Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 05. September 2022 zum Aktenzeichen 1 BvR 65/22 entschieden, dass eine Sorgerechtsentscheidung wegen Nichtberücksichtigung erheblicher kindeswohlgefährdender Umstände verfassungswidrig ist.
Die Beschwerdeführerin ist Verfahrensbeiständin eines im April 2019 geborenen Kindes. Dessen Eltern sind nicht miteinander verheiratet, haben aber eine gemeinsame Sorgeerklärung für das Kind abgegeben. Beide Eltern waren langjährige Betäubungsmittelkonsumenten. Zwischen den Eltern kam es sowohl in der Vergangenheit als auch aktuell immer wieder zu Trennungen und Versöhnungen. Die Mutter ist seit 2010 in psychiatrischer Behandlung und hat eine gesetzliche Betreuerin. Ihre beiden Töchter aus einer früheren Beziehung leben seit 2016 in einer Pflegefamilie.
Nach der Geburt des hier betroffenen Kindes verschlechterte sich der psychische Zustand der Mutter und es kam zu mehreren teilweise mit Gewalt ausgetragenen Konflikten zwischen den Eltern, gefolgt von gegenseitigen Anschuldigungen bis hin zu einer Strafanzeige der Mutter gegen den Vater. Das daraufhin eingeleitete strafrechtliche Ermittlungsverfahren wurde eingestellt.
Anfang 2020 befand sich die Mutter mit dem Kind in stationärer Behandlung in einer psychiatrischen Fachklinik. Es wurde unter anderem eine drogeninduzierte Psychose festgestellt. Der Vater war zu der Zeit arbeits- und wohnungslos. Nach Abbruch der Therapie wurde das Kind in Obhut genommen.
In einem einstweiligen Anordnungsverfahren entzog das Familiengericht den Eltern mit Beschluss vom 24. Juni 2020 vorläufig die elterliche Sorge in den Teilbereichen Aufenthaltsbestimmung, Regelung ärztlicher Versorgung und Recht zur Beantragung von Jugendhilfemaßnahmen. Die dagegen gerichtete Beschwerde der Eltern wies das Oberlandesgericht im Oktober 2020 zurück. Es begründete dies mit dem Verhalten der Eltern, insbesondere ihren Betäubungsmittelrückfällen und den mit körperlicher Gewalt ausgetragenen Partnerschaftskonflikten, den Berichten der psychiatrischen Fachklinik, wonach der Vater einen ungünstigen Einfluss auf die Mutter ausübe, und den dominant konflikt- und gewaltbereiten Äußerungen des Vaters im Verfahren.
Das Familiengericht holte im Hauptsacheverfahren zum Sorgerecht ein Gutachten einer Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie/-psychotherapie unter anderem zu der Frage der Erziehungsfähigkeit beider Elternteile sowie zu einer möglichen Kindeswohlgefährdung im elterlichen Haushalt ein. In ihrem am 8. März 2021 schriftlich erstatteten Gutachten bewertete die Sachverständige einen Wechsel des Kindes in den Haushalt der Eltern als kindeswohlgefährdend. In der Vergangenheit hätten die Eltern die kindeswohldienlichen Bedürfnisse durch ihren Drogenkonsum und die gewaltsamen Partnerschaftskonflikte stark verletzt, weshalb das Kind keine sicheren Bindungen zu den Eltern habe entwickeln können. Derzeit könne sich das Kind nicht an den Eltern als Bindungspersonen orientieren, so dass diese aktuell keine Sicherheitsbasis für das Kind darstellen könnten. Eine adäquate Erziehungsfähigkeit der Mutter sei wegen ihrer psychischen Instabilität nicht vorhanden, ambulante oder stationäre Hilfen seien nicht ausreichend, weshalb eine Gefahr für das Kindeswohl weiterhin nur durch eine Fremdplatzierung abzuwenden sei. Die Erziehungsfähigkeit des Vaters müsse noch weiter überprüft werden, er sei zwar aktuell drogenfrei und psychisch stabiler, jedoch sei fraglich, ob er insgesamt die personellen und instrumentellen Rahmenbedingungen für eine Verantwortungsübernahme für das Kind im Alltag gewährleisten könne. In Bezug auf den Vater sei eventuell ein behutsamer Wechsel des Kindes möglich, und zwar mit intensiver Vorbereitung und Begleitung durch eine stationäre Einrichtung. Zu beachten sei, dass das Kind mittlerweile stabile Bindungsanteile zu den Pflegeeltern entwickelt habe, weshalb bei einer Rückführung das Risiko einer Traumatisierung bestünde.
