Der Europäische Gerichtshof hat am 24.02.2022 zum Aktenzeichen C-452/20 entschieden, dass die Mitgliedstaaten zur Eindämmung des Tabakkonsums bei jungen Menschen gegen Wirtschaftsteilnehmer, die gegen das Verbot des Verkaufs an Minderjährige verstoßen, Verwaltungssanktionen wie die 15-tägige Aussetzung ihrer Betriebslizenz verhängen dürfen.
Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 38/22 vom 24.02.2022 ergibt sich:
Das Interesse am Schutz der menschlichen Gesundheit hat Vorrang gegenüber dem Recht von Unternehmern, Tabakerzeugnisse zu verkaufen.
Bei einer Kontrolle stellte die italienische Zollagentur fest, dass PJ, Inhaber einer Lizenz zum Betrieb einer Tabakverkaufsstelle, Zigaretten an einen Minderjährigen verkauft hatte. In Anwendung des nationalen Rechts1 verhängte die Zollagentur gegen ihn ein Bußgeld in Höhe von 1 000 Euro sowie eine zusätzliche Verwaltungssanktion, die in der 15-tägigen Aussetzung seiner Lizenz zum Betrieb einer Tabakverkaufsstelle bestand.
PJ beglich das gegen ihn verhängte Bußgeld. Die zusätzliche Verwaltungssanktion focht er hingegen mit der Begründung an, dass das nationale Recht mit dem Unionsrecht unvereinbar sei, u. a., weil die Aussetzung seiner Lizenz unangemessen und unverhältnismäßig sei.
Der Consiglio di Stato (Staatsrat, Italien), der in letzter Instanz mit dem Rechtsstreit befasst ist, hat dem Gerichtshof eine Frage gestellt, mit der geklärt werden soll, ob der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz einer nationalen Regelung entgegensteht, die bei einem ersten Verstoß gegen das Verbot des Verkaufs von Tabakerzeugnissen an Minderjährige zusätzlich zur Verhängung eines Bußgelds eine 15-tägige Aussetzung der Betriebslizenz vorsieht.
Der Gerichtshof weist hierzu darauf hin, dass das im Namen der Union genehmigte Rahmenübereinkommen2 fester Bestandteil des Unionsrechts ist und dass es die Richtlinie 2014/40/EU3 den Mitgliedstaaten überlässt, Sanktionsregelungen festzulegen, die auf ein Verbot des Tabakkonsums durch Minderjährige abzielen. In diesem Zusammenhang betont der Gerichtshof, dass die fragliche nationale Bestimmung, was den Verkauf von Tabak an Minderjährige betrifft, grundsätzlich anhand der im FCTC aufgestellten Anforderungen zu beurteilen ist. Nach Art. 16 FCTC beschließt jede Vertragspartei wirksame Maßnahmen einschließlich Strafen gegen Verkäufer und Händler und führt diese durch, um den Verkauf von Tabakerzeugnissen an Personen unter dem durch internes oder nationales Recht festgelegten Alter oder unter einem Alter von 18 Jahren zu verhindern.
Zu den anwendbaren Sanktionen weist der Gerichtshof darauf hin, dass die Mitgliedstaaten unter Beachtung des Unionsrechts und seiner allgemeinen Grundsätze, insbesondere des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, Sanktionen wählen können, die ihnen sachgerecht erscheinen.
Insbesondere dürfen die administrativen oder repressiven Maßnahmen, die nach den nationalen Rechtsvorschriften gestattet sind, nicht die Grenzen dessen überschreiten, was zur Erreichung der mit diesen Rechtsvorschriften zulässigerweise verfolgten Ziele geeignet und erforderlich ist.
Der Gerichtshof stellt außerdem klar, dass die Härte der Sanktionen der Schwere der mit ihnen geahndeten Verstöße entsprechen muss, indem sie insbesondere eine wirklich abschreckende Wirkung gewährleistet, zugleich aber den allgemeinen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahrt.
