Der Bayerische Verfassungsgerichtshof hat am 17. Mai 2022 zum Aktenzeichen Vf. 47VII21 den Antrag des bayerischen Landesverbands einer politischen Partei auf Feststellung der Verfassungswidrigkeit der Regelungen zur polizeilichen Zuverlässigkeitsüberprüfung von Personen in Art. 60 a des Polizeiaufgabengesetzes abgewiesen. Die Bestimmungen verletzen weder das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung noch verstoßen sie gegen die Berufsfreiheit oder die Pressefreiheit.
Aus der Pressemitteilung des Bay. VerfGH vom 19.05.2022 ergibt sich:
Gegenstand des Popularklageverfahrens sind die am 1. August 2021 in Kraft getretenen Regelungen des Art. 60 a des Gesetzes über die Aufgaben und Befugnisse der Bayerischen Polizei (Polizeiaufgabengesetz – PAG). Die Vorschrift regelt Voraussetzungen und Umfang der sog. Zuverlässigkeitsüberprüfung durch die Polizei mittels Erhebung, Übermittlung und anderweitiger Verarbeitung personenbezogener Daten einer Person sowie die nähere verfahrensrechtliche Ausgestaltung dieser Überprüfung. Nach Art. 60 a Abs. 1 PAG kann die Polizei bei Anlässen, die mit erheblichen Sicherheitsrisiken verbunden sind, personenbezogene Daten einer Person mit deren schriftlicher oder elektronischer Zustimmung bei öffentlichen und nichtöffentlichen Stellen erheben, übermitteln und anderweitig verarbeiten, soweit dies im Hinblick auf den Anlass und die Tätigkeit der betroffenen Person erforderlich und angemessen ist. Die Erforderlichkeit und der Umfang der Verarbeitung sind anhand einer Gefährdungsanalyse festzulegen, wobei sich die Datenerhebung nach dem Zweck der Zuverlässigkeitsüberprüfung richtet. Die Anlässe, die mit erheblichen Sicherheitsrisiken verbunden sind, werden exemplarisch durch fünf Regelbeispiele konkretisiert; Zuverlässigkeitsüberprüfungen können insbesondere zur Regelung der besonderen Zugangsberechtigung zu Veranstaltungen und Veranstaltungsreihen erfolgen, die besonders gefährdet sind. Art. 60 a Abs. 2 PAG regelt die Befugnis der Polizei zur Übermittlung des Ergebnisses der Zuverlässigkeitsüberprüfung bzw. von Zuverlässigkeitsbedenken an eine andere Stelle, wenn dieser die Beurteilung der Zuverlässigkeit obliegt, sowie das dabei einzuhaltende Verfahren. Danach hat die Polizei bei Zuverlässigkeitsbedenken die betroffene Person – wenn diese das erklärtermaßen will – vor der Datenübermittlung an die andere Stelle über die Sicherheitsbedenken zu informieren, ihr Gelegenheit zum Vorbringen von Einwänden zu geben und diese noch vor der Übermittlung zu prüfen („ClearingVerfahren“). Über diese Möglichkeiten sowie über Ablauf und Inhalt des polizeilichen Überprüfungsverfahrens müssen die Betroffenen vorab von der anderen Stelle bzw. der Polizei informiert werden. Art. 60 a Abs. 3 und 4 PAG betreffen spezielle Verfahrensfragen. In Art. 60 a Abs. 5 PAG ist ferner als spezielle Fallkonstellation die Zulässigkeit einer Zuverlässigkeitsüberprüfung gegenüber Personen, die eine Tätigkeit in einer Behörde der Polizei oder des Verfassungsschutzes anstreben, geregelt.
