Das Landgericht Kassel hat mit Urteil vom 24.08.2021 zum Aktenzeichen 5 O 37/21 entschieden, wann ein Versicherungsnehmer bei einer behaupteten Unfallflucht zahlen muss und wann nicht.
Der Kläger macht Ansprüche aus einem bei dem Beklagten unterhaltenen Kfz-Vollkaskoversicherungsvertrag wegen eines vermeintlichen Unfallereignisses geltend.
Zwischen den Parteien steht dabei zum einen in Streit, ob sich das klägerseits beschriebene Unfallereignis überhaupt ereignet hat und – sofern dies der Fall gewesen sein sollte – die Beklagte wegen einer vermeintlichen Aufklärungsobliegenheitsverletzung des Klägers (hier: Unfallflucht) leistungsfrei ist.
Die Beklagte ist nicht nach E. 2.1 AKB i.V.m. § 28 VVG von der Verpflichtung zur Leistung frei.
Ein Verstoß des Klägers gegen die in E. 1.1.3 AKB statuierte vertragliche Obliegenheit liegt nicht vor. Danach darf der Versicherungsnehmer den „Unfallort nicht verlassen, ohne die gesetzlich erforderlichen Feststellungen zu ermöglichen und die dabei gesetzlich erforderliche Wartezeit zu beachten (Unfallflucht).
Diese Voraussetzungen, für die die Beklagte darlegungs- und beweispflichtig ist, sind nicht erfüllt.
Auch die weiteren Voraussetzungen des § 142 Abs. 1 StGB liegen nicht vor.
Dass unmittelbar nach dem Unfall feststellungsbereite Personen an der Unfallstelle gewesen wären – mithin ein Verstoß gegen § 142 Abs. 1 Nr. 1 StGB vorgelegen hätte – wird beklagtenseits nicht vorgebracht.
Soweit der Beklagte ferner lediglich bestreitet, dass der Kläger bis zum Eintreffen des ADAC ca. 45 Minuten an der Unfallstelle gewartet hat, so hat der insoweit für einen etwaigen Verstoß gegen § 142 Abs. 1 Nr. 2 StGB darlegungs- und beweisbelastete Beklagte einen Wartepflichtverstoß des Klägers bereits nicht dargelegt und ist jedenfalls beweisfällig geblieben. Zudem hat die durchgeführte Beweisaufnahme zur Überzeugung des Gerichts ergeben, dass der Kläger bis zum Eintreffend des ADAC mindestens 30 Minuten an der Unfallstelle gewartet hat, sodass auch aus diesem Gesichtspunkt (positiv) von der Einhaltung der „gesetzlich erforderlichen Wartezeit“ auszugehen ist.
Entgegen der Auffassung des Beklagten war der Kläger insbesondere auch nicht dazu verpflichtet, sich vor Verlassen des Unfallorts (aktiv) bei der Polizei zu melden, wenn – wie hier – innerhalb der Wartefrist des § 142 Abs. 1 Nr. 2 StGB keine feststellungsbereiten Personen eintreffen.
Denn eine solche Verpflichtung ist den streitgegenständlichen Versicherungsbedingungen nicht zu entnehmen.
Allgemeine Versicherungsbedingungen sind so auszulegen, wie ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer sie bei verständiger Würdigung, aufmerksamer Durchsicht und Berücksichtigung des erkennbaren Sinnzusammenhanges verstehen muss. Dabei kommt es auf die Verständnismöglichkeiten eines Versicherungsnehmers ohne versicherungsrechtliche Spezialkenntnisse und damit auch auf seine Interessen an. In erster Linie ist vom Wortlaut der jeweiligen Klausel auszugehen. Der mit dem Bedingungswerk verfolgte Zweck und der Sinnzusammenhang der Klauseln sind zusätzlich zu berücksichtigen, soweit sie für den Versicherungsnehmer erkennbar sind.
