Unterlassene Auskunft der Bundesregierung zur Zahl der im Ausland tätigen Verfassungsschutzbediensteten verletzt parlamentarisches Fragerecht

Das Bundesverfassungsgericht hat mit Urteil vom 14. Dezember 2022 zum Aktenzeichen 2 BvE 8/21 entschieden, dass die Weigerung der Bundesregierung, die Zahl der in den Jahren 2015 bis 2019 in das Ausland entsandten Bediensteten des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) mitzuteilen, das parlamentarische Fragerecht des antragstellenden Abgeordneten aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 Grundgesetz (GG) verletzt.

Aus der Pressemitteilung des BVerfG Nr. 107/2022 vom 14. Dezember 2022 ergibt sich:

Rechtfertigungsgründe für die Verweigerung der begehrten Auskunft liegen nicht vor. Die Anfrage betrifft weder den Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung noch Grundrechte Dritter. Eine Gefährdung des Staatswohls ist weder hinreichend dargelegt noch ansonsten ersichtlich. Die abstrakte Überlegung, dass ausländische Nachrichtendienste Informationen sammeln, um diese wie ein „Mosaik“ zusammenzuführen, entbindet die Bundesregierung nicht von der konkreten Darlegung, dass es sich bei der jeweiligen erfragten Tatsache gerade um einen solchen „Mosaikstein“ handeln könnte, der geeignet wäre, ein Gesamtbild entstehen zu lassen und damit den angestrebten Erkenntnisgewinn zu erreichen. An einer solchen Darlegung fehlt es im vorliegenden Fall.

Sachverhalt:

Der Antragsteller ist Abgeordneter des Deutschen Bundestages und Mitglied der FDP-Bundestagsfraktion. Er bat die Bundesregierung um Auskunft über die Anzahl der in den letzten fünf Jahren jeweils in das Ausland entsandten Bediensteten des BfV.

Mit Schreiben vom 9. Dezember 2020 teilte der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat im Namen der Bundesregierung mit, dass die Beantwortung der Frage nicht – auch nicht eingestuft als geheimhaltungsbedürftige Verschlusssache – erfolgen könne. Die abgefragten Informationen beträfen in besonderem Maße das Staatswohl. Arbeitsmethoden und Vorgehensweisen der Sicherheitsbehörden des Bundes seien im Hinblick auf die künftige Aufgabenerfüllung besonders schutzwürdig. Die Beantwortung der Frage würde spezifische Informationen zur Tätigkeit, insbesondere zur Methodik und den konkreten Fähigkeiten der Sicherheitsbehörden einem nicht eingrenzbaren Personenkreis zugänglich machen. Insbesondere durch die Auskunft über die Größenordnung des eingesetzten Personals könnten Rückschlüsse auf die Arbeitsweise des BfV gezogen werden. In einem weiteren Schreiben führte er darüber hinaus aus, bereits die Offenlegung von personellen Größenordnungen zeige den Rahmen nachrichtendienstlicher Methodik als Grundlage operativen Handelns auf und ließe damit Rückschlüsse auf die operativen Fähigkeiten des BfV zu. Auch das geringfügige Risiko des Bekanntwerdens im Fall einer eingestuften Beantwortung der Frage könne nicht hingenommen werden.

Der Antragsteller begehrt im Wege des Organstreitverfahrens die Feststellung, dass ihn die Bundesregierung durch die Verweigerung der erbetenen Auskunft in seinem parlamentarischen Fragerecht aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt hat.

Wesentliche Erwägungen des Senats:

Der Antrag ist begründet, weil die Weigerung der Bundesregierung, die Zahl der in den Jahren 2015 bis 2019 in das Ausland entsandten Bediensteten des Bundesamtes für Verfassungsschutz mitzuteilen, das parlamentarische Fragerecht des Antragstellers aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt.

Aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 und Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG folgt ein Frage- und Informationsrecht des Deutschen Bundestages gegenüber der Bundesregierung, an dem die einzelnen Abgeordneten nach Maßgabe der Ausgestaltung in der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages teilhaben und dem grundsätzlich eine Antwortpflicht der Bundesregierung gegenübersteht.

