Das Verwaltungsgericht Freiburg hat mit Urteil vom 15.02.2022 zum Aktenzeichen 8 K 183/21 entschieden, dass die Online-Klausur unter audiovisueller Überwachung des Rechtsanwalts keine Aufsichtsarbeit im Sinne von § 4a Abs. 1 der Fachanwaltsordnung ist.
Denn die von dem Anbieter durchgeführten Leistungskontrollen im Online-Format sind von der Rechtsanwaltskammer nicht als Aufsichtsarbeiten im Sinne des § 4a FAO anzuerkennen. Ein dahingehender Anspruch des Anbieters gegen die Beklagte besteht nicht.
Denn die vom Anbieter durchgeführten Online-Klausuren stellen keine „Aufsichtsarbeiten“ im Sinne des § 4a Abs. 1 FAO dar. Nach dieser Bestimmung muss der Antragsteller sich mindestens drei schriftlichen Leistungskontrollen (Aufsichtsarbeiten) aus verschiedenen Bereichen des Lehrgangs erfolgreich unterzogen haben.
Eine Aufsichtsarbeit ist ihrem herkömmlichen Wortsinn nach von der physischen Anwesenheit einer Aufsichtsperson geprägt. Entsprechend diesem Verständnis hat der Anbieter in der mündlichen Verhandlung eingeräumt, bis zum 16.03.2020 sei auch er davon ausgegangen, dass eine Aufsichtsklausur eine in Präsenz geschriebene Klausur zu sein hat. Mag auch der Wortlaut des § 4a Abs. 1 FAO eine weitergehende Lesart nicht zwingend ausschließen, hält die erkennende Kammer ein (allein durch die äußeren Umstände) erweitertes Verständnis des Begriffs der Aufsichtsklausur nach den Regeln der Auslegung für nicht möglich.
Mit Blick auf die historische Auslegung ist zu berücksichtigen, dass § 4a Abs. 1 FAO zwar erst im Jahr 2006 eingefügt wurde, er aber fast wortgleich dem zuvor geltenden § 6 Abs. 2 lit. c) FAO entspricht (Offermann-Burckart, in: Henssler/Prütting, BRAO, 5. Aufl., 2019, § 4a FAO Rn. 1). Die Vorschrift stammt aus einer Zeit, in der Online-Klausuren schon technisch nicht denkbar waren. Der historische Normgeber konnte Online-Klausuren also gar nicht in seinen Willen aufnehmen und hat dies ersichtlich nicht getan. Vielmehr hatte er die damals allein mögliche physische Aufsicht vor Augen, wie sie etwa auch bei Aufsichtsarbeiten im juristischen Staatsexamen praktiziert wurde und wird und wie sie auch sonst in berufsbezogenen Prüfungen praktiziert wird.
An diesem überkommenen, auf den Willen des Normgebers zurückgehenden Normverständnis hält die erkennende Kammer fest. Es geht nicht an, einer Vorschrift im Wege der Auslegung allein deshalb einen anderen Inhalt beizumessen, weil das Schreiben von Präsenzklausuren für (sehr) kurze Zeit durch die rechtlichen Rahmenbedingungen einer Pandemie unmöglich oder jedenfalls erschwert war. Zwar erscheint es der erkennenden Kammer von Rechts wegen durchaus möglich, durch eine entsprechende Beschlussfassung der Satzungsversammlung Online-Klausuren den Aufsichtsarbeiten nach § 4a FAO gleichzustellen und den hierfür gebotenen rechtlichen Rahmen normativ vorzuzeichnen. Die Satzungsversammlung ist hieran insbesondere nicht durch zwingendes höherrangiges Recht gehindert. Eine positive Regelung ist allerdings Bedingung der Anerkennungsfähigkeit; sie kann im Wege der Auslegung nicht gleichsam kreiert werden.