Mit Beschluss vom 2. August 2021 entzog das Familiengericht den Eltern im Hauptsacheverfahren wegen Kindeswohlgefährdung gemäß § 1666 BGB das Recht zur Aufenthaltsbestimmung, zur Regelung der ärztlichen Versorgung, und der schulischen Angelegenheiten beziehungsweise des Kindergartens und bestellte das Jugendamt insoweit als Ergänzungspfleger. Der Sachverhalt, auf dessen Grundlage die Entscheidungen im Eilverfahren getroffen worden seien, habe sich nicht geändert, eine Kindeswohlgefährdung im Haushalt der Eltern bestehe noch immer.
Gegen diese Entscheidung legten die Eltern, die seit 2020 zunächst wieder in einem Haushalt lebten, unabhängig voneinander Beschwerde ein. In der mündlichen Verhandlung vor dem Oberlandesgericht sprachen sich das Jugendamt, der Ergänzungspfleger und die Beschwerdeführerin als Verfahrensbeiständin für einen Verbleib des Kindes in der Pflegefamilie aus. Die dort gehörte, bereits vom Familiengericht beauftragte Sachverständige gab ausdrücklich keine Empfehlung ab. Die Mutter nahm ihr Rechtsmittel zurück und beantragte nur noch die Rückübertragung des Sorgerechts auf den Vater.
Mit angegriffenem Beschluss vom 6. Dezember 2021 änderte das Oberlandesgericht die amtsgerichtliche Entscheidung ab und übertrug das alleinige Recht zur Aufenthaltsbestimmung und zur Regelung der ärztlichen Versorgung sowie der schulischen Angelegenheiten beziehungsweise des Kindergartens auf den Vater bei bestehender gemeinsamer Sorge der Eltern in den anderen Teilbereichen. Zugleich gab es den Eltern die Durchführung einer medizinischen Reha-Maßnahme mit Unterstützung bei der Ausweitung der Umgangskontakte mit dem Kind auf. Darüber hinaus verpflichtete das Oberlandesgericht den Vater zur Teilnahme an einem Impulskontrolltraining und ordnete den Verbleib des Kindes „bis auf Weiteres“ im Haushalt der Pflegeeltern, „längstens bis zum 11. April 2022“ an. Aufgrund der Drogenabstinenz des Vaters und der Bearbeitung des Paarkonflikts gebe es keine Rechtfertigung mehr für den Eingriff in dessen Sorgerecht durch die Fremdunterbringung. Einer Entscheidung in Bezug auf die Mutter bedürfe es wegen der Zurücknahme ihrer Beschwerde nicht. Im Rahmen der Abwägung zwischen dem Elternrecht und dem Kindeswohl bei Rückführungsentscheidungen nach § 1632 Abs. 4 BGB seien größere Unsicherheiten über mögliche Beeinträchtigungen des Kindes hinnehmbar.
Der Beschluss des Oberlandesgerichts, wesentliche Teile des Sorgerechts, insbesondere das Aufenthaltsbestimmungsrecht, auf den Vater zu übertragen, und das betroffene Kind an diesen spätestens ab dem 12. April 2022 aus dem Haushalt der Pflegeeltern herauszugeben, verletzt das Kind in seinem Recht aus Art. 2 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG.