In diesem Zusammenhang merkt der Gerichtshof an, dass der italienische Gesetzgeber beim ersten Verstoß gegen das Verkaufsverbot eine Kumulierung von Sanktionen vorgesehen hat, nämlich zum einen die Verhängung einer finanziellen Sanktion und zum anderen die 15-tägige Aussetzung der Lizenz zum Betrieb einer Tabakverkaufsstelle. Dieses Sanktionssystem ist offensichtlich geeignet, das im FCTC genannte Ziel des Schutzes der menschlichen Gesundheit und der Verminderung der Verbreitung des Tabakkonsums bei jungen Menschen zu erreichen.
Zur Frage, ob die Härte der Sanktionen nicht die Grenzen dessen überschreitet, was zur Erreichung der mit den nationalen Rechtsvorschriften verfolgten Ziele erforderlich ist, weist der Gerichtshof darauf hin, dass bei der Festlegung und Durchführung der Politik und der Maßnahmen der Union einem hohen Niveau des Gesundheitsschutzes Rechnung zu tragen ist. Dem Schutz der Gesundheit ist gegenüber wirtschaftlichen Erwägungen vorrangige Bedeutung beizumessen, die negative wirtschaftliche Folgen rechtfertigen kann. In diesem Zusammenhang ist der Gerichtshof der Auffassung, dass die vorübergehende Aussetzung der Lizenz zum Betrieb einer Tabakverkaufsstelle bei einem ersten Verstoß gegen das Verbot des Verkaufs von Tabakerzeugnissen an Minderjährige grundsätzlich nicht als unverhältnismäßiger Eingriff in das legitime Recht von Wirtschaftsteilnehmern angesehen werden kann, ihre unternehmerische Tätigkeit auszuüben. Das Gleichgewicht zwischen der Härte der Sanktionen und der Schwere des betreffenden Verstoßes wird nach Ansicht des Gerichtshofs offensichtlich durch zwei Aspekte gewährleistet. Erstens variiert das Bußgeld, das zusammen mit der Aussetzung der Lizenz des Zuwiderhandelnden zum Betrieb der Tabakverkaufsstelle verhängt wird, je nach Schwere des Verstoßes. Zweitens ist ein Widerruf der Lizenz nur bei mehr als einmaliger Übertretung vorgesehen.
Unter diesen Umständen stellt der Gerichtshof fest, dass nicht erkennbar ist, dass dieses Sanktionssystem über die Grenzen dessen hinausgeht, was erforderlich ist, um das Ziel des Schutzes der menschlichen Gesundheit und insbesondere der Verminderung der Verbreitung des Tabakkonsums bei jungen Menschen zu erreichen.
1 Art. 25 Abs. 2 des Regio decreto n. 2316 – Testo unico delle leggi sulla protezione ed assistenza della maternità ed infanzia (Königliche Verordnung Nr. 2316 – Kodifizierte Fassung der Vorschriften über den Schutz und die Unterstützung von Müttern und Kindern) vom 24. Dezember 1934, ersetzt durch Art. 24 Abs. 3 des Decreto legislativo n. 6 – Recepimento della direttiva 2014/40/UE (Gesetzesvertretendes Dekret Nr. 6 zur Umsetzung der Richtlinie 2014/40/EU) bestimmt: „Wer Tabakerzeugnisse, elektronische Zigaretten, Nikotin enthaltende Nachfüllbehälter oder neuartige Tabakerzeugnisse an Minderjährige unter 18 Jahren verkauft oder abgibt, gegen den wird ein Bußgeld in Höhe von 500,00 Euro bis 3 000,00 Euro sowie eine 15-tägige Aussetzung der Lizenz zur Ausübung der Tätigkeit verhängt. Bei mehr als einmaliger Übertretung wird ein Bußgeld in Höhe von 1 000,00 Euro bis 8 000,00 Euro verhängt und die Lizenz zur Ausübung der Tätigkeit widerrufen.“
2 Rahmenübereinkommen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur Eindämmung des Tabakkonsums (im Folgenden: FCTC), unterzeichnet am 21. Mai 2003 in Genf und mit dem Beschluss 2004/513/EG des Rates vom 2. Juni 2004 (ABl. 2014, L 213, S. 8) genehmigt.
3 Richtlinie 2014/40/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. April 2014 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Herstellung, die Aufmachung und den Verkauf von Tabakerzeugnissen und verwandten Erzeugnissen und zur Aufhebung der Richtlinie 2001/37/EG (ABl. 2014, L 127, S. 1.