Die Richtigkeit des durch Auslegung des § 4a Abs. 1 FAO gewonnenen Ergebnisses zeigt sich auch an dem Umstand, dass die Rahmenbedingungen von Online-Klausuren mit Blick auf das Recht der informationellen Selbstbestimmung und vor dem Hintergrund datenschutzrechtlicher Bestimmungen einer ausdrücklichen (normativen) Zulassung bedürften. Insbesondere unterliegt die Videoaufsicht strengen verfassungsrechtlichen Maßstäben. Zu berücksichtigen sind vor allem das Recht auf informationelle Selbstbestimmung und das Recht auf Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme nach Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG sowie die Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 GG). Diese Gesichtspunkte haben beispielsweise den Landesgesetzgeber bewogen (vgl. LT-Drs. 16/9310 S. 23), Online-Klausuren in § 32a LHG auf eine gesetzliche Grundlage zu stellen und den rechtlichen Rahmen für solche Klausuren, auch mit Blick auf den Grundsatz der Erforderlichkeit, auszugestalten, hierbei zugleich einen hinreichenden Spielraum für die Prüfungsordnungen der Hochschulen lassend (§ 32a Abs. 1 Satz 1 LHG). Das Bündel der vom Landesgesetzgeber getroffenen Regelungen (Identitätskontrolle, vorherige Information über Datenerhebung und -verarbeitung, Verbot der Aufzeichnung und Speicherung, Aufsichtsregelungen, etc.) macht handgreiflich, dass sich für Online-Klausuren eine Vielzahl von neuen und anders gearteten Fragestellungen ergibt, die sich nicht im Wege der Auslegung oder Rechtsanalogie zu den Bestimmungen über die Präsenzklausuren „überspielen“ lassen.
Dem kann nicht entgegengehalten werden, dass die Teilnehmer – wie der Anbieter vorträgt – in die Durchführung der Online-Klausur und die damit einhergehende Aufsicht eingewilligt haben, und der Anbieter als Privatperson handelt. Unabhängig davon, dass auch Private etwa an die Vorgaben der Datenschutz-Grundverordnung gebunden sein können, was beispielsweise auch die hier erfolgte Fertigung, Speicherung und Weitergabe von Screenshots der Klausursituation mit Klarnamen der Teilnehmer fragwürdig erscheinen lässt, ist das Verhältnis von Lehrgangsanbieter und -teilnehmer für die hier vorliegende Rechtsfrage nicht maßgeblich. Denn für die Auslegung von § 4a FAO und die Frage, was der Normgeber regeln wollte und durfte, bedarf es nicht der Einwilligung der Betroffenen, sondern der auf eine demokratische Legitimation durch den Gesetzgeber (vgl. § 43c BRAO) zurückzuführenden Bestimmung, die (wenigstens) durch die Satzungsautonomie gedeckt ist und den hinreichenden datenschutzrechtlichen Rahmen absteckt.
Einer Gleichstellung der Online-Klausuren mit den Aufsichtsklausuren (Präsenz-Klausuren) im Wege der Auslegung oder Rechtsanalogie stehen schließlich auch die strenge Formalisierung des Verfahrens zur Verleihung des Fachanwaltstitels sowie die – rechtlich nicht zweifelsfreie – Auslagerung von inhaltlicher Ausgestaltung der Fachanwaltslehrgänge und der abschließenden Leistungskontrolle an externe Lehrgangsveranstalter entgegen. Zu Recht wird deshalb angenommen, bei den Klausuren im Sinne des § 4a FAO handele es sich um die einzig vorhandene Qualitätskontrolle (Offermann-Burckart, in: Henssler/Prütting, BRAO, 5. Aufl., 2019, § 4a FAO Rn. 4; Kleine-Cosack, in: Kleine-Cosack, BRAO, 8. Aufl., 2020, § 4a FAO Rn. 1). Sie dient der Überprüfung, ob die jeweilige Person in der Lage ist, das theoretisch vermittelte Wissen aus dem Fachanwaltskurs auf einen zu begutachtenden Fall oder entsprechende Fragen anzuwenden (Günther, in: BeckOK, FAO, 16. Edition, § 4a Rn. 1). Dabei rechtfertigt das Fehlen eines materiellen Prüfungsrechts von Seiten der Rechtsanwaltskammer, an die Leistungskontrolle Maßstäbe zu stellen, welche das höchste Maß an Qualitätssicherung erwarten lassen.