Kinder haben nach Art. 2 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG einen Anspruch auf den Schutz des Staates, wenn die Eltern ihrer Pflege- und Erziehungsverantwortung (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG) nicht gerecht werden oder wenn sie ihrem Kind den erforderlichen Schutz und die notwendige Hilfe aus anderen Gründen nicht bieten können. Das Kind, dem die Grundrechte, insbesondere das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) und das Recht auf Leben und auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) als eigene Rechte zukommen, steht unter dem besonderen Schutz des Staates (vgl. BVerfGE 24, 119 <144>; 55, 171 <179>; 57, 361 <382>; 133, 59 <73 Rn. 42>). Kinder bedürfen des Schutzes und der Hilfe, um sich zu eigenverantwortlichen Persönlichkeiten innerhalb der sozialen Gemeinschaft entwickeln und gesund aufwachsen zu können (vgl. BVerfGE 107, 104 <117>; 121, 69 <92 f.>; 133, 59 <73 Rn. 42>; BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 19. November 2021 – 1 BvR 971/21 u.a. -, Rn. 45). Diese Schutzverantwortung für das Kind teilt das Grundgesetz zwischen Eltern und Staat auf. In erster Linie ist sie den Eltern zugewiesen; nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG sind Pflege und Erziehung die zuvörderst den Eltern obliegende Pflicht. Dem Staat verbleibt jedoch eine Kontroll- und Sicherungsverantwortung dafür, dass sich ein Kind in der Obhut seiner Eltern tatsächlich zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit entwickeln und gesund aufwachsen kann (vgl. BVerfGE 133, 59 <73 f. Rn. 42>).
Werden Eltern der ihnen durch die Verfassung zugewiesenen Verantwortung nicht gerecht, weil sie nicht bereit oder in der Lage sind, ihre Erziehungsaufgabe wahrzunehmen oder können sie ihrem Kind den erforderlichen Schutz und die notwendige Hilfe aus anderen Gründen nicht bieten, kommt das „Wächteramt des Staates“ nach Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG zum Tragen. Ist das Kindeswohl gefährdet, ist der Staat nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet, die Pflege und Erziehung des Kindes sicherzustellen; das Kind hat insoweit einen grundrechtlichen Anspruch auf den Schutz des Staates (vgl. BVerfGE 24, 119 <144>; 60, 79 <88>; 72, 122 <134>; 107, 104 <117>).
Diese Schutzpflicht gebietet dem Staat im äußersten Fall, das Kind von seinen Eltern zu trennen oder eine bereits erfolgte Trennung aufrechtzuerhalten. Ob der Staat zum Schutz des Kindes tätig werden muss und darf und welche Schutzmaßnahmen zu ergreifen sind, bestimmt sich nach Art und Ausmaß der Gefahr für das Kind. Nicht jedes Versagen oder jede Nachlässigkeit verpflichtet und berechtigt den Staat, die Eltern von der Pflege und Erziehung auszuschalten oder gar selbst diese Aufgabe zu übernehmen; vielmehr ist stets dem grundsätzlichen Vorrang der Eltern vor dem Staat Rechnung zu tragen. Die Eltern haben ein Recht auf Pflege und Erziehung ihrer Kinder (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG), die Kinder haben ein gegen den Staat gerichtetes Recht auf elterliche Pflege und Erziehung (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG), beide sind gemäß Art. 6 Abs. 3 GG besonders dagegen geschützt, voneinander getrennt zu werden (vgl. BVerfGE 136, 382 <391 Rn. 29>). Der Staat darf und muss daher zunächst versuchen, durch helfende, unterstützende, auf Herstellung oder Wiederherstellung eines verantwortungsgerechten Verhaltens der Eltern gerichtete Maßnahmen sein Ziel zu erreichen. Darauf ist er jedoch nicht beschränkt, sondern er darf und muss, wenn solche Maßnahmen nicht genügen, den Eltern die Erziehungs- und Pflegerechte vorübergehend, gegebenenfalls sogar dauernd entziehen (vgl. BVerfGE 24, 119 <144 f.>; stRspr).
Der Staat kann verfassungsrechtlich berechtigt (Art. 6 Abs. 3 GG) und verpflichtet (Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG) sein, zur Wahrung des Kindeswohls die räumliche Trennung des Kindes von den Eltern zu veranlassen oder aufrechtzuerhalten. Das ist dann der Fall, wenn das Kind bei einem Verbleib in der Familie oder bei einer Rückkehr dorthin in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet ist (vgl. BVerfGE 60, 79 <91>; 72, 122 <140>; 136, 382 <391 Rn. 28>; stRspr). Die Annahme einer nachhaltigen Gefährdung des Kindes setzt voraus, dass bereits ein Schaden des Kindes eingetreten ist oder sich eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 19. November 2014 – 1 BvR 1178/14 -, Rn. 23; stRspr).