Der Informationsanspruch des Deutschen Bundestages und der einzelnen Abgeordneten ist allerdings nicht grenzenlos. Diese Grenzen müssen aber, auch soweit sie einfachgesetzlich geregelt sind, ihren Grund im Verfassungsrecht haben. Demgemäß ist das parlamentarische Fragerecht begrenzt durch den Zuständigkeitsbereich der Regierung, den Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung, die Grundrechte Dritter und das Staatswohl.

Wenn die Bundesregierung die erbetenen Auskünfte ganz oder teilweise verweigert oder nur in nicht öffentlicher Form erteilt, hat sie dies nachvollziehbar zu begründen. Dabei ist ein Nachschieben von Gründen nicht zulässig.

Nach diesen Maßstäben hat die Bundesregierung die Verweigerung der erbetenen Auskunft jedenfalls nicht hinreichend begründet und dadurch das parlamentarische Fragerecht des Antragstellers aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt.

Die Verweigerung der begehrten Informationen ist auf der Grundlage des Sachvortrags der Antragsgegnerin insbesondere nicht aus Gründen des Staatswohls gerechtfertigt. Als ein solcher Grund kommt vorliegend ausschließlich das Interesse an der Erhaltung der Funktionsfähigkeit des Verfassungsschutzes in Betracht.

Es ist weder von der Antragsgegnerin dargelegt noch ansonsten ersichtlich, dass die Erteilung der begehrten Auskunft zu einer Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit des BfV führen kann.

Die Anfrage des Antragstellers richtet sich ausschließlich auf die Mitteilung der Gesamtzahl der in den Jahren 2015 bis 2019 jeweils im Ausland tätigen Bediensteten des BfV und eine Bewertung dieses Umstands mit Blick auf die Aufgabenverteilung zwischen BfV und Bundesnachrichtendienst (BND). Eine Spezifizierung der erfragten Zahl der Auslandsbediensteten nach Einsatzorten oder -regionen, Einsatzzeiten, Tätigkeitsschwerpunkten oder sonstigen Merkmalen fordert der Antragsteller nicht.

Dem steht der Vortrag der Antragsgegnerin zur Methodik nachrichtendienstlicher Tätigkeit nicht entgegen. Sie behauptet, da Nachrichtendienste Informationen sammelten, um diese wie ein „Mosaik“ zu einem aussagekräftigen Gesamtbild zusammenzuführen, könnte die begehrte Auskunft ein entscheidendes Teilstück sein, um sicherheitsrelevante Rückschlüsse auf die Tätigkeit des BfV im Ausland ziehen zu können.

Diese abstrakte Überlegung vermag die Gefahr einer Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit des BfV im Falle der Beantwortung der parlamentarischen Anfrage nicht zu begründen. Zwar ist der Antragsgegnerin zuzugestehen, dass sich aus der Kombination von – für sich genommen wenig aussagekräftigen – Informationen neue Erkenntnisse ergeben können. Dies entbindet sie aber nicht von der konkreten Darlegung, dass es sich bei der jeweiligen Tatsache gerade um einen solchen „Mosaikstein“ handeln könnte, der geeignet wäre, ein Gesamtbild entstehen zu lassen und damit den angestrebten Erkenntnisgewinn zu erreichen. Ohne spezifischere Darlegungen könnte mit dieser „Mosaikstein“-Argumentation jede Auskunft verweigert werden, da naturgemäß jede Auskunft einen Inhalt hat, der abstrakt einen „Mosaikstein“ in irgendeinem Zusammenhang darstellen könnte.

Vor diesem Hintergrund ergibt sich aus den Darlegungen der Antragsgegnerin nicht, dass die behaupteten Geheimhaltungsinteressen den parlamentarischen Informationsanspruch in einem Maße überwiegen, dass von einer Beantwortung der parlamentarischen Anfrage – gegebenenfalls in eingestufter Form – abgesehen werden durfte.

Die Übernahme der von der Antragsgegnerin vertretenen „Mosaiktheorie“ hätte ein nahezu völliges Leerlaufen des parlamentarischen Fragerechts der Abgeordneten des Deutschen Bundestages im Sinne einer Bereichsausnahme für die Tätigkeit der Nachrichtendienste zur Folge.

Eine solche Bereichsausnahme widerspricht dem Gebot, bei einer Kollision des verfassungsrechtlich verankerten Geheimhaltungsinteresses mit dem parlamentarischen Auskunftsanspruch einen Ausgleich im Wege der praktischen Konkordanz herbeizuführen.