Beim Schreiben von Online-Klausuren sind jedoch sowohl die Versuchung als auch die Möglichkeit, sich durch Täuschungsversuche einen Vorteil zu verschaffen, gegenüber Prüfungen in Präsenz erheblich gesteigert. Der Anbieter selbst räumt ein, es sei nicht auszuschließen, dass Dritte hinter der Kamera stehen und non verbal am Bearbeitungsprozess teilnehmen. Darüber hinaus bestehen zahlreiche von den Beteiligten nicht bedachte Täuschungsmöglichkeiten. Denkbar wäre etwa eine verbale Unterstützung, wenn zwar in der Software das Mikrofon eingeschaltet ist, die Weiterleitung akustischer Signale aber durch anderweitige Einstellungen verhindert wird, etwa indem der Zugriff der Software auf das Mikrofon unterbunden wird oder das Mikrofon selbst keinerlei Aufnahmen tätigt („Mute-Knopf“ am Laptop). Der Ausschluss der Benutzung von nicht zugelassenen Hilfsmitteln lässt sich ebenfalls nicht sicher gewährleisten. Dies ergibt sich bereits aus der Tatsache, dass eine persönlich-physische Aufsicht sämtliche wahrnehmbare Faktoren mit dem Gegenüber teilt, während die Online-Aufsicht sich auf einen Ausschnitt des Sichtfeldes und – in Abhängigkeit von der Qualität des Mikrofons und der Lautstärkeregulierung – auf akustische Wahrnehmung beschränkt. Auch könnten Hilfsmittel in anderen Räumen hinterlegt und bei einem vorgeblichen Toilettengang konsultiert werden. Dem kann nicht entgegengehalten werden, dass § 4a FAO keine Vorgaben zu Hilfsmitteln macht. Denn es steht in der Verantwortung der Lehrgangsanbieter, die Schwierigkeit der Leistungskontrollen derart an den von ihnen zugelassenen Hilfsmitteln auszurichten und die Verwendung nicht zugelassener Hilfsmittel zu unterbinden, dass die oben geschilderte Qualitätskontrolle gewährleistet ist.
Der von der Kammer für zutreffend gehaltenen (engen) Auslegung des § 4a Abs. 1 FAO steht nicht entgegen, dass die Durchführung der Lehrgänge nach § 4 FAO auch online oder im Fernunterricht erfolgen kann (VG Koblenz, Urteil vom 05.08.2013 – 3 K 116/12.KO – juris, Rn. 30; Günther, in: BeckOK, FAO, 16. Edition, § 4a Rn. 2; Scharmer, in: Hartung/Scharmer, BORA/FAO, 7. Aufl., 2020, § 4a FAO Rn. 4). Denn diese sind primär auf Wissensvermittlung ausgerichtet, während die Leistungskontrollen der Qualitätssicherung dienen (vgl. auch zur Zulässigkeit der reinen Online-Lehre nach dem Landeshochschulgesetz: LT-Drs. 16/9310 S. 23).
Darüber hinaus werden die Klausuren nicht dem Erfordernis der Schriftlichkeit im Sinne von § 4a Abs. 1 FAO gerecht.
Unabhängig von der Anwendbarkeit des § 126 BGB bezweckt die Vorschrift, dass eine eindeutige Zuordnung der Leistungskontrolle zum jeweiligen Verfasser möglich ist (Scharmer, in: Hartung/Scharmer, BORA/FAO, 7. Aufl., 2020, § 4a FAO Rn. 52). Die Leistungskontrollen sollen zeigen, dass der Antragsteller selbst erfolgreich am Lehrgang teilgenommen hat (Offermann-Burckart, in: Henssler/Prütting, BRAO, 5. Aufl., 2019, § 4a FAO Rn. 7).
Das vom Anbieter geschilderte Klausurverfahren gewährleistet jedoch nicht hinreichend die Identität von Klausurverfasser und Person, auf deren Namen am Ende des Lehrgangs das Zeugnis im Sinne von § 6 Abs. 2 FAO ausgestellt wird. Zum einen ist nicht ersichtlich, dass eine Identitätskontrolle – bei Anmeldung zum Lehrgang oder im Rahmen der Leistungskontrolle – Teil des Verfahrens ist. Ein Auftreten unter einem falschen Namen ist daher nicht ausgeschlossen. Zum anderen ist denkbar, dass ein Dritter gleichzeitig und unbeobachtet die Klausur schreibt und diese Bearbeitung für einen angemeldeten Teilnehmer sowohl abfotografiert als auch postalisch eingereicht wird. Auch wenn beide Konstellationen von erheblicher Energie zur Täuschung des Lehrgangsveranstalters getragen sind und mit dem Bild eines Rechtsanwalts als Organ der Rechtspflege (§ 1 BRAO) nicht zu vereinbaren sind, reichen sie aus, um die notwendige zweifelsfreie Zuordnung von erbrachter Leistungskontrolle zur späteren Erteilung des Zeugnisses in Frage zu stellen.