Ob die Trennung des Kindes verfassungsrechtlich zulässig und zum Schutz der Grundrechte des Kindes verfassungsrechtlich geboten ist, hängt danach regelmäßig von einer Gefahrenprognose ab. Dem muss die Ausgestaltung des gerichtlichen Verfahrens Rechnung tragen. Das gerichtliche Verfahren muss geeignet und angemessen sein, eine möglichst zuverlässige Grundlage für die vom Gericht anzustellende Prognose über die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts zu erlangen. Ob etwa Psychologen als Sachverständige hinzuzuziehen sind, um die für die Prognose notwendigen Erkenntnisse zu erlangen, muss das erkennende Gericht im Lichte seiner grundrechtlichen Schutzpflicht nach den Umständen des Einzelfalls beurteilen (vgl. BVerfGE 55, 171 <182>).
Hält das Gericht eine Trennung des Kindes von den Eltern nicht oder nicht mehr für erforderlich, obwohl Anhaltspunkte dafür bestehen, dass das Kind bei einem Verbleiben in der Familie oder bei einer Rückkehr dorthin in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet ist, hält die Entscheidung verfassungsgerichtlicher Kontrolle am Maßstab des Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG grundsätzlich nur dann stand, wenn das Gericht in Auseinandersetzung mit den für eine nachhaltige Gefahr sprechenden Anhaltspunkten nachvollziehbar begründet, warum eine solche Gefahr für das Wohl des Kindes nicht vorliegt. Einer näheren Begründung bedarf es regelmäßig insbesondere dann, wenn das Gericht der Einschätzung der Sachverständigen oder der beteiligten Fachkräfte (insbesondere Verfahrensbeistand, Jugendamt, Familienhilfe, Vormund) nicht folgt, es liege eine die Trennung von Kind und Eltern gebietende Kindeswohlgefährdung vor. Zwar schließt die Verfassung nicht aus, dass das Fachgericht im Einzelfall von den Feststellungen und Wertungen dieser fachkundigen Personen abweicht. Insbesondere ist nicht ausgeschlossen, dass das Gericht zu einer abweichenden Einschätzung und Bewertung von Art und Ausmaß einer Kindeswohlgefährdung gelangt. Es muss dann aber eine anderweitige verlässliche Grundlage für eine am Kindeswohl ausgerichtete Entscheidung haben und diese offenlegen. Das Abweichen von den gegenläufigen Einschätzungen der fachkundigen Personen bedarf eingehender Begründung (vgl. BVerfG, Beschlüsse der 1. Kammer des Ersten Senats vom 12. Februar 2021 – 1 BvR 1780/20 -, Rn. 29 und vom 14. April 2021 – 1 BvR 1839/20 -, Rn. 20 jeweils m.w.N.).
Stellt sich die Frage der Trennung des Kindes von seinen Eltern oder des Aufrechterhaltens einer Trennung zur Abwendung einer nachhaltigen Kindeswohlgefährdung, besteht wegen des sachlichen Gewichts der teils parallelen, teils gegenläufigen Grundrechte der Beteiligten Anlass, über den grundsätzlichen Prüfungsumfang hinauszugehen, zumal die Entscheidung über eine Trennung für alle Beteiligten von existenzieller Bedeutung sein kann (vgl. BVerfGE 60, 79 <90 f.>; 136, 382 <391 Rn. 28>; stRspr). Dies gilt auch, wenn das Bundesverfassungsgericht zu überprüfen hat, ob die Ablehnung einer Trennung des Kindes von seinen Eltern mit der Pflicht des Staates zum Schutz des Kindes vereinbar ist. Bei dieser Sachlage können neben der Frage, ob die angefochtene Entscheidung Fehler erkennen lässt, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung des Grundrechts, insbesondere vom Umfang seines Schutzbereichs beruhen, auch einzelne Auslegungsfehler nicht außer Betracht bleiben (vgl. BVerfGE 42, 163 <169>; 79, 51 <63>; stRspr). Die verfassungsgerichtliche Kontrolle erstreckt sich ausnahmsweise auch auf deutliche Fehler bei der Feststellung und Würdigung des Sachverhalts (vgl. BVerfGE 136, 382 <391 Rn. 28>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 3. Februar 2017 – 1 BvR 2569/16 -, Rn. 52; stRspr).