Die entsprechenden Klauseln der AKB sind dahingehend auszulegen, dass derjenige, der durch das Verlassen der Unfallstelle den objektiven und subjektiven Tatbestand des § 142 StGB („unerlaubtes Entfernen vom Unfallort“) erfüllt, grundsätzlich auch seine Aufklärungsobliegenheit in der Kaskoversicherung verletzt. Eine darüber hinausgehende Reichweite der Obliegenheiten des Versicherungsnehmers ergibt sich aus den vorgenannten Klauseln der AKB hingegen nicht. Zwar begründet E.1.1.3 AKB eine eigenständige Aufklärungspflicht.
Deren Reichweite ist jedoch nach dem Verständnishorizont eines durchschnittlichen Versicherungsnehmers zu ermitteln. Ein solcher wird die vertragliche Pflicht, den Unfallort nicht vor Ermöglichung der erforderlichen Feststellungen zu verlassen und die gesetzlich erforderliche Wartezeit einzuhalten, auf den Straftatbestand des § 142 Abs. 1 StGB beziehen.
Die Formulierung in den AKB 2015 des Beklagten knüpft an den Tatbestand der Unfallflucht gemäß § 142 Abs. 1 StGB an, indem der Fahrer verpflichtet wird, den Unfallort nicht zu verlassen, ohne die „gesetzlich erforderlichen“ Feststellungen zu ermöglichen und dabei auch die „gesetzlich erforderliche Wartezeit“ zu beachten. Auch der Hinweis auf die „Unfallflucht“ lässt für einen verständigen Versicherungsnehmer den Schluss zu, dass sich seine versicherungsrechtlichen Obliegenheiten mit den an ihn gestellten strafrechtlichen Verhaltensanforderungen nach § 142 Abs. 1 StGB decken und ihm versicherungsrechtlich keine weitergehenden Pflichten auferlegt werden.
Er darf deshalb davon ausgehen, seinen Aufklärungsobliegenheiten gerecht zu werden, wenn er – wie hier – den strafrechtlich sanktionierten Handlungspflichten, die als allgemein bekannt zu gelten haben, gerecht wird.
Eine Pflicht, vor Verlassen des Unfallorts stets die Polizei zu rufen, wenn innerhalb der Wartefrist des § 142 Abs. 1 Nr. 2 StGB keine feststellungsbereiten Personen eintreffen, besteht nach § 142 StGB jedoch gerade nicht.
Eine darüber hinausgehende Obliegenheit würde voraussetzen, dass diese in den Versicherungsbedingungen einen Anknüpfungspunkt findet, der dem Versicherungsnehmer verdeutlicht, dass von ihm nicht lediglich die Einhaltung der Wartezeit, sondern weitergehende Aktivitäten gegenüber der Polizei oder der Versicherung erwartet werden. Dies ist hier jedoch nicht der Fall.
Vielmehr wird der durchschnittliche Versicherungsnehmer beim aufmerksamen Durchlesen der maßgeblichen Klauseln – neben dem Umstand, dass E.1.1.3 AKB eindeutig in seinem Wortlaut (ausschließlich) an § 142 Abs. 1 StGB anknüpft – davon ausgehen, dass ihn weder die Pflicht trifft, die Versicherung unverzüglich von dem Unfallereignis in Kenntnis zu setzen noch dass er sich aktiv bei der Polizei zu melden habe, um – wie die Beklagte anknüpfend an Beschluss des OLG Koblenz vom 11.12.2020, 12 U 235/20 meint – Feststellungen zu seiner Person, zum Unfallereignis und zu dem Umstand zu ermöglichen, dass er weder durch Alkohol oder sonstige berauschende Mittel fahruntüchtig gewesen sei.
So ergibt sich zum einen aus E.1.1.1 AKB eindeutig, dass der Versicherungsnehmer verpflichtet ist, jedes Schadensereignis, das zu einer Leistung durch die Versicherung führen kann, dem Versicherer innerhalb einer Woche – und damit gerade nicht unverzüglich noch am Unfallort – anzuzeigen hat.
Schließlich ist E.1.3.3 AKB („Anzeige bei der Polizei“) die Verpflichtung, das Schadensereignis bei der Polizei unverzüglich anzuzeigen lediglich und unzweifelhaft bei bestimmten – hier nicht vorliegenden Schäden – normiert, nämlich bei einem Entwendungs, Brand- oder Wildschaden, der einen bestimmten Betrag übersteigt.