabschnitt rechtzeitig zu beginnen. Als persönlicher Hinderungsgrund in diesem Sinne ist auch die „Nichtzulassung zur gewählten Ausbildung im Auswahlverfahren“ zu verstehen.
Aus den vom Kläger vorgelegten Unterlagen ergibt sich, dass er bis einschließlich zum Sommersemester 2017 keine Aussicht auf die Erlangung eines Studienplatzes im zulassungsbeschränkten Studiengang Humanmedizin hatte und seine Bewerbungen daher erfolglos geblieben waren. Auch zu der Zeit, als der Kläger die Aufnahme eines Studiums der Rechtswissenschaften in Betracht zog, hat er sich ausweislich der vorgelegten Ablehnungsbescheide der Stiftung für Hochschulzulassung weiterhin ohne Erfolg um die Zuteilung eines Medizinstudienplatzes bemüht. Die Nichtzulassung war offensichtlich kausal für die verzögerte Aufnahme des Studiums und der damit einhergehende Hinderungsgrund ist auch bereits vor Erreichen der Altersgrenze des § 10 Abs. 3 Satz 1 BAföG a. F. eingetreten.
Das Unverzüglichkeitsgebot in § 10 Abs. 3 Satz 3 BAföG a. F. steht einer Anwendung der Nummern 1 und 3 des Satzes 2 der Vorschrift im Fall des Klägers entgegen der Annahme des beklagten Studierendenwerks und des Verwaltungsgerichts nicht entgegen. Denn der Kläger hat die hier in Rede stehende Ausbildung unverzüglich aufgenommen, nachdem der bestehende Hinderungsgrund die Nichtzulassung zum Studium weggefallen war. Zwar hätte er das Studium der Humanmedizin bereits ein Semester früher, nämlich zum Wintersemester 2017/2018, an der Universität Saarbrücken aufnehmen können. Die dadurch eingetretene Verzögerung steht der Annahme der Unverzüglichkeit indes nicht entgegen.
Unverzüglich, d. h. nicht auf schuldhaftem Zögern beruhend, ist das Verhalten eines Auszubildenden danach dann nicht mehr, wenn es eine rechtliche Obliegenheit verletzt und dem Auszubildenden vorwerfbar ist. Dabei ist davon auszugehen, dass der die Altersgrenze des § 10 Abs. 3 Satz 1 BAföG überschreitende Auszubildende verpflichtet ist, seine Ausbildung im Hinblick auf den Beginn und den Ablauf des Ausbildungsabschnitts, für den er Förderung beantragt, umsichtig zu planen und zielstrebig durchzuführen. Die daraus herzuleitenden Anforderungen sind umso strenger, je weiter der Auszubildende die Altersgrenze überschritten hat. Ob der Auszubildende den Ausbildungsabschnitt, für den er Ausbildungsförderung beantragt, „unverzüglich“ begonnen hat, beurteilt sich nicht allein nach objektiven Umständen. Es ist vielmehr auch in subjektiver Hinsicht zu prüfen, ob ein etwaiges Unterlassen notwendiger Maßnahmen dem Auszubildenden vorwerfbar ist und ihn damit ein Verschulden trifft. Auch ein vom Auszubildenden aus entschuldbaren Gründen hinausgezögerter Beginn des Ausbildungsabschnitts kann deshalb im Ergebnis noch unverzüglich sein.
Der Kläger hat das Studium der Humanmedizin unverzüglich nach der erstmaligen Zuteilung des Studienplatzes aufgenommen. Die Verzögerung um ein Semester, die dadurch eingetreten ist, dass er den zugeteilten Studienplatz in Saarbrücken abgelehnt und das Studium erst mit dem nachfolgenden Semester in Köln aufgenommen hat, mag zwar einen Verstoß gegen das Gebot der Zielstrebigkeit begründen. Dieser Verstoß ist dem Kläger indes in Anbetracht der seinerzeit in den Blick zu nehmenden Lebensumstände, nicht vorzuwerfen. Das gilt schon deshalb, weil die mit der Annahme des Studienplatzes in Saarbrücken verbundene Beeinträchtigung der langjährigen Lebensgemeinschaft mit seinem Lebensgefährten und jetzigen Ehegatten dem Kläger nicht zuzumuten war.
Ebenso durfte der Kläger seinerzeit nach seinem eigenen plausiblen Vortrag annehmen, dass er den begehrten Studienplatz an seiner Wunschuniversität in Köln zum folgenden Sommersemester 2018 erhalten würde; ob es auf eine solche Erwartung für die Frage der Vorwerfbarkeit der Ablehnung des im August 2017 erhaltenen Platzangebots überhaupt ankommt, wenn der Wunschstudienplatz wie hier tatsächlich zum folgenden Semester zugeteilt wurde, kann insofern dahinstehen.
Der Einwand des beklagten Studierendenwerks, der Kläger habe dadurch, dass er sich bundesweit um einen Studienplatz im Fach Humanmedizin beworben habe, zum Ausdruck gebracht, dass er bereit gewesen sei, seinen Lebensschwerpunkt gegebenenfalls auch ins Saarland zu verlegen, greift schon deshalb nicht durch, weil der Kläger zum Zeitpunkt seiner Studienplatzbewerbung für das Wintersemester 2017/2018 im April 2017 noch nicht konkret absehen konnte, dass der Gesetzgeber demnächst die Eheschließung für gleichgeschlechtliche Partner ermöglichen würde. Erst nach der bereits angesprochenen Verabschiedung des Gesetzentwurfes am 30. Juni 2017 durfte der Kläger annehmen, dass ihm die Eheschließung mit seinem Lebensgefährten demnächst möglich sein werde.
Zudem sind örtlich breiter gestreute Bewerbungen um einen zulassungsbeschränkten Studienplatz nicht notwendigerweise dahingehend zu deuten, dass der Bewerber auch bereit ist, den Studienplatz an allen fraglichen Orten anzunehmen. Denn die Angabe mehrerer Studienorte erhöht die Wahrscheinlichkeit für die Zuteilung eines Studienplatzes, der gegebenenfalls an einer der einschlägigen Tauschbörsen eingesetzt werden kann, um wie vom Kläger erfolglos versucht nach Möglichkeit doch noch einen Platz an der oder den eigentlichen Wunschuniversität(en) zu erlangen. Die Ablehnung eines zugeteilten Studienplatzes schmälert auch nicht die Erfolgsaussichten für eine erneute Bewerbung mit dem Wunschort in folgenden Semestern.
Die Anforderungen an den Ausschluss der Vorwerfbarkeit der hier eingetretenen Verzögerung der Studienaufnahme sieht der Senat auch in Anbetracht des Umstandes als erfüllt an, dass der Kläger bei Beginn des Studiums zum Sommersemester 2018 bereits das 35. Lebensjahr vollendet hatte. Die hier eingetretene Verzögerung der Studienaufnahme um lediglich ein Semester begründet jedenfalls insoweit keine weitergehend gesteigerten Anforderungen.