Diesen strengen Anforderungen wird die angegriffene Entscheidung nicht gerecht. Das Oberlandesgericht hat dem Anspruch des betroffenen Kindes auf Schutz des Staates aus Art. 2 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG nicht hinreichend Rechnung getragen. Es hat im angegriffenen Beschluss vom 6. Dezember 2021 nicht in der hier gebotenen Weise dargelegt, sich eine ausreichend zuverlässige Grundlage für die Prognose über die dem Kind drohenden Beeinträchtigungen verschafft zu haben (aa). Zudem berücksichtigt das Oberlandesgericht erhebliche Umstände, die für eine Gefährdung des Kindeswohls bei der Betreuung durch den Vater sprechen, in seiner Abwägung nicht (bb).
Das Oberlandesgericht hat seine Entscheidung über die Rückführung abweichend von den Empfehlungen des Jugendamts und der Verfahrensbeiständin sowie des Ergänzungspflegers getroffen, ohne seine eigene Sachkunde oder abweichende Erkenntnisgrundlagen in der gebotenen Weise darzulegen.
Das Jugendamt und die Verfahrensbeiständin haben sich mehrfach für einen Verbleib des Kindes in der Pflegefamilie ausgesprochen. Die Sachverständige hatte in ihrem schriftlichen Gutachten die Erziehungsfähigkeit des Vaters infolge seines jahrelangen Drogenmissbrauchs und wegen seines aggressiven Verhaltens als (ebenfalls) defizitär bewertet, ihm aber eine günstigere Prognose für eine Stabilisierung gestellt als der Mutter. Zugleich hatte sie darauf verwiesen, dass der Paarkonflikt in der Vergangenheit eine deutliche Belastung für das Kind dargestellt habe. In ihrer Anhörung vor dem Oberlandesgericht hat die Sachverständige ausdrücklich keine Empfehlung abgegeben und mehrfach betont, dass sie mangels Exploration des Vaters nicht sagen könne, ob ein Verbleib bei den Pflegeeltern oder eine Rückführung zu den leiblichen Eltern eher dem Kindeswohl diene. Eine Rückführung des Kindes könnte lediglich in einem geschützten Rahmen erfolgen. Zudem ist von der Sachverständigen in der mündlichen Anhörung ausgeführt worden, dass angesichts der starken Bindungen des ‒ durch die früheren Bindungsabbrüche in erhöhtem Maße verletzlichen ‒ Kindes an die Pflegeeltern bei dessen Rückführung ein Bindungstrauma drohe, dessen Grad oder Ausprägung sich allerdings aktuell nicht prognostizieren lasse. Es könne so schwerwiegend ausfallen, dass es in der Folge nicht mehr aufgefangen werden könne, es könne aber auch weniger ausgeprägt auftreten.
Da ein Teil der fachkundigen Beteiligten weiterhin Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung bei Rückführung des Kindes gesehen und damit die Gefährdungslage für das Kind bei Rückkehr in den zum damaligen Zeitpunkt gemeinsamen Haushalt der Eltern anders als das Oberlandesgericht eingeschätzt hat, und die gerichtlich bestellte Sachverständige sich unter Verweis auf nicht zureichende Anknüpfungstatsachen einer Gefährdungsprognose letztendlich enthalten hat, war es geboten, anderweitige und für das Beschwerdegericht offenbar überzeugende Erkenntnisquellen umfassend darzulegen. Dem wird der angegriffene Beschluss nicht hinreichend gerecht. Für eine vertiefte Begründung bestand hier zudem Anlass, weil das Oberlandesgericht im Rahmen des vorausgegangenen einstweiligen Anordnungsverfahrens noch entsprechend der Empfehlungen des beteiligten Fachpersonals entschieden und den Sorgerechtsentzug bestätigt hat. Auf welcher eigenen und ausreichend zuverlässigen Erkenntnisgrundlage das Oberlandesgericht abweichend von seiner Bewertung im einstweiligen Anordnungsverfahren nunmehr schlussfolgert, dass der Vater erziehungsfähig und dauerhaft erziehungswillig ist, ergibt sich aus dem Beschluss vom 6. Dezember 2021 nicht in der hier gebotenen Weise.