Der Antragsteller beantragt in der Hauptsache die Feststellung der Verfassungswidrigkeit des Art. 60 a PAG. Zudem begehrt er die vorläufige Außervollzugsetzung der Vorschrift bis zur Entscheidung in der Hauptsache. Zur Begründung macht er im Wesentlichen geltend, dass Zuverlässigkeitsüberprüfungen in nicht verfassungsmäßiger Weise in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung eingriffen. Nach der aktuellen Kriminalstatistik sei Bayern das sicherste Bundesland; ob Zuverlässigkeitsüberprüfungen das (verbleibende) Sicherheitsrisiko in der hiesigen Lebenswirklichkeit mindern könnten, sei fragwürdig. Die Regelungen könnten klarer und konkreter gefasst werden und griffen unangemessen weit in die Rechte der Betroffenen ein. Dem Eingriffscharakter stehe mangels echter Freiwilligkeit das Erfordernis der Einwilligung betroffener Personen nicht entgegen. Die Fülle der unbestimmten Rechtsbegriffe sei nicht verhältnismäßig. Zudem werde der Bereich der betroffenen Personen und der Anlässe unverhältnismäßig ausgedehnt. Auch in die Berufsfreiheit und die Pressefreiheit werde verfassungswidrig eingegriffen. Das Rechtsstaatsprinzip (Art. 3 Abs. 1 BV) sei verletzt, da die Regelungen dem Bestimmtheitsgrundsatz und dem Gebot der Normenklarheit nicht genügten.
Der Bayerische Landtag und die Bayerische Staatsregierung halten die Popularklage für unbegründet. Der Landtag weist insbesondere darauf hin, dass Art. 60 a PAG bereits in seiner Entstehungsphase mit dem Bayerischen Landesbeauftragten für den Datenschutz eng abgestimmt worden sei. Die Schaffung der Norm sei auf dessen in der Vergangenheit mehrfach geäußerte Anregung zurückzuführen, eine bereichsspezifische Rechtsgrundlage für die bisher auf die Generalklausel des Art. 32 PAG gestützte und in der Praxis etablierte Zuverlässigkeitsüberprüfung zu schaffen.
Der Verfassungsgerichtshof hat die Popularklage abgewiesen. In Bezug auf die Sonderregelung des Art. 60 a Abs. 5 PAG ist sie unzulässig, da insoweit dem Vorbringen keine Anhaltspunkte für eine Grundrechtsverletzung zu entnehmen sind. Im Übrigen ist die Popularklage unbegründet. Art. 60 a Abs. 1 bis 4 PAG verstößt nicht gegen die Bayerische Verfassung.
In das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 100 i. V. m. Art. 101 BV) greift die Zuverlässigkeitsüberprüfung in mehrfacher Hinsicht ein, nämlich bezüglich der Erhebung und Speicherung sowie des Abgleichs und der Übermittlung von Daten. Die Eingriffsqualität entfällt nicht dadurch, dass die Datenverarbeitung nur mit schriftlicher oder elektronischer Zustimmung der Betroffenen zulässig ist. Deren Zustimmung setzt zwar eine umfassende Information über Ablauf und Inhalt des polizeilichen Überprüfungsverfahrens voraus, lässt den Eingriffscharakter aber mangels echter Wahlfreiheit nicht entfallen. Die Regelungen erfüllen die Anforderungen des Rechtsstaatsprinzips an die Bestimmtheit und Normenklarheit, die sich konkret nach der Art und der Schwere des Eingriffs richten. Der Gesetzgeber hat insbesondere den Anlass der Datenverarbeitung sowie den Zweck, zu dem diese erfolgt und zu dem die dadurch erlangten Erkenntnisse verwendet werden dürfen, noch hinreichend präzise und normenklar festgelegt. Auch enthält die Norm eine ausreichende Beschreibung der Eingriffsvoraussetzungen und der Einschränkung der Eingriffsbefugnisse. Die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe wie etwa „erhebliche Sicherheitsrisiken“, „Zuverlässigkeit“ oder „Gefährdungsanalyse“ ist weder im Einzelnen noch insgesamt verfassungsrechtlich zu beanstanden. Die exemplarisch in Art. 60 a Abs. 1 Satz 3 PAG aufgeführten Regelbeispiele geben der Formulierung „Anlässe, die mit erheblichen Sicherheitsrisiken verbunden sind“ Konturen und bilden einen Vergleichsmaßstab, bei welchen Gegebenheiten die Polizei