Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 30. Mai 2022 zum Aktenzeichen 1 BvR 1012/20 entschieden, dass die Ablehnung von Prozesskostenhilfe in einem sozialgerichtlichen Eilverfahren verfassungswidrig ist.
Die Beschwerdeführerin beantragte für sich und ihre minderjährige Tochter anwaltlich vertreten einstweiligen Rechtsschutz beim Sozialgericht gegen den Sofortvollzug eines Aufhebungs- und Rückforderungsbescheids. Gegenstand waren Leistungen nach §§ 3, 3a Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) im Zeitraum Oktober bis Dezember 2019, welche die Stadt anteilig aufhob und zurückforderte, weil der Beschwerdeführerin ein pauschaler Fahrtkostenzuschuss des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) gemäß § 10 Abs. 1 der Verordnung über die berufsbezogene Deutschsprachförderung (DeuFöV) anlässlich der Teilnahme an einem Berufssprachkurs ausgezahlt worden war. Mit diesem als „Einkommen“ bewerteten Zuschuss sei die Beschwerdeführerin in der Lage, ihre Bedürftigkeit ganz oder teilweise abzuwenden (§ 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch <SGB X> i.V.m. § 9 Abs. 4 Nr. 1 AsylbLG). Die Stadt wies auf die sofortige Vollziehung des Bescheids gemäß § 11 Abs. 4 AsylbLG hin.
Demgegenüber vertrat die Beschwerdeführerin vorgerichtlich und gerichtlich die Auffassung, dass eine Anrechnung des Fahrtkostenzuschusses als Einkommen gemäß § 7 Abs. 2 Nr. 7 AsylbLG gesetzlich ausgeschlossen sei. Zudem sei gesetzlich nicht vorgesehen, pauschalierte Einzelbedarfe aus dem Regelbedarf – hier die in der Abteilung 7 „Verkehr“ vorgesehenen Bedarfe für „fremde Verkehrsdienstleistungen“ in Höhe von 20,77 Euro monatlich – herauszurechnen.
Die Stadt vertrat die Auffassung, es handele sich nicht um die Anrechnung von Einkommen, sondern um eine Kürzung des Regelsatzes. Die Beschwerdeführerin könne ihren Bedarf an Mobilität mit einer Monatskarte des öffentlichen Personennahverkehrs decken.
Das Sozialgericht lehnte den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs mit unanfechtbarem Beschluss vom 30. März 2020 ab. Der Bescheid der Stadt sei rechtmäßig. Der Bedarf der Beschwerdeführerin sei mit der Bewilligung des Fahrtkostenzuschusses und einer Monatskarte gedeckt. Es sei daher auch unerheblich, ob die Angelegenheit dringlich sei. Mangels Aussicht auf Erfolg sei auch der Antrag auf Prozesskostenhilfe abzulehnen.
Die Prüfung der Erfolgsaussicht des beabsichtigten Rechtsschutzverfahrens soll jedoch nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung selbst in das Nebenverfahren der Prozesskostenhilfe vorzuverlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten zu lassen. Das Prozesskostenhilfeverfahren will den Rechtsschutz, den der Rechtsstaatsgrundsatz erfordert, nicht selbst bieten, sondern will ihn zugänglich machen. So sieht § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO die Gewährung von Prozesskostenhilfe bereits dann vor, wenn hinreichende Erfolgsaussichten für den beabsichtigten Rechtsstreit bestehen, ohne dass der Prozesserfolg schon gewiss sein muss (vgl. BVerfGE 81, 347 <357>).
Das Sozialgericht hat die Anforderungen an die Erfolgsaussicht der beabsichtigten Rechtsverfolgung im einstweiligen Rechtsschutzverfahren überspannt. Dadurch hat es den Zweck der Prozesskostenhilfe verfehlt.
Maßgeblich für die Beurteilung der Erfolgsaussichten im Sinne des § 114 ZPO sind die Voraussetzungen für die von der Beschwerdeführerin beantragte Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihres Widerspruchs gegen den Aufhebungsbescheid. Für die Aufhebung von Leistungen nach dem AsylbLG ordnet der Gesetzgeber in § 11 Abs. 4 Nr. 1 AsylbLG an, dass Widerspruch und Anfechtungsklage im Fall der Aufhebung einer Leistungsbewilligung keine aufschiebende Wirkung haben. Dann richtet sich einstweiliger Rechtsschutz nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG in Verbindung mit § 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG. Danach hat der Sofortvollzug der Aufhebungsentscheidung grundsätzlich Vorrang gegenüber dem Interesse der Beschwerdeführerin, den Vollzug auszusetzen. Das gilt aber nicht, wenn der Verwaltungsakt offenbar rechtswidrig ist und Betroffene durch ihn in subjektiven Rechten verletzt werden (vgl. Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl., § 86b Rn. 12c, 12f m.w.N.).
Hier stützt das Sozialgericht seine Entscheidung, einstweiligen Rechtsschutz abzulehnen, auf die Feststellung, der mit Widerspruch angegriffene Bescheid sei rechtmäßig. Es stellt darauf ab, der Bedarf der Beschwerdeführerin sei gedeckt, weil das Bundesamt einen Fahrtkostenzuschuss bewilligt habe. Rechtsgrundlagen für die Aufhebung nennt das Sozialgericht nicht. Die Stadt hat die Entscheidung, Leistungen für die Vergangenheit aufzuheben, jedoch ausdrücklich darauf gestützt, dass der Beschwerdeführerin mit dem Fahrtkostenzuschuss „Einkommen“ zugeflossen wäre. Das Sozialgericht hätte bei der Beurteilung der Erfolgsaussichten daher würdigen müssen, dass der Gesetzgeber Fahrtkostenzuschüsse in § 7 Abs. 2 Nr. 7 AsylbLG (in der Fassung von Art. 4 Nr. 5 Buchstabe c des Integrationsgesetzes vom 31. Juli 2016, mit Wirkung vom 6. August 2016 in Kraft, BGBl I S. 1939) von einer Berücksichtigung als Einkommen ausnimmt (vgl. dazu BTDrucks 18/8615, S. 41 f.). Der Fahrtkostenzuschuss nach § 10 Abs. 1 DeuFöV wäre damit nicht auf die Grundleistungen nach §§ 3 ff. AsylbLG anzurechnen und eine Aufhebung von Leistungen käme dann nicht in Betracht.
Soweit das Sozialgericht ausführt, dass es auf die Dringlichkeit der Angelegenheit nicht ankomme, weil die Beschwerdeführerin durch eine Monatskarte ihren Bedarf habe decken können, betrifft dies ersichtlich nicht die rechtlichen Maßstäbe des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens und den Sofortvollzug des angegriffenen Bescheids. Vielmehr lehnt das Gericht Prozesskostenhilfe ab, ohne die hinreichenden Erfolgsaussichten des angestrebten einstweiligen Rechtsschutzverfahrens rechtlich zutreffend geprüft zu haben.
Das Sozialgericht hat seinen Entscheidungsspielraum erkennbar überschritten, indem es bei der Prüfung des Prozesskostenhilfeantrags die sich hier aufdrängende hinreichende Erfolgsaussicht des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens verneint hat. Es hat damit den Weg zum Sozialgericht unverhältnismäßig erschwert und die Beschwerdeführerin in ihrer grundrechtlich verbürgten Rechtsschutzgleichheit verletzt.