Das Oberlandesgericht verweist zwar auf die von den Eltern seit der vorläufigen Entziehung weiter Teile des Sorgerechts wahrgenommenen Sucht- und Paarberatungsgespräche sowie ihre durch Drogentests belegte aktuelle Drogenabstinenz. Allerdings legt es nicht hinreichend dar, warum es aus diesen auch den fachkundigen Beteiligten, insbesondere dem Jugendamt und dem Ergänzungspfleger, bekannten Umständen zum Zeitpunkt der mündlichen Anhörung andere Schlüsse zu einer im Fall der Rückführung möglicherweise drohenden Kindeswohlgefährdung zieht als diese. Soweit sich das Oberlandesgericht in diesem Zusammenhang auf die Erwägung stützt, eine perspektivische Kindeswohlgefährdung aufgrund eines Bindungstraumas genüge nicht, um eine dauerhafte Trennung des Kindes von seiner Herkunftsfamilie zu rechtfertigen, ändert dies nichts daran, dass es für eine solche rechtliche Wertung einer zuverlässigen tatsächlichen Grundlage bedarf. Diese näher darzulegen, war das Oberlandesgericht wegen der Abweichung von der Annahme der fachkundigen Beteiligten, es drohe eine Kindeswohlgefährdung bei Rückkehr in den zum Entscheidungszeitpunkt gemeinsamen elterlichen Haushalt gehalten.
Der angegriffene Beschluss genügt auch in der Anwendung der herangezogenen §§ 1666, 1666a, 1632 Abs. 4 BGB nicht den aus dem Schutzanspruch des Kindes aus Art. 2 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG folgenden Anforderungen. Insbesondere hat das Oberlandesgericht nicht sämtliche festgestellten prognoserelevanten Umstände in die erforderliche Prognose über eine mit der Rückübertragung insbesondere des Aufenthaltsbestimmungsrechts sowie einem Wechsel des Kindes aus dem Haushalt der Pflegeeltern in den der leiblichen Eltern möglicherweise verbundene Kindeswohlgefährdung einbezogen.
Zwar hat sich das Oberlandesgericht in der verfassungsrechtlich gebotenen Weise damit befasst, dass im Rahmen der Rückführungsentscheidung auch die Tragweite einer Trennung des Kindes von seiner Pflegefamilie unter Berücksichtigung der Intensität entstandener Bindungen einzubeziehen ist (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 22. August 2000 – 1 BvR 2006/98 -, Rn. 13). Dabei hat es die Einschätzung der Sachverständigen zum Risiko einer Traumatisierung des betroffenen Kindes durch mehrfache Bindungsabbrüche berücksichtigt. Verfassungsrechtlich zutreffend hat es zudem zugrunde gelegt, dass bei der nach § 1632 Abs. 4 BGB durchzuführenden Abwägung von Elternrecht und Kindeswohl die Risikogrenze hinsichtlich einer möglichen Beeinträchtigung des Kindes weiter zu ziehen ist, wenn die leiblichen Eltern oder ein Elternteil wieder selbst die Pflege des Kindes übernehmen wollen (vgl. BVerfGE 75, 201 <220>).
Es hat aber nicht in erkennbarer Weise in den Blick genommen, dass ‒ nach Absolvieren der Übergangsphase in einem Therapiedorf ‒ die Rückführung des Kindes in den Haushalt des Vaters im maßgeblichen Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung zugleich auch die Rückführung zu der im selben Haushalt lebenden Mutter bedeutete. Nach der vom Oberlandesgericht nicht in Frage gestellten Einschätzung der Sachverständigen und den eigenen Annahmen des Gerichts im einstweiligen Anordnungsverfahren zum Sorgerecht kann die Mutter wegen ihrer schweren psychischen Erkrankung dauerhaft keine stabile Bezugsperson für das Kind sein und stellt mit ihrem ambivalenten Verhalten eine Kindeswohlgefahr dar. Die Ausführungen des Oberlandesgerichts zu den von beiden Eltern wahrgenommenen Sucht- und Paarberatungsgesprächen lassen nicht erkennen, dass dadurch die von der Mutter drohende Gefährdung des Kindeswohls bei Aufenthalt im selben Haushalt gebannt oder so gemindert wäre, dass es einer Berücksichtigung dieser in der Gefahrprognose nicht bedurft hätte.
