Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 19. Oktober 2022 zum Aktenzeichen 1 BvL 3/21 entschieden, dass § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG) mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) unvereinbar ist.
Aus der Pressemitteilung des BVerfG Nr. 96/2022 vom 24. November 2022 ergibt sich:
Die Entscheidung betrifft alleinstehende Erwachsene, die in sogenannten Sammelunterkünften wohnen und sich seit mindestens 18 Monaten rechtmäßig in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten. Ihnen hat der Gesetzgeber ab dem 1. September 2019 einen um 10 % geringeren Bedarf an existenzsichernden Leistungen zugeschrieben, indem nicht mehr die Regelbedarfsstufe 1, sondern die in § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG neu geschaffene „Sonderbedarfsstufe“ der Regelbedarfsstufe 2 zugrunde gelegt wird. Dies ist mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums unvereinbar.
Es ist nicht erkennbar, dass in den Sammelunterkünften regelmäßig tatsächlich Einsparungen durch gemeinsames Wirtschaften erzielt werden oder werden können, die eine Absenkung der Leistungen um 10 % tragen würden. Daneben kann der Gesetzgeber zwar im Sinne des Nachrangs staatlicher Leistungen grundsätzlich auch eine von den Bedürftigen nicht genutzte, ihnen aber an sich tatsächlich eröffnete und zumutbare Möglichkeit von Einsparungen berücksichtigen. Doch fehlt es an hinreichend tragfähigen Anhaltspunkten für die Annahme, dass die Voraussetzungen dafür in den Sammelunterkünften tatsächlich gegeben sind.
Sachverhalt:
Der 1982 geborene Kläger des Ausgangsverfahrens ist srilankischer Staatsangehöriger. Er reiste 2014 in die Bundesrepublik Deutschland ein und erhielt seit Juli 2015 Leistungen nach § 2 AsylbLG nach der Regelbedarfsstufe 1. Nach Ablehnung seines Asylantrags im Jahr 2017 war er von November 2019 bis Februar 2020 in einer Sammelunterkunft untergebracht, im Besitz einer Duldung und vollziehbar ausreisepflichtig. Er teilte sich mit einer Person einen Schlafraum und mit weiteren Personen Küche und Bad. Zwischen ihnen bestand kein Verwandtschaftsverhältnis. Seine Mitbewohner erhielten teils existenzsichernde Leistungen in unterschiedlicher Höhe oder waren erwerbstätig und deshalb nicht im Leistungsbezug.
Die im Ausgangsverfahren beklagte Stadt bewilligte dem Kläger ab November 2019 Leistungen nach § 2 AsylbLG in Höhe der Regelbedarfsstufe 2, abzüglich Strom- und Energiekosten und abzüglich einer Pauschale für Innenausstattung und Geräte. Der dagegen eingelegte Widerspruch hatte keinen Erfolg. Die Klage zum Sozialgericht zielt auf höhere Leistungen nach Maßgabe der Regelbedarfsstufe 1. Dieses Verfahren hat das Sozialgericht am 13. April 2021 ausgesetzt und dem Bundesverfassungsgericht die Frage vorgelegt, ob § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG verfassungsgemäß ist, soweit von der Norm alleinstehende erwachsene Leistungsberechtigte erfasst sind.
Wesentliche Erwägungen des Senats:
Die Regelung des § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG genügt den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht. Die Anwendung der niedrigeren Regelbedarfsstufe 2 auf alleinstehende Erwachsene in Sammelunterkünften verletzt das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG.
Wenn Menschen die zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins notwendigen materiellen Mittel fehlen, weil sie weder aus Erwerbstätigkeit noch aus eigenem Vermögen oder durch Zuwendungen Dritter zu erlangen sind, ist der Staat im Rahmen seines Auftrages zum Schutz der Menschenwürde und in Ausfüllung seines sozialstaatlichen Gestaltungsauftrages verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass existenzsichernde Mittel zur Verfügung stehen. Dieser objektiven Verpflichtung aus Art. 1 Abs. 1 GG korrespondiert ein Leistungsanspruch der Bedürftigen, da das Grundrecht die Würde jedes individuellen Menschen schützt und die menschenwürdige Existenz in solchen Notlagen nur durch materielle Unterstützung gesichert werden kann.
Verfassungsrechtlich ist entscheidend, dass Sozialleistungen fortlaufend realitätsgerecht bemessen werden und damit tatsächlich für eine menschenwürdige Existenz Sorge getragen wird. Der Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums erstreckt sich dabei nur auf diejenigen Mittel, die zur Aufrechterhaltung eines menschenwürdigen Daseins unbedingt erforderlich sind. Der existenznotwendige Bedarf muss stets gedeckt sein.