von einem erheblichen Sicherheitsrisiko ausgehen kann. Auch hinsichtlich der Bestimmtheit des persönlichen Anwendungsbereichs bestehen trotz des grundsätzlich weitgefassten Personenkreises, der einer polizeilichen Zuverlässigkeitsüberprüfung unterzogen werden kann, keine verfassungsrechtlichen Bedenken. Durch Art. 60 a Abs. 1 Satz 1 PAG ist sichergestellt, dass regelmäßig nur solche Personen überprüft werden, deren spezifische „Tätigkeit“ im Rahmen des mit einem erheblichen Sicherheitsrisiko verbundenen Anlasses Grund für die Überprüfung bietet. Das sind in erster Linie Personen, die für ihre Tätigkeit mit einer besonderen Zugangsberechtigung ausgestattet oder – wie beim Personen oder Objektschutz und bei der Unterstützung behördlicher Aufgaben – mit einer schützenden oder unterstützenden Aufgabe betraut werden sollen, welche ein besonderes Vertrauen in ihre Verlässlichkeit begründet. Eine Zuverlässigkeitsüberprüfung von Journalistinnen und Journalisten mit besonderer Zugangsberechtigung oder etwa Inhabern eines sog. VIP oder Backstagepasses bei Veranstaltungen kommt nicht typischerweise, sondern nur bei insoweit im Einzelfall bestehenden beachtlichen Sicherheitsrisiken in Betracht. Personen, die an öffentlichen Versammlungen teilnehmen, werden ebenfalls typischerweise von Art. 60 a Abs. 1 bis 4 PAG nicht erfasst.
Die Vorschrift genügt auch dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Ziel der Regelungen ist die Prävention vor erheblichen Gefahren für die öffentliche Sicherheit, mithin die Gefahrenvorsorge in Situationen, bei denen ein erhebliches Sicherheitsrisiko für die Allgemeinheit, insbesondere für Leben und Gesundheit einer Vielzahl von Personen (z. B. bei Großveranstaltungen), oder einzelne gefährdete Personen (z. B. Personenschutz) oder für bedeutende Sachwerte (Amtsgebäude, Objektschutz) besteht. Hierbei handelt es sich um Schutzgüter von hoher verfassungsrechtlicher Bedeutung. Die normierten polizeilichen Befugnisse verfolgen insoweit unter Berücksichtigung des dem Gesetzgeber zustehenden weiten Einschätzungs und Beurteilungsspielraums einen legitimen Zweck, sind geeignet und erforderlich und verstoßen nicht gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im engeren Sinn. Insbesondere im Hinblick auf Art und Umfang der erhobenen und verarbeiteten Daten, die auf verschiedenen Ebenen vorgesehenen Beschränkungen, das „ClearingVerfahren“ und die erforderliche Zustimmung der Betroffenen ermächtigt Art. 60 a Abs. 1 bis 4 PAG die Polizei in der Gesamtschau zu Eingriffen in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung von mittelschwerem Gewicht. In der Gesamtwürdigung durfte der Gesetzgeber dem Interesse am vorbeugenden Schutz der in Rede stehenden bedeutenden Rechtsgüter der öffentlichen Sicherheit den Vorrang gegenüber dem Gewicht der Grundrechtseingriffe einräumen.
Etwaige Eingriffe in die Grundrechte der Berufsfreiheit (Art. 101 BV) und der Pressefreiheit (Art. 111 BV) durch die Bestimmungen sind ebenfalls verfassungsrechtlich gerechtfertigt. Insbesondere ist die Norm nicht darauf gerichtet, die journalistische Arbeit bei Anlässen mit erheblichen Sicherheitsrisiken durch die Polizei oder mittelbar durch andere Stellen zu unterbinden oder zu behindern. Soweit Journalistinnen und Journalisten aufgrund der Gefährdungsanalyse im Einzelfall zum Schutz vor Risiken für gewichtige Rechtsgüter der öffentlichen Sicherheit durch ihre Anwesenheit einer Zuverlässigkeitsüberprüfung unterzogen werden können, ist die darin ggf. liegende mittelbare Einwirkung auf die Pressefreiheit zum Schutz der hochrangigen Rechtsgüter verfassungsrechtlich gerechtfertigt. Auf Grundlage der gesetzlichen Regelung sind etwaige von der Überprüfung ausgehende Auswirkungen auf die Pressefreiheit mit in die Abwägung einzustellen.