Die Erwägung des Oberlandesgerichts, über die Erziehungsfähigkeit und -willigkeit der Mutter sei wegen der Rücknahme ihrer Beschwerde keine Entscheidung mehr zu treffen, gestattete nicht, mögliche von der Mutter ausgehende Gefährdungen des Kindeswohls in der Prognose unberücksichtigt zu lassen. Denn im Entscheidungszeitpunkt des Beschwerdegerichts lebten die Eltern wieder in einem Haushalt, in den auch das Kind nach der Übergangsphase im Therapiedorf zurückkehren sollte. Zudem hatte der Vater bei der Anhörung vor dem Oberlandesgericht selbst angegeben, bei der alltäglichen Betreuung und Versorgung des Kindes auf die Mutter zurückgreifen zu wollen. In die Gefahrprognose ist ‒ anders als noch bei der Beschwerdeentscheidung im einstweiligen Anordnungsverfahren ‒ auch nicht eingeflossen, dass insbesondere der vormals dauerhafte Paarkonflikt zwischen den Eltern eine deutliche Belastung des Kindes darstellte. Zu diesem Ergebnis gelangte auch die Sachverständige in ihrem Gutachten. In ihrer Anhörung vor dem Oberlandesgericht haben die Eltern selbst angegeben, Auslöser für die Betäubungsmittelrückfälle sowie die gewaltsamen Paarkonflikte sei vor allem die Psychose der Mutter gewesen. Den Gründen der angegriffenen Entscheidung lässt sich nicht entnehmen, dass die psychischen Erkrankungen der Mutter überwunden und deshalb keine für die Beurteilung einer Kindeswohlgefährdung im elterlichen Haushalt bedeutsamen Umstände mehr seien. Die Feststellungen des Oberlandesgerichts zur im Entscheidungszeitpunkt bestehenden Drogenabstinenz und zu den Paarberatungsgesprächen der Eltern haben keinen unmittelbaren Bezug zu den psychischen, nicht auf drogeninduzierte Psychosen beschränkten Erkrankungen der Mutter. Da das Oberlandesgericht ungeachtet dessen die Rolle der Mutter bei seinen Ausführungen zur Rückführung des Kindes in den elterlichen Haushalt nicht hinreichend gewürdigt hat, ist es dem verfassungsrechtlichen Erfordernis nicht gerecht geworden, bei für eine nachhaltige Gefahr sprechenden Anhaltspunkten nachvollziehbar zu begründen, warum nach eigener Einschätzung eine solche Gefahr für das Wohl des Kindes nicht vorliegt.
Das Oberlandesgericht hat auch nicht ausreichend begründet, warum mildere Mittel in Gestalt von ambulanten Maßnahmen nach einer Rückführung des Kindes in den Haushalt der Eltern ausreichen sollen, um einer Kindeswohlgefahr dort dauerhaft entgegenzuwirken. Insbesondere hatte das Oberlandesgericht in seinem vorangegangenen Eilbeschluss vom 9. Oktober 2020 noch festgestellt, dass trotz der Ende 2019 installierten täglich sechsstündigen Familienhilfe eine dem Kindeswohl entsprechende Betreuung und Versorgung nicht gewährleistet werden konnte. Der Vater sei ein zusätzlicher Stressfaktor für die psychisch instabile Mutter, es gebe nicht einmal ansatzweise die Bereitschaft zur Kooperation mit dem Jugendamt, und Empfehlungen dringend notwendiger medizinischer beziehungsweise therapeutischer Maßnahmen für das Kind würden nicht befolgt. Ausführungen dazu, welche ambulanten Hilfsangebote nunmehr für ausreichend erachtet werden, lässt der Beschluss vom 6. Dezember 2021 vermissen.
Wegen der Verletzung des Anspruchs des betroffenen Kindes auf Schutz des Staates aus Art. 2 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG ist der Beschluss des Oberlandesgerichts gemäß § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben und die Sache an das Oberlandesgericht zurückzuverweisen.