Der Gesetzgeber verfügt bei den Regelungen zur Sicherung des menschenwürdigen Existenzminimums über einen Gestaltungsspielraum hinsichtlich der Art und Höhe der Leistungen. Er muss seine Entscheidung an den konkreten Bedarfen der Hilfebedürftigen ausrichten.
Diesem Gestaltungsspielraum entspricht eine zurückhaltende Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht. Es hat nicht die Aufgabe zu entscheiden, wie hoch ein Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums sein muss; es ist zudem nicht seine Aufgabe zu prüfen, ob der Gesetzgeber die gerechteste, zweckmäßigste und vernünftigste Lösung zur Erfüllung seiner Aufgaben gewählt hat.
Die materielle Kontrolle der Höhe von Sozialleistungen zur Sicherung einer menschenwürdigen Existenz ist zunächst darauf beschränkt, ob die Leistungen evident unzureichend sind. Das ist nur der Fall, wenn offensichtlich ist, dass sie in der Gesamtsumme keinesfalls sicherstellen können, Hilfebedürftigen in Deutschland ein Leben zu ermöglichen, das physisch, sozial und kulturell als menschenwürdig anzusehen ist. Dann ist zu prüfen, ob die Leistungen nachvollziehbar und sachlich differenziert insgesamt tragfähig begründbar sind. Sie müssen jeweils aktuell auf der Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren im Ergebnis zu rechtfertigen sein, um mit Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG in Einklang zu stehen.
Dabei verwehrt das Grundgesetz dem Gesetzgeber nicht, die Inanspruchnahme sozialer Leistungen zur Sicherung der menschenwürdigen Existenz an den Nachranggrundsatz zu binden, also nur dann zur Verfügung zu stellen, wenn Menschen ihre Existenz nicht vorrangig selbst sichern können. Der Gesetzgeber darf hier den Gedanken der Subsidiarität verfolgen, wonach vorhandene Möglichkeiten der Eigenversorgung Vorrang vor staatlicher Fürsorge haben. Das Grundgesetz steht daher auch einer Entscheidung des Gesetzgebers nicht entgegen, von denjenigen, die staatliche Leistungen der sozialen Sicherung in Anspruch nehmen, zu verlangen, an der Überwindung ihrer Hilfebedürftigkeit selbst aktiv mitzuwirken oder die Bedürftigkeit gar nicht erst eintreten zu lassen.
Die Regelung des § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG genügt diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht, soweit alleinstehenden erwachsenen Leistungsberechtigten in Sammelunterkünften niedrigere Leistungen zuerkannt werden.
Die in § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG vorgenommene Bemessung von Leistungen zur Sicherung einer menschenwürdigen Existenz in Höhe der Regelbedarfsstufe 2 ist derzeit nicht tragfähig begründbar.
Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass Alleinstehende in den Sammelunterkünften, weil sie typischerweise gemeinsam mit anderen dort Wohnenden wirtschaften und dadurch für den Regelbedarf relevante Einsparungen erzielen würden, tatsächlich im Regelfall einen geringeren Bedarf haben als Alleinstehende in einer eigenen Wohnung. Tragfähige Erkenntnisse dazu liegen nicht vor. Der Gesetzgeber hat dazu keine Erhebungen angestellt oder entsprechende Erkenntnisse in dieses Verfahren eingebracht. Die Erwägung, beim notwendigen Bedarf an Nahrung könne eingespart werden, etwa indem Lebensmittel oder zumindest der Küchengrundbedarf in größeren Mengen gemeinsam eingekauft und in den Gemeinschaftsküchen gemeinsam genutzt werde, wird nicht auf Tatsachen gestützt. Vielmehr wird nur eine Erwartung formuliert, ohne zu belegen, dass sie tatsächlich erfüllt wird. Auch die pauschale Annahme, dass in Sammelunterkünften so wie in Paarhaushalten gemeinsam „aus einem Topf“ gewirtschaftet wird, trägt ohne tatsächliche Grundlagen nicht.
Zwar kann der Gesetzgeber den Bezug existenzsichernder Leistungen auch grundsätzlich an die Erfüllung der Obliegenheit knüpfen, tatsächlich eröffnete, hierfür geeignete, erforderliche und zumutbare Möglichkeiten zu ergreifen, die Bedürftigkeit unmittelbar zu vermeiden oder zu vermindern. Doch muss dies auch tatsächlich möglich und zumutbar sein. Das ist nur der Fall, wenn hinreichend gesichert ist, dass in den Sammelunterkünften auch tatsächlich die Voraussetzungen dafür vorliegen, diese Obliegenheit erfüllen und so Einsparungen in entsprechender Höhe erzielen zu können. Dafür haben sich in diesem Verfahren keine Anhaltspunkte ergeben.