Selbst wenn zu unterstellen wäre, dass die – gegebenenfalls eingestufte – Mitteilung der Gesamtzahl der in den Jahren 2015 bis 2019 jeweils im Ausland tätigen Bediensteten Auswirkungen auf die Handlungsfähigkeit des BfV haben könnte, wäre dies allenfalls in einem derart marginalen Umfang der Fall, dass ein vollständiges Zurücktreten des parlamentarischen Auskunftsrechts nicht gerechtfertigt ist.

Es kann auch nicht darauf verwiesen werden, dass das Fragerecht des einzelnen Abgeordneten hinter sonstigen Möglichkeiten parlamentarischer Kontrolle der Nachrichtendienste zurückzutreten habe.

Der Senat hat in seiner Rechtsprechung ausdrücklich klargestellt, dass das Parlamentarische Kontrollgremium lediglich ein zusätzliches Instrument parlamentarischer Kontrolle ist, das sonstige parlamentarische Informationsrechte nicht verdrängt. Daran ist festzuhalten. Das parlamentarische Kontrollgremium vermag aufgrund seiner Aufgabenstellung, seiner eingeschränkten Möglichkeiten der Beweiserhebung und deren Bindung an – teilweise qualifizierte – Mehrheitserfordernisse lediglich eine partielle Kontrolle der Tätigkeit der Verfassungsschutzbehörden zu leisten.

Ebenso geht die Auffassung fehl, allein die Erweiterung des Kreises der Geheimnisträger stehe der Beantwortung der parlamentarischen Anfrage des Antragstellers selbst in eingestufter Form entgegen.

Das Staatswohl ist im parlamentarischen Regierungssystem des Grundgesetzes nicht allein der Bundesregierung, sondern dem Bundestag und der Bundesregierung gemeinsam anvertraut. Mithin kann bei geheimhaltungsbedürftigen Informationen die Berufung auf das Staatswohl gerade gegenüber dem Deutschen Bundestag in aller Regel dann nicht in Betracht kommen, wenn beiderseits wirksame Vorkehrungen gegen das Bekanntwerden von Dienstgeheimnissen getroffen wurden.

Die Antragsgegnerin trägt insoweit nicht vor, dass der Deutsche Bundestag keine wirksamen Vorkehrungen gegen das Bekanntwerden der erfragten Auskunft im Falle eingestufter Übermittlung getroffen habe. Stattdessen verweist sie schlicht auf die Erweiterung des Kreises der Zugangsberechtigten bei einer Beantwortung der parlamentarischen Anfrage auch in eingestufter Form. Dem Gebot des bestmöglichen Ausgleichs zwischen staatlichem Geheimhaltungsinteresse und parlamentarischen Auskunftsansprüchen würde dadurch nicht Rechnung getragen. Vielmehr ergäbe sich auf dieser Grundlage ebenfalls eine unzulässige Bereichsausnahme für das parlamentarische Fragerecht in Angelegenheiten der Nachrichtendienste.

Die Verweigerung der Beantwortung der parlamentarischen Anfrage hinsichtlich der Zahl der Auslandsbediensteten des BfV genügt zudem den verfassungsrechtlichen Begründungsanforderungen nicht.

Die Begründung der Antragsgegnerin beschränkt sich letztlich auf die bloße Behauptung, die Mitteilung der Gesamtzahl der im angefragten Zeitraum im Ausland tätigen Bediensteten des BfV begünstige die Entwicklung von Abwehrstrategien ausländischer Dienste und gefährde dadurch den Einsatzerfolg. Warum dies der Fall sein soll, wird nicht näher erläutert. Auch eine Auseinandersetzung mit dem Umstand, dass es sich bei der Auslandstätigkeit des BfV dem Grunde nach um eine offenkundige Tatsache handeln dürfte, erfolgt nicht. Konkrete Umstände, die die Behauptung einer Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit des BfV bei Beantwortung der Anfrage nachvollziehbar erscheinen lassen, werden nicht vorgetragen. Die Begründung versetzt den Antragsteller daher nicht in die Lage, die Plausibilität der Antwortverweigerung eigenständig zu beurteilen.