Der Europäische Gerichtshof hat mit Urteil vom 22.09.2022 zum Aktenzeichen C‑120/21 entschieden, dass der Urlaubsanspruch in bestimmten Fällen nicht verfällt beziehungsweise verjährt. Maßgeblich ist dabei, ob der Arbeitgeber den Arbeitnehmer darauf hingewiesen hat, dass der Urlaub bald verfällt. Für eine Verjährung müsse er den Arbeitnehmer zuvor durch entsprechende Aufforderung tatsächlich in die Lage versetzt haben, seinen Urlaubsanspruch auszuüben.
Langzeiterkrankte
Im Falle einer Langzeiterkrankung verfällt der Urlaubanspruch in Deutschland in der Regel nach 15 Monaten. Das Bundesarbeitsgericht wollte vom Europäischen Gerichtshof wissen, ob dies auch gilt, wenn der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer keine Frist zur Urlaubnahme gesetzt hat.
Der Europäische Gerichtshof teilte dazu mit, dass der Urlaubsanspruch nur dann verfällt, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer rechtzeitig in die Lage versetzt hat, seinen Urlaub zu nehmen.
Nach Art. 7 der Richtlinie 2003/88 und Art. 31 Abs. 2 GRCh könne ein erworbener Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub nach Ablauf des Bezugszeitraums und/oder eines im nationalen Recht festgelegten Übertragungszeitraums nicht erlöschen, wenn der Arbeitnehmer nicht in die Lage versetzt wurde, seinen Urlaub zu nehmen. Hiervon könnten die Mitgliedstaaten nicht abweichen. Es obliege dementsprechend dem Arbeitgeber, den Arbeitnehmer in die Lage zu versetzen, seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub auszuüben.
Verjährung
In einem anderen Fall konnte ein Arbeitnehmer den Urlaub wegen zu viel Arbeit nicht nehmen und verlangte zum Ende des Beschäftigungsverhältnisses die Abgeltung des Urlaubs. Der Arbeitgeber berief sich auf Verjährung.
Darauf teilte der Europäische Gerichtshof mit, dass eine Abgeltung der Urlaubstage wegen Verjährung nur dann ausscheidet, wenn der Arbeitgeber dafür gesorgt hat, dass der Arbeitnehmer seinen Urlaubsanspruch tatsächlich wahrnehmen konnte. Da der Arbeitnehmer die schwächere Partei des Arbeitsvertrags sei, sollte die Aufgabe, für die tatsächliche Wahrnehmung des Anspruchs zu sorgen, nicht vollständig auf diesen verlagert werden. Andernfalls könne sich der Arbeitgeber seiner eigenen Pflichten unter Berufung auf einen fehlenden Antrag des Arbeitnehmers auf bezahlten Urlaub entziehen.
Die mit der Verjährung bezweckte Gewährleistung der Rechtssicherheit dürfe dem Arbeitgeber zudem nicht als Vorwand dienen, unter Berufung auf sein eigenes Versäumnis im Rahmen der Klage des Arbeitnehmers einen Vorteil zu ziehen, indem er die Einrede der Verjährung erhebt. Ließe man zu, dass sich der Arbeitgeber auf die Verjährung der Ansprüche des Arbeitnehmers berufen kann, ohne ihn tatsächlich in die Lage versetzt zu haben, diese Ansprüche wahrzunehmen, würde man im Ergebnis ein Verhalten billigen, das zu einer unrechtmäßigen Bereicherung des Arbeitgebers führt und dem eigentlichen von Art. 31 Abs. 2 GRCh verfolgten Zweck, die Gesundheit des Arbeitnehmers zu schützen, zuwiderläuft. Schließlich habe der Arbeitgeber zwar ein berechtigtes Interesse daran, nicht mit Urlaubsanträgen konfrontiert zu werden, die auf mehr als drei Jahre vor Antragstellung erworbene Ansprüche gestützt werden, sei aber nicht schutzwürdig, wenn er diese Situation selbst verursacht hat, indem er den Arbeitnehmer nicht in die Lage versetzt hat, den Anspruch tatsächlich wahrzunehmen.