Die § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG zugrundeliegende Obliegenheit, durch gemeinsames Wirtschaften in einer Sammelunterkunft den Bedarf an existenzsichernden Leistungen des Staates zu senken, dient dem legitimen Ziel, den Nachranggrundsatz zu verwirklichen und Leistungen auf die Fälle wirklicher Bedürftigkeit der in Deutschland lebenden Menschen zu begrenzen. Sie ist zur Erreichung dieses Ziels auch noch als geeignet und erforderlich anzusehen.
Doch ist die auf der Obliegenheit beruhende pauschale Absenkung der Leistungen um 10 % durch Vorgabe der Regelbedarfsstufe 2 nicht verhältnismäßig im engeren Sinne. Der existenznotwendige Bedarf der Betroffenen ist damit derzeit nicht gedeckt. Die Leistungsabsenkung verhindert vielmehr die nach Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG gebotene Sicherung des Existenzminimums, wenn der Bedarf an existenzsichernden Leistungen nicht tatsächlich entsprechend verringert ist oder nachweisbar tatsächlich entsprechend verringert werden kann. Die Regelung bewirkt dann eine verfassungswidrige Unterdeckung.
Eine solche Unterdeckung liegt nicht vor, wenn der Bedarf tatsächlich gedeckt ist. Deshalb ist den Behörden gesetzlich vorgegeben, in solchen Einzelfällen einen geringeren Regelsatz festzusetzen. Der Gesetzgeber folgt damit dem Nachranggrundsatz.
Die Unterdeckung träte auch nicht ein, wenn von alleinstehenden Erwachsenen in Sammelunterkünften realistisch erwartet werden könnte, ihre Bedürftigkeit in einem Umfang von 10 % des Regelsatzes der Regelbedarfsstufe 1 zu vermindern. Das ist aber nicht der Fall. Die pauschale Absenkung stützt sich nicht auf hinreichend tragfähige Erkenntnisse dazu, dass Bedarfe durch Verhalten der Betroffenen in diesem Umfang tatsächlich verringert werden können. Hier genügt die Annahme, die Betroffenen bildeten eine „Schicksalsgemeinschaft“, nicht. Auch ist die Annahme, eine Obliegenheit, gemeinsam zu wirtschaften, könne tatsächlich erfüllt und dadurch Einsparungen in entsprechender Höhe erzielt werden, nicht durch empirische Erkenntnisse belegt. Entsprechende Untersuchungen liegen auch drei Jahre nach Inkrafttreten der Regelung nicht vor.
Das gleicht auch die Regelung in § 27a Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 SGB XII nicht aus, wonach der Regelsatz im Einzelfall höher festgesetzt wird. Auch dann müsste – anders als hier – durch hinreichend tragfähige Anhaltspunkte belegt sein, dass im Regelfall die Voraussetzungen für den niedrigeren Regelsatz aufgrund von Einsparungen durch gemeinsames Wirtschaften in den Sammelunterkünften vorlägen.
Die Regelung zur Sonderbedarfsstufe lässt sich auch nicht damit begründen, dass bei einem Leben in Sammelunterkünften bestimmte Bedarfe zu kürzen seien. Auch ist derzeit nicht sichergestellt, dass es durch eine Kombination der abgesenkten Regelbedarfsstufe 2 und einer Kürzung des Regelsatzes im Einzelfall gemäß § 27a Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 SGB XII nicht zu einem doppelten Abzug aus demselben Grund kommt.
Die Verfassungswidrigkeit führt ausnahmsweise nicht zur Nichtigkeit von § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG. Es ist die fortdauernde Anwendung der Norm anzuordnen, da das grundrechtlich garantierte Existenzminimum sonst nicht gesichert ist. Für die im Zeitpunkt der Bekanntgabe dieser Entscheidung nicht bestandskräftigen Leistungsbescheide sind die Leistungen ab dem 1. September 2019, dem Tag des Inkrafttretens der hier beanstandeten Regelung, nach Maßgabe der Regelbedarfsstufe 1 zu berechnen. Die bereits bestandskräftigen Leistungsbescheide bleiben unberührt, soweit Leistungszeiträume vor Bekanntgabe dieser Entscheidung